🌟Kapitel 6🌟


Das gesamte Fabrikgelände lag in Trümmern. Es dauerte Stunden, nach Harlow und anderen, möglichen Verschütteten zu suchen.

Freya und Griffon fanden ihn schließlich, als die Sonne bereits am Horizont abtauchte. Er trat aus dem Schutt heraus. Humpelnd, überzogen mit Blut und zerfetzter Kleidung, sein Blick gedankenlos, wüst, als wäre er überhaupt nicht anwesend.

"Harlow!", rief Freya überschüttet mit Erleichterung und rannte auf den Größeren zu, Griffon direkt hinter ihr her. "Wie schafft er es nur immer wieder, aus den brenzligsten Situationen zu entkommen?", fragte Griffon schockiert, seine kinnlangen, schwarzen Haare hingen ihm wirr im Gesicht. Harlow's Beine klappten zusammen, Freya fing ihn auf und ließ ihn wachsam zu Boden gleiten.

Der natürliche Heilungsprozess von Bändigern verlief schätzungsweise doppelt so schnell wie der von Feen oder Menschen, meistens machte Harlow sich also nicht einmal die Mühe, seine Verletzungen zu pflegen. Zudem forderte seine Heilungsfähigkeit, wenn er sie denn an sich selbst ausübte, ein gutes Maß an Schlaf. Durch eine eigentlich tödliche Kopfverletzung von vor 12 Jahren schlief er einmal 5 ganze Monate. Es stellte sich somit heraus, dass sehr vieles in 5 Monaten schief gehen konnte, wenn Harlow nicht funktionstüchtig war, also versuchte er weitergehend die Fähigkeit an sich selbst zu vermeiden. Auch, wenn sich die Fähigkeit bei zu großen Schmerzen oder Schaden manchmal selbstständig machte. Meistens war es eine gute Sache.

Manchmal aber auch nicht.

Wie zum Beispiel, wenn kleine Partikel aus Holz, Metall und Plastik sich in seine Haut gebrannt hatten. Wenn diese sich erst einmal durch seine Fähigkeit mit seinem Körper verschmelzen würden, würde es permanente Schäden hervorrufen, die selbst die besten Ärzte nicht heraus operieren könnten.

Es war die reinste Tortur, Harlow vom Heilen abzuhalten und irgendwie zu versuchen, sämtliche Rückstände aus seinen Wunden zu pflücken. Wochenlange Arbeit, Harlow schwebte dabei ständig zwischen wachsein und bewusstlos, wie ein Fiebertraum.

Von Kingsley war keine Spur, zu ihrem Glück. Harlow konnte in der ganzen Zeit keinen gescheiten Satz rausbringen, was alles passiert war. Griffon vermutete, dass der ominöse Bändiger bei der Explosion vermutlich selber umgekommen ist. Freya war sich da allerdings nicht so sicher, ein dunkles Gefühl nagte an ihr. Wenn Harlow es aus dem Trümmern geschafft hatte, dann eventuell auch er.

Ausgelaugt saßen Freya und Griffon auf der alten Couch, beide am dösen, doch niemals am schlafen. "Vielleicht ist es gut, dass es keine anderen Bändiger mehr gibt", murmelte Griffon nach minutenlangem Schweigen, rieb sich an seinem drei-Tage-Bart. "Wie kommst du darauf?", kam Freya's brüchige Stimme zum Zug. "Ich meine... wir haben es hier mit zwei Bändigern zu tun gehabt und beim erstem Kampf flog direkt ein ganzes Gelände in die Luft. Wie es wohl erst im Krieg damals war?"

"Keine Ahnung", entkam es ihr ehrlich, "Harlow erzählt nicht gerne über seine Vergangenheit und ich will ihn zu nichts zwingen."

"Ob wohl jeder Kampf früher so aus ging?", fragte Griffon sich unbeirrt weiter, "falls ja, hab ich Harlow vielleicht ganz falsch eingeschätzt. Er scheint mehr durchgemacht zu haben, als wir jemals erleben werden."

Freya schloss für einen kurzen Moment ihre Augen und nickte zustimmend, "Harlow hat mir erzählt, dass seine Heimat damals in Flammen aufging und nichts zurückblieb. Dann verlor er auch noch sein gesamtes Volk. Ich kann mir nichtmal vorstellen, wie er sich fühlen muss."

"Verbittert und Einsam bestimmt", überlegte Griffon weiter, sein Kopf sank tiefer in die Rückenlehne, "schrecklich einsam."

"Harlow war so fokussiert auf Kingsley die letzte Zeit, ich konnte es ihm nicht übel nehmen. Er ist schließlich alles, was Harlow noch von früher übrig geblieben ist. Wir müssen ihn finden."

"Seine Leiche wird metertief unter der Erde liegen. Das Tunnelsystem ist komplett eingestürzt, das können wir vergessen, Freya."

"Er lebt noch, da bin ich mir sicher. Ich weiß es einfach. Griffon, ich hab diesen Kingsley erlebt, er ist... komplett wahnsinnig und so... wütend, rachsüchtig, ich weiß nicht. Vermutlich übersteigert es wirklich meinen Horizont, so wie Kingsley es bereits angesprochen hatte."

"Ach, dieser Kingsley ist doch der reinste Dummschwätzer, wenn er das meinte."

Freya richtete sich ein wenig auf und rieb sich ihre Augen, wand sich mehr zu Griffon. Dieser bemerkte es aus dem Augenwinkel und drehte seinen Kopf zu ihr. "Ich frag mich schon die ganze Zeit, was mich dazu antreiben würde, alle Feen auf dieser Welt umzubringen."

"Bitte was?"

"Kingsley hat alle übrigen Bändiger nach dem Krieg umgebracht, zumindest, wenn er denn die Wahrheit sagt. Falls es stimmt, wundere ich mich einfach, was einen dazu überhaupt bringen könnte. Seine eigenen Leute, alle die man kennt, Unschuldige, Alte und Kinder abzuschlachten. Was hat es ihn bisher gebracht? Harlow ist sein letztes Ziel, der letzte Bändiger und dann? Wo will er hin, was will er tun?"

Griffon öffnete seinen Mund, nur, um ihn daraufhin wieder zu schließen. "I-Ich...", stotterte er überfordert von den schwierigen Fragen, "bin froh, dass du die Emphatische unter uns bist, das erspart mir anscheinend viel Kopfzerbrechen."

"Idiot", schnaubte Freya lächelnd, wechselte ihre Position, wodurch sie sich nun im Schneiderplatz befand. "Aber die Fragen sind wirklich gut", wurde Griffon wieder ernster, "hast du mit Harlow darüber geredet?"

Freya schüttelte den Kopf, "nein ich... ich weiß nicht. Harlow hat das alles ganz schön mitgenommen, ