EPILOG
Dieses Jahr schien es, als würde der Schnee auf eine andere Art fallen. Auf eine weichere, sanftere, schönere.
Der Dezember funkelte im Glanz der Wasserkristalle und tauchte ganz Washington in eine Stadt aus schillernden Lichtern und natürlichem , Glamour.
Willow lächelte, als das Auto durch die schneebefallenen Gassen der Hauptstadt fuhr und sie an jeder Ecke Weihnachtsschmuck, Lichterketten oder Tannenbäume stehen oder hängen sah.
In ihrem Leben war sie nie sonderlich in Weihnachtsstimmung gekommen.
Überhaupt hatten sie und Heaver es erst einmal im Leben geschafft, einen Tannenbaum im Wohnzimmer aufzustellen, nur um ihn dann ungeschmückt bis zum Mai darin stehenzulassen.
Manch einer nannte es trostlos und schade.
Manch einer schockierend.
Kelly Dillons womöglich originell.
Doch eigentlich war es bloß Unwissenheit. Denn Willow wusste nicht, wie man Weihnachten richtig feierte, mit wem man es tat oder weshalb überhaupt.
Wieso verhielten sich Menschen einmal im Jahr anständig, zogen sich schick an und aßen sich die Bäuche voll, bis sie beinahe platzten?
Und am nächsten Tag meckerten sie darüber, dass sie dick waren und begannen mit den üblichen Streitereien, die sie in der Familie hatten.
Die Harmonie an Weihnachten war eine brillante Illusion von der sich Willow herzlich anstecken lassen wollte.
Nervös trippelten ihre Füße auf der Fußmatte in Wesleys Auto und ihre Finger sahen immer wieder auf das Navi am Armaturenbrett des Autos, wo die Ankunftszeit beim gewünschten Zielort – Wesleys Elternhaus – angezeigt wurde.
Fünf Minuten noch.
Fünf Minuten und Willow würde ihr erstes Jahr Weihnachten im Kreise ihrer Liebsten feiern.
Wesley grinste, seit Willow in sein Auto gestiegen war.
Er hatte sie selten so aufgeregt erlebt.
Wie ein kleines Kind saß sie neben ihm und konnte es nicht erwarten, endlich anzukommen. Als würde sie bei seinen Eltern einen Haufen Gummibärchen gratis geschenkt bekommen.
Heaver musterte Wesley und Willow abwechselnd.
In den letzten Wochen hatte sie die Rückbank des Porsches zu ihrem persönlichen Reich erklärt und Wesley dafür abgeschleckt, als er eines Tages ein Körbchen auf die Ledersitze montiert hatte, sodass Heaver bequemer liegen konnte.
Die Wochen, seit den schweren Tagen im Oktober waren seicht, schön, liebevoll, aber auch auf ihre Art und Weise zermürbend gewesen.
Dennoch, Willow und Wesley hatten jeden Schritt – egal ob hoch oder tief – gemeinsam gemeistert und wie versprochen, war Wesley nicht einmal von Willows Seite gewichen oder hatte sie anderweitig enttäuscht.
Er war ein toller Freund und ihre Beziehung nach all diesen Wochen ein starker Bund.
Nachdem Malia klargeworden war, dass sie niemals eine Chance bei Wesley haben würde und sie am Tag, an dem Lila nach Washington gefahren war, auch von Kelly Dillons eine Standpauke der unfeinen Art bekommen hatte, hatte sie schneller gekündigt, als Wesley oder Charlie sie hätten feuern können.
Es waren ein paar unschöne Worte gefallen, aber das hatte nur bestätigt, wie falsch Malia in ihrer Rangordnung gewesen war.
Nach den gemeinsamen Tagen in Innerforks mit Kelly, John und Wesley waren die Wogen schnell geglättet. Die Dillons hatten Willow gebürtig in ihre Mitte aufgenommen und in jedem ihrer nächsten Schritte bestärkt.
