🌟Kapitel 7🌟


Die Sonne war bereits untergegangen, als Harlow ihn fand.

"12 Minuten", sprach Kingsley laut, er saß mit dem Rücken zum Blonden am Abhang eines der hohen Bürogebäude und starrte auf die beeindruckende Aussicht hinaus, "du war auch schonmal schneller, alter Freund."

"Dann such dir nächstes Mal einen zugänglicheren Ort für ein Treffen aus."

"Ach, dabei ist es hier doch so romantisch, Harlow."

Harlow trat ein paar Schritte nach vorne, sein Brustkorb schmerzte von dem vielen Rennen. Er hoffte einfach, dass keine Wunden dabei aufgerissen wurden. Kingsley hatte die Kapuze seines schwarzen Pullis übergestülpt, eines seiner Beine baumelte vom Abgrund, das Andere war angewinkelt aufgestellt.

Grüblerisch hielt Harlow weiterhin Abstand, seine Hände verschwanden in seinen Jackentaschen.

"Das war nicht schlecht", erhob Kingsley seine Stimme erneut, "dein kleiner Trick mit der Gen-unterdrückenden Substanz."

"Scheint also gewirkt zu haben", vermutete Harlow daraufhin, konnte sich den Hauch von Erleichterung nicht nehmen lassen. Er trat noch näher an ihn heran, ehe er sich einen Ruck nahm und sich neben Kingsley niederließ.

Kingsley's Seitenprofil war schwer in der Dunkelheit zu erkennen, dazu noch die Kapuze und seine weißen Haare, die vom seichten Wind aufgewirbelt wurden. Doch Harlow musste ihn auch garnicht erst ansehen, um zu wissen, dass er noch Spuren der Explosion mit sich trug.

"Kleine, mickrige Menschen", murrte Kingsley, "ohne irgendeine Fähigkeit, ohne irgendwas. So erbärmlich hab ich mich seit Jahrhunderten nicht mehr gefühlt."

"Sei nicht so dramatisch", antwortet Harlow unbeeindruckt, "du hast nur deine Fähigkeiten verloren und nicht deine Existenz als Bändiger. Angefangen bei deinem Heilungszyklus, wie man sieht."

"Ich hab schon Schlimmeres als eine Explosion überlebt. Ein paar gebrochene Knochen sind nichts für Bändiger und erst recht nichts für dich", Kingsley wendete seinen Blick zum ersten Mal zu Harlow, "ich seh schon, wie gut du wieder zusammengeflickt bist."

Kingsley hatte noch einige alte Schrammen und Narben im Gesicht von dem Vorfall, das konnte Harlow jetzt genauer sehen. "Ich hab meine Fähigkeit nicht benutzt", erklärte Harlow, "meine Freunde haben mich gepflegt."

"Ach ja, deine süßen Feenfreunde. Die hatte ich ja schon ganz vergessen", Kingsley rollte mit seinen Augen und streckte sich einmal, Harlow bemerkte genau, wie er für den Hauch einer Sekunde kurz erstarrte, "du hast noch Schmerzen", stellte Harlow fest.

"Nein, hab ich nicht. Danke für deine Fürsorge", spuckte Kingsley zurück, doch Harlow bemerkte die starre, angespannte Position, in der sich der Kleinere befand. "Ich hab darauf geachtet, deinen Heilungszyklus nicht zu beeinträchtigen."

"Wie zuvorkommend von dir. Ich bin ganz gerührt davon."

"Kingsley."

"Harlow."

"Was ist los?", verlangte Harlow zu wissen, Kingsley seufzte laut und ließ sich genervt nach hinten fallen, seine Hände verschränkten sich hinter seinem Kopf. "Ich hatte mir beide Arme gebrochen, mein Heilungszyklus ist noch mit den restlichen Schäden davon beschäftigt."

"Was für Verletzungen bleiben noch übrig?", fragte Harlow weiter, musterte Kingsley's Körper von oben nach unten. "Abgesehen von ein paar unwichtigen Schrammen und Flecken eigentlich nur meine drei gebrochenen Rippen."

"Drei?!" fragte Harlow schockiert nach, "wie hast du es überhaupt bis hier hin geschafft?!"

"Wäre ich so zimperlich, wäre ich wohl nie soweit gekommen. Ich kann das sehr gut aushalten."

"Zeig sie mir."

Kingsley zog eine Augenbraue nach oben, "garantiert nicht. Ich brauch dein erbärmliches Mitleid nicht."