Es war eine Zeit der Selbstheilung gewesen. Eine Zeit der Akzeptanz, dass die Dinge manchmal eben nicht so und womöglich niemals so laufen würden, wie man sie laufen lassen wollte.
Akzeptanz, dass man manche Menschen niemals würde ändern können und dass sie sich auch selbst niemals ändern würden. Dafür standen sie in ihrer eigenen Schuld und trugen die Konsequenzen für ihr Verhalten.
Jahrelang hatte Willow den Terror ihrer Mutter ertragen.
Weil sie nie weiter gegangen war, als zu drohen oder zu beleidigen.
Weil Willow die Gefahr nicht wirklich hatte wahrhaben wollen.
Weil sie einen Selbsthass gehabt hatte, der sie stets unterdrücken wollte.
Davon war sie nun frei.
Sie war frei von Briefen, unangekündigten Besuchen und Schuldzuweisungen.
Frei von ewigen Angstzuständen und Depressionen im Oktober.
Frei von Verdrängungen und dem Vorbeischieben von Dingen.
Denn sie hatte endlich reinen Tisch gemacht.
Sie hatte sich mit Wesley und Charles an einen Tisch gesetzt und ihnen ihre gesamte Geschichte unterbreitet.
Die Geschichte eines kleinen Mädchens, das im Haus zweier drogensüchtiger Alkoholiker aufwuchs.
Die Geschichte eines Mädchens, das irgendwann aus dem schwarzen Loch hinaus direkt in ein wohlmöglich noch schwärzeres gefallen war, weil man an ein Kinderheim höhere Erwartungen stellte. Man kam aus der Hölle und rechnete nicht damit, eine neue Hölle kennenzulernen, sobald man den verlorenen Seelen dort begegnete.
Die Geschichte einer jungen Frau, die irgendwann Reißaus nahm und zurückging an den Ort, wo alles begann.
Um abzuschließen, ihren Namen zurückzulassen und mit einem neuen anzufangen.
Ab diesem Zeitpunkt – so klärte Willow auf – war ihr ursprünglich getaufter Name – Leonora Willow Zekolo – gestorben.
Willow erzählte die Geschichte einer Frau, die sich ins Leben zurückkämpfte, die ihren Vater durch Selbstmord verlor, die ihre Mutter wegen Drohungen und ihrer Angst verlor und die es dennoch schaffte, am Ende des Tages Licht hinter den Wolken zu sehen.
Als sie fertig gewesen war mit erzählen, war Wesley vor Wut rot angelaufen und kurz davor gewesen, Willows Mutter mit bloßen Händen zur Strecke zu bringen.
Er hatte so rot gesehen, wie nur zweimal zuvor in seinem Leben. Nämlich damals, als er in den Nachrichten zum ersten Mal von Willow gehört hatte und an dem Tag, an dem Karla sich in Willows Garten gewagt hatte.
Aber das alles war mit kurzem Prozess beendet gewesen.
Die Zeugenaussagen von John und Kelly, die Beweislast der Drohbriefe und die aufgezeichneten Gespräche von Telefonaten und jenem Tag im Garten wiesen alle darauf hin, dass Willows Mum zu vollkommenen Unrecht freigesprochen worden war.
Sie hatte nichts gelernt, nichts aus ihrer ersten Zeit im Knast mitgenommen.
Heute musste sie das auch nicht mehr, denn sie würde das Gefängnis nie wieder verlassen.
Dafür hatten Charles und Wesley gesorgt.
Für Wesley war Willow zu seinem stärksten und wichtigsten Fall geworden, obwohl sie gemeinsam beschlossen hatten, Charles die Anklagen und Verhandlungen führen zu lassen. Zum einen war das deutlich seriöser und zum anderen war Wesley nicht sicher gewesen, ob er Ruhe bewahren konnte, wenn er Willows Mutter sah.
Er verspürte eine Abscheu gegen diese Frau, die sich niemand ausmalen konnte. Dabei konnte sie einem eigentlich leidtun. Denn sie hatte die schönste Chance verpasst, am Leben ihrer unglaublichen Tochter teilzuhaben.
Auch die Tage der Spekulationen rund um Wesleys Beziehungsstatus waren zu einem Stillstand gekommen. In einem Fernsehinterview hatte Wesley seine Beziehung und Liebe zu Willow öffentlich gemacht.
Willow hatte dazu eingewilligt, um ihre Ruhe zu haben und sich die Fragerei in der Stadt oder den Klatsch auf Galen vorsorglich zu sparen.
Eine öffentliche Beziehung war nicht ihr Ideal, aber es war die beste Möglichkeit gewesen, um sich weitere Skandale vom Hals zu halten und Wesleys Ruf wieder einzuholen. Die diversen Anzeigen, die er gegen die Zeitungen erstattet hatte, hatten ihr Übriges getan.
In Zukunft sollte sich die Medienwelt dreimal überlegen, was sie über die beiden veröffentlichen wollte oder ob sie damit ein Verfahren am Hals hatte. Das bot den meisten Einhalt.
Es war Ruhe eingekehrt. Die Prozesse waren schneller gewonnen, als Willow es für möglich gehalten hatte und mit einem letzten Blick hatten sie und ihre Mutter miteinander abschließen können, ehe Karla wegen Stalking, Kindesmissbrauch, Morddrohungen, versuchten Mordes und einigen anderen Straftaten, die sie fernab von Willow begangen hatte, abgeführt worden war.
Überraschenderweise war es ziemlich leicht gewesen, ihr den Rücken zu kehren.
Willow war fertig mit der Vergangenheit. Und das war auch gut so, denn die Zukunft wartete auf sie und war voll daran, sie ganz für sich einzunehmen.
»Ich bin so aufgeregt!«, jauchzte Willow in Vorfreude und schnappte sich Wesleys Hand, um sie in ihrer zu zerquetschen.
Grinsend beobachtete Wesley seine Freundin, ehe er seinen Blick zurück auf die Straße lenkte.
»Ich denke eher, dass alle anderen aufgeregt sein sollten. Ich glaube, so viele Geschenke, wie dieses Jahr, hatten wir noch nie unter dem Tannenbaum.«
»Meinst du? Aber ich habe doch nicht übertrieben, oder? Ist das schlimm?«
Wesley brach in schallendes Gelächter aus.
Willow hatte die Bescherung ein wenig zu ernst genommen und so viele Pakete verpackt und Tüten voller Dinge gekauft, dass der Kofferraum aus allen Nähten platzte und sie jeder sogar noch Päckchen in den Fußraum ihres Sitzes hatten stellen müssen.
»Schlimm nicht. Übertrieben vielleicht. Aber vor allem süß und süß ist alles, was zählt.«
Wesley tätschelte Willows Oberschenkel und fuhr dann mit wenigen Handgriffen auf den Vorhof zum Hause seiner Eltern.
Sofort schwenkte Willows Aufmerksamkeit auf die festlich geschmückte Villa, die in einem rot-grünen Glanz schimmerte und einfach umwerfend aussah.
Ein riesiger Kranz mit einer roten Schleife aus Seide hing über der Haustür.
Auf jede Treppenstufe vor dem Haus hatte Kelly kleine Schneemänner aus Holz oder Weihnachtsmännchen drapiert.
Ein Rentier aus Reisig und Lichterketten stand auf dem Rasenplatz vor dem Haus und lichtete feierlich.
Es war nicht übertrieben. Manche Häuser waren mit den buntesten Lichterketten gekleidet und blinkten grell durch den Abend.
Aber hier war es gemütlich, festlich und wohnlich.
Man bekam Lust, beisammen zu sitzen, zu essen und sich auf die wesentlichen Dinge zu fokussieren.