Harlow seufzte, "Kingsley, zeig mir die Verletzung", beharrte er ungeduldig. "Du kannst dir deine Heilungsfähigkeit sonst wo hinstecken. Ich hab sie all die Zeit über nicht gebraucht und brauche sie jetzt auch nicht."

Stur wie eh und je, dachte der Blonde zähneknirschend und drehte seinen Körper mehr zu Kingsley. "Ich weiß das", blieb er dann ruhig, "ich weiß, dass du sie nicht brauchst, aber ich will es, also her mit deinem Oberkörper oder ich bring dich dazu."

"Wow, das hat jetzt aber eine schnelle Wendung genommen", triezte Kingsley, als der Größere nach seinem Oberteil griff, "Du hättest ja immerhin ein wenig Musik auflegen können."

"Halt die Klappe und lass mich endlich machen", grollte Harlow und zog seinen Pullover weiter nach oben, bis man die drei tiefen, blauen Flecke erkennen konnte, die seine gebrochenen Rippen andeuteten.

"So fordernd hab ich dich ja schon lange nicht mehr erlebt", grinste Kingsley breit, "das letzte Mal müsste- OKAY, ich lass es ja schon!", rief Kingsley, als Harlow seinen Daumen gegen die Verletzung drückte. "Endlich", kommentierte Harlow, seine rechte Hand fuhr hauchzart über die Stellen, seine Augen leuchteten gülden auf, sie wie sie es jedes Mal taten. "Immer noch so sensibel", murmelte Kingsley leise, "du warst schon damals ein Spielverderber."

"Nein, du warst ein Spielverderber, weil du wortwörtlich jedem das Spielen verdorben hast", gab Harlow zurück, als er Kingsley's Rippen geheilt hatte. "Dafür habe ich fast nie verloren. Es hat sich also gelohnt."

"Es ist nicht immer nötig, zu gewinnen, Kingsley", sprach Harlow ernst, "es gibt Wichtigeres im Leben."

"Ach ja, und was? Heimat, Freundschaft, Familie? Denn, Überraschung, ich hab nichts von dem."

"Du könntest es aber haben, wenn du es willst."

"Werd erwachsen, Harlow. Der Zug ist abgefahren, für dich und für mich. Wir haben nichts mehr, also warum sollte ich meine restliche Zeit nicht einfach genießen? Wenn wir sterben, ist das großartige Vermächtnis der Bändiger für immer begraben."

"Und wessen Schuld ist das?", erwiderte Harlow, Kingsley richtete sich auf. "Ich bereue nichts", entkam es tief aus seiner Kehle, seine Augen bohrten sich in Harlow's Gedächtnis, "wir Bändiger waren einmal ein so erhobenes und stolzes Volk. Ganz früher, erinnerst du dich? Doch alle, die nach uns folgten zogen die Namen unserer Vorgänger in den Schmutz, mit ihrem Krieg, mit ihrer primitiven Einstellung. Wir hätten wie Götter sein können. Die Bändiger waren schon lange nicht mehr das, was sie einst waren."

"Das ist kein Grund für einen Genozid, Kingsley", antwortete Harlow, doch der Andere reagierte nicht, stattdessen fuhr er unbeirrt fort. "Es hat alles eh keine Bedeutung mehr. Wir sind die letzten Überlebenden des Krieges. Wir beide werden alleine sterben. Keine Heimat, keine Freundschaft, keine Familie. Ich hab mich entschieden."

"Aber so muss es nicht nicht enden, Kingsley!", Harlow griff fest nach seinem Handgelenk, weshalb Kingsley erstarrte. "na dann", kam vom Kleineren zurück, "ich bin mal gespannt, wie du mit uns beiden das Bändiger-Volk wiederaufleben lassen willst."

"Das-", Harlow stockte kurz, "das meinte ich nicht!", kopfschüttelnd ließ er von Kingsley Handgelenk ab, "ich...", Harlow presste die Lippen aufeinander und stand vom Rand auf. Gestresst fuhr er sich durch die Haare und lief auf dem Dach auf und ab.

"Ich... Ich mich nie gegen dich entschieden."

"Ach ja?!", keifte Kingsley und sprang ebenso auf, "du hast dich schon mehrmals gegen mich entschieden. Bei Anbeginn des Krieges und selbst bei unserer Begegnung auf diesem elenden Schrottplatz."

"Ich hab mich nie gegen dich entschieden!", wiederholte Harlow nochmal nachdrücklicher, "ich hab mich dagegen entschieden, weiterhin zuzulassen, wie du Unschuldige tötest und- und tyrannisierst! Ich bin dem Militär beigetreten, um zu versuchen, den Krieg frühstmöglich zu beenden! Und das war dumm von mir, im Nachhinein. Ich war jung und töricht, wusste nicht, dass man Gewalt nicht mit Gewalt lösen kann."