»Ich will einfach, dass es schön wird. Für alle! Und ... dass niemand mit leeren Händen nach Hause geht. Für den Fall, dass ich etwas schenke, was demjenigen überhaupt nicht gefällt oder vielleicht schon in seinem Besitz ist, habe ich für jeden halt mehrere Geschenke gekauft«, erklärte sich Willow und zuckte mit den Schultern.
Wesley lachte. Als ob sich irgendjemand über ein Geschenk von Herzen beklagen würde. Außerdem waren sie alle alt genug, um nicht mehr enttäuscht wegen der Bescherung zu sein – bis auf Charles vielleicht.
»Glaub mir, es wird ein wundervolles Weihnachten. Meine Mom hat sich alles mögliche in den Kopf gesetzt, um für dich das kitschigste, klischeehafteste und festlichste Weihnachtsfest zu veranstalten, das diese Stadt jemals erlebt hat.
Wir geben seit Jahren nichts mehr darauf, Plätzchen zu stechen oder Weihnachtslieder zu singen. Aber ich weiß ganz genau, dass das heute auf dem Programm stehen wird – genauso wie du es verdienst.«
Willow grinste vorfreudig und trippelte mit den Füßen. Heaver rollte mit den Augen.
Wesley grinste, stieg dann aus dem geparkten Wagen und öffnete Willow die Beifahrertür.
Zu den Feierlichkeiten hatte Wesley ausnahmsweise seinen schwarzen Anzug mit einer roten Krawatte kombiniert. Eigentlich hielt er nichts von Farben in seinen Klamotten – er war einfach gestrickt – aber einmal im Jahr war rot wohl in Ordnung.
Im Vergleich zu Willow wirkte er trübe. Strahlend hatte sie sich in ein rotes Cocktailkleid geworfen und einen Gürtel aus Seide gekauft, auf dem kleine Rentiere und eine Schneelandschaft zu sehen waren.
Sie wirkte schick und niedlich zugleich.
»Bereit?«, fragte Wesley, als sie Heaver aus ihrem Königreich befreit und Willow sich bei Wesley untergehakt hatte.
»Ja! Sowas von bereit!«, hauchte Willow euphorisch und gab Wesley einen stürmischen Kuss auf die Wange, ehe sie ihn an der Hand zur Haustür zog, vor der Heaver sich schon ziegenbrav platziert und auf die Klingel gedrückt hatte.
Sogar ihre Ziege hatte Willow zur Feier des Tages aufgehübscht. Heaver fand es hässlich, aber Willow zu Liebe behielt sie die Miniatur-Weihnachtsmützen auf ihren Hörnern und ließ die Lichterkette um den Hals baumeln.
Es gab Schlimmeres, als seiner Freundin einen Gefallen zu tun.
»Ahh! Kinder, da seid ihr ja endlich!«
Stürmisch riss die Haustür auf und entblößte Kelly Dillons – strahlend wie immer – in einem grünen Kleid mit rotem Gürtel, an den eine Rute befestigt war.
»Willow! Du siehst hinreißend aus! Und – Oh! – Heaver! Sogar du hast dich rausgeputzt! Wie originell! Kommt rein, ihr Lieben!«
Euphorisch wie immer zog Kelly Willow ins Haus und nahm sie sogleich in die Mangel, um ihr die Abläufe der Weihnachtsfeiertage zu erklären.
Für dieses Jahr hatte Kelly wirklich alles geplant, um Willow jedes verlorene Weihnachten zurückzugeben.
Sie würden in den Weihnachtsgottesdienst mit Krippenspiel gehen, sie würden den Weihnachtsmarkt besuchen und gebrannte Mandeln und gebratene Äpfel essen.
Es gab klassischen Truthahn zum Abendessen, es würden Plätzchen gebacken werden. Kelly wollte Weihnachtsschmuck basteln, hilfsbedürftigen Kindern Kleidung und Geschenke spenden.
Für jedes Familienmitglied hatte Kelly Strümpfe über den Kamin gehängt, den Adventskalender hatte sie Willow schon vor Wochen zugesandt. Heute Abend wollten sie Santa Kekse und Milch ausstellen und morgen würden sie allesamt in ugly Christmas-Pyjamas die Geschenke auspacken.
Es war bunt, es war übertrieben und mächtig kitschig. Aber Kelly liebte die Originalität, John und Wesley waren neutral, weil sie kein Mitspracherecht hatten, und Willow war einfach nur neugierig.
Alle Welt schwärmte von Weihnachten. Nach diesen Feiertagen wollte sie das vielleicht auch tun.
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Es waren wunderschöne Festtage. Viel besser, als Willow es sich hätte austräumen können.
Alle waren nett und bei guter Laune. Auf dem Weihnachtsmarkt kamen in Wesley und Charles die ewig jung gebliebenen Kinder wieder zum Vorschein, als sie für ihre Mütter die größten Teddybären an einem Schießstand gewinnen wollten. Und Heaver entdeckte ihr neues Lieblingsessen. Sie ersetzte ihre heißgeliebte Schokoladencreme mit kandierten Äpfeln.
Der Weihnachtsgottesdienst am frühen Morgen des 25ten erweckte in Willow alt verblasste Kindheitserinnerungen. Auch im Heim hatte es jährlich eine Aufführung gegeben. Willow hatte nie dabei sein dürfen – die anderen Kinder hatten sie gehänselt – aber aus der Ferne hatte es Neugierde erweckt. Das Krippenspiel jetzt, aus der Nähe, in der Atmosphäre einer echten Kirche zu sehen, war neuartig schön.
Als sie Stunden später tatsächlich alle Pyjamas trugen – auch Sonja, ihr Mann Timothee und natürlich Charles – kehrte auch der Humor zurück. Es wurde herzlich gelacht, urkomische Fotos geschossen – vor allem von Heaver im Nachthemd und einer Schlafmütze auf den Hörnern – und natürlich die Bescherung genossen, die dank Willow dieses Jahr ebenfalls herausragend stattfand.
Kelly bekam jede Menge origineller Dinge geschenkt, die unpraktischer nicht hätten sein können.
John bekam Bücher und Hemden und verschiedenstes Werkzeug, das er irgendwo hinlegen konnte, wo es verstaubte (laut Kelly, trotz Widerworte).
Charles erhielt mehrere Scherzartikel, die er seinen Eltern zum Witz geschickt hatte, zurück und galt damit offiziell als entlarvt. Außerdem hatte Kelly ihm ein Kinderkochbuch mit bildlichen Step-By-Step Erklärungen gekauft, damit sein nächstes Omelett mit Himbeeren nicht grün verendete.
Willow schenkte Wesley Konzerttickets für Selena Gomez – wegen denen er rot im Gesicht anlief, aber innerlich kreischte – und ein Fotoalbum mit jeder Menge Schnappschüsse und Fotos aus den letzten Monaten, die sie sich kannten.
Kelly und Sonja brachen beinahe in Tränen aus, als sie es durchblätterten.
Schaurig schön doch, wie schnell ihre Kinder erwachsen wurden und dort draußen ihr Glück fanden.
Kelly hatte Willow dekoratives Geschirr gekauft und frische Farbe für ihre Wall of Words.
John schenkte Willow ein Journal und Charles ihr eine Kette, durch deren Anhänger man, wenn man die Augen zusammenkniff, gucken konnte und im Stein ein Foto sah. Gerührt fand Willow ein Bild von Charlie, Wesley und ihr darin. Das Foto war vom Tag des Wohltätigkeitsballs.
Gefräßig schoben sich die drei auf darauf ihre Cupcakes in den Mund und lockten damit so manchen Griesgram im Hintergrund aus der Reserve.
Willow umarmte Charles fest für dieses Geschenk.
Wesley schenkte jedem etwas.