"Du warst all die Zeit auf meiner Seite und plötzlich hast du mich weggestoßen, wie all die verblödeten Maden zuvor schon! Wir hätten- wir hätten so viel haben können, Harlow, doch auf einmal hast du mich genauso angesehen wie all die Anderen."

"Das stimmt nicht", Harlow trat wieder auf ihn zu, bis sie sich genau gegenüberstanden, "Ich konnte -und kann- dich verstehen. Die Wut und der Schmerz, weil dich die Bändiger nie akzeptiert haben, dich wegstießen und missachteten. Ich verstehe dieses Feuer in dir, das flüstert, alles in Schutt und Asche zu legen. Das Rachegelüste und das Bedürfnis, wie ein Gott über Leben und Tod entscheiden zu können, um zu beweisen, dass sie dich unterschätzt haben, dass du mehr warst, als der verschrobene Außenseiter, für den sie sich hielten", redete Harlow ruhig auf ihn ein, griff vorsichtig nach seiner Wange.

"Ich wollte dir damals beibringen, dass du all das nicht brauchst", hauchte Harlow, Kingsley hörte ihm stillschweigend zu, ihre Gesichter näherten sich wie von selbst, "du brauchst keine Welt, die dir unterworfen ist. Keine Macht. Keine zerstörten Städte. Du musst kein Mörder und Tyrann sein, um zu beweisen, dass du es wert bist, Aufmerksamkeit zu erlangen. Du hattest steht's meine Aufmerksamkeit, davor, sowie danach, bis genau jetzt und das nicht aus dem Grund, dass du Leute quälst und schadest. Du bist mehr als nur das. Du warst und bist die brillanteste Person, die ich je kannte. Mit deiner Intelligenz, deinem Können, deinem Ehrgeiz."

"Die Zeiten ohne dich während des Krieges waren die Schlimmsten", murmelte Kingsley, "ich hab versucht, dich all die Zeit über irgendwie zu finden. Ich stand mittendrin, bei der letzten, großen Schlacht. Zwischen den Fronten. Ich hab Dutzende ausgequetscht, bis ich endlich mitbekam, dass du angeblich während eines Kampfes gestorben bist. Sie haben sich nichtmal die Mühe gemacht, nach Überlebenden zu suchen", er entzog sich aus Harlow's warmer Handfläche und ging einen Schritt nach hinten.

"Es hat sich angefühlt, als wären die letzten Würfel für mich gefallen. Diese Möchtegern-Bändiger mit ihrem hirnverbrannten Verstand haben mir alles genommen. Meine Heimat, eine Möglichkeit auf ein normales Leben und einer Fähigkeit. Sie nahmen mir nicht nur dich, weil sie dich für ihren Egoismus im Krieg ausnutzten, sie ließen auch noch zu, dass du stirbst. Ich stand inmitten von unzähligen Bändigern und hatte nichts."

Harlow wollte erneut nach ihm ausgreifen, Kingsley wischte sich einmal verdächtig über die Augen und ging noch weiter nach hinten.

"Ich hab mir geschworen, mich zu rächen. Für dich, für meine vergeudete Zukunft, für all die Schmach, die ich ertragen musste. Es war an der Zeit."

"Kingsley-"

"Du hast recht. Ich wollte mich immer wie ein Gott fühlen, endlich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Über alles entscheiden. Und verdammt, so hab ich mich auch all die Zeit gefühlt. Und verdammt, es war schrecklich. Jedes verbrannte Lager, jede Rauchwolke, die als Zeichen der ewigen Ungerechtigkeit emporstieg, brachte mich ein weiteres Stück an mein elendes, einsames Ende. An das Ende, das einschlagen würde, sobald ich den letzten Bändiger zur Strecke gebracht hatte", Kingsley schnaubte kurz amüsiert, doch es kam kleinlich rüber, verletzlich, verbittert.

"Es war einfach an der Zeit, dass wir Bändiger wohl endlich zur Seite treten würden", Kingsley blickte Harlow ins Gesicht, beide konnten die stillen Tränen nicht mehr unterdrücken. Er zuckte mit den Schultern und grinste, so wie er es immer tat, "es wäre so einfach gewesen", hauchte Kingsley, seine Stimme war so brüchig, dass sie am Ende abbrach. Ohne ein weiteres Wort, ein Zucken oder eine Reaktion, breitete Kingsley die Arme aus und ließ sich nach hinten fallen, hinab in den sicheren Tod.

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