Seine Mutter bekam ein Gartenpflegeset und jede Menge Blumenzwiebleln.
Sein Vater eine schicke, neue Krawatte mit einem Foto von Heaver darauf – weil die beiden mehr und mehr zu den engsten Freunden wurden – und Ehepaar Anderson erhielt eine Reise nach San Francisco, die sie sich immer schon gewünscht hatten.
Sogar Heaver bekam ein dickes Fresspaket und ein schickes Paar Badelatschen, die Heaver neuerdings vielleicht noch lieber fraß, als Lackschuhe.
Nur Willow erhielt von ihm kein Päckchen oder gar einen Umschlag. Für sie war das nicht weiter schlimm. Sie war nicht undankbar und sie kannte das Beschenken auch nicht. Doch dass er jedem etwas überreichte nur sie ausließ, als würde sie gar nicht existieren, verwunderte sie ein wenig. Er schenkte ihr nicht einmal ein Lächeln.
Bis zum Ende der Feiertage hinterließ dieses leicht komische, leicht distanzierte Verhalten von Wesley einen bitteren Nachgeschmack auf ihrer Zunge.
Dann war es schon wieder Zeit abzureisen.
Lange umarmten sich Willow und Kelly, Charles täuschte ein paar Tränen vor und Heaver versteckte sich, um John nicht verlassen zu müssen.
Es dauerte ein Weilchen, bis sie im Auto saßen und Wesley den Weg nach Innerforks aufbrach, um Willow nach Hause zu bringen.
Zumindest glaubte sie das ...
»Wes?«
Kein Kommentar.
»Wesley!«
»Hm?«
»Du bist falsch abgebogen. Du hättest dort vorne links gemusst. Das hier ist eine vollkommen falsche Richtung. So kommst du nicht nach–.«
»Wir fahren richtig«, unterbrach Wesley Willow selbstsicher und lächelte urplötzlich.
Sie zog die Augenbrauen zusammen. Wollte er sie ärgern?
»Wesley, zu mir nach Hause geht es da links lang. Es ist nicht mehr weit, vielleicht zwanzig Minuten.«
Er lächelte. Urplötzlich geheimnisvoll.
»Dreiundzwanzig um genau zu sein.«
»Was?«
»Es sind dreiundzwanzig Minuten und sechzehn Sekunden von hier bis nach Innerforks.«
Willow lehnte sich zur Seite um Wesley ansehen zu können.
»Woher weißt du das? Wesley, was soll das? Was machen wir hier?«
Er antwortete nicht. Fuhr stattdessen eine lange Allee aus Eichen entlang und bog an einer unscheinbaren Ecke links ab.
Aus dem Nichts hob sich ein ummauerter Bauernhof aus der Landschaft, dessen Tor Wesley passierte, als sei er schon mehrmals hier gewesen.
Das Auto hielt an. Willow blieb der Mund offen stehen.
Das sandsteinfarbene Hauptgebäude war an der Fassade mit Rosen bewachsen, die an den Steinen entlang kletterten.
Ein riesiges Tor aus Holz stellte die Eingangstür dar und sah wundervoll mit den bunten Glasscheiben im Torbogen aus.
Die Fenster hatten einen weißen Anstrich. Alles wirkte alt und neu zugleich. Edel, aber auch einfach.
Und es war Platz. Massig Platz an Stallungen, massig Platz an Grünflächen für eine Terrasse, verschiedene Beete, Obstbäume und Insektenhotels, die Willow äußerst wichtig für die Umwelt fand.
Ihr blieb der Mund offenstehen, als sie ausstieg.
Die Fassade hatte einen frischen neuen Anstrich, im Sinne einer gründlichen Reinigung bekommen.
An der Südseite des Hauses konnte Willow einen halbrunden Balkon erkennen, auf dem Stühle und ein Tisch in der Sonne standen.
Es war ruhig und idyllisch.
Ziemlich privat, aber zugleich einladend und herzlich.
»Wow! Wer wohnt hier?«, fragte Willow und sah Heaver hinterher, die sich befreit hatte und sofort die neue Umgebung erkundete.
Wesley trat neben Willow und hielt einen Moment inne, ehe er ihre Hand nahm, sie öffnete und ein Schlüsselbund hineinlegte.
»Wenn du willst, dann könnten wir beide die nächsten Bewohner dieses Hofs werden.«
Willow blieb das Herz stehen.
Ihr Kopf schoss zu Wesley.
»Was?«
Wollte er sie auf den Arm nehmen?
»Ich habe dieses Grundstück gekauft. Er war sanierungsbedürftig, stand zeitweilig unter dem Stern eines Abrisses. Ich fand das alte verbaute, aber noch gut erhaltene, Holz und das aufwendig gebaute Gebäude zu schade zum Umriss, also habe ich das Haus, samt der umliegenden Ländereien prompt gekauft.
Für uns. Wenn du willst.«
Willow keuchte.
»Wenn ich will? Das ist der Wahnsinn! Du bist wahnsinnig Wesley!«
Sie konnte es nicht fassen. Er hatte einen Hof gekauft!
Ein Haus! Einfach so ...
»Ich bin verliebt, Willow. Ich liebe dich und ich will vor allem eines, wahnsinnig gerne: Nämlich jeden Morgen neben dir aufwachen und dem Zufall, Schicksal oder Gott danken, dass ich dich an meiner Seite haben darf. Du bist mein größter Segen, mein kostbarster Schatz und ich will dich in meinem Leben – immer und überall.
Weil wir aus zwei Welten stammen, die durch einige Entfernungen getrennt sind, war unsere Beziehung in den letzten Monaten immer ein wenig holprig. Ständig musste einer von uns pendeln oder lange Strecken zurücklegen. Dabei wissen wir beide, dass die Distanz nicht dauerhaft für uns funktionieren würde. Dieser Hof hier ist mir quasi zugesprungen und er wäre ideal.
Er liegt geografisch gesehen beinahe auf der Hälfte unserer beiden Strecken.
Fünfundzwanzig Minuten sind es nach Innerforks und gute dreißig Minuten nach Washington. Ich dachte, das könne ein guter Kompromiss sein. Ein gemeinsames Eigenheim – ohne Stadttrubel, dem Heaver nicht gewachsen ist – und zentral genug, um mich nicht vereinsamen zu lassen.
Was meinst du?«
»Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Willow war baff.
Hin und weg.
Aber ... positiv.
Ein Zuhause für sie und Wesley. Das hieß, sie würden zusammenziehen?
Sie würde jeden Abend neben ihm einschlafen und mit ihm kochen können?
Und Heaver würde nie wieder alleine sein oder sich in das Penthaus quetschen müssen, weil sie anderweitig zusammen sein konnten?
Das war ...
»Perfekt.«
Willow drehte sich zu Wesley und trat dicht vor ihn.
»Ich finde es perfekt. Du, ich und Heaver. Für immer. Das ist perfekt.«
»Wirklich?«, hakte Wesley nach. Er war sich unsicher gewesen, ob er mit diesem ersten Weihnachtsgeschenk nicht ein wenig voreilig war.
Es zog nicht jedes Pärchen nach knapp einem halben Jahr Beziehung gleich zusammen.
Aber weshalb warten, wenn man sich sicher war?
»Falls es dir zu schnell geht ... Wir müssen nicht sofort ... Und du musst auch nichts aufgeben! Wir werden den Hof in Innerforks niemals verkaufen – gar deinen Garten dort aufgeben. Dieser Hof ist bloß ...«
Willow legte Wesley in seinem schnellen Gestotter einen Finger auf die Lippen und lächelte.
Sofort verstummte ihr Freund und sah ihr in die schillernden Augen. Sie lächelte. Verliebt.
»Eine Welt dazwischen!«
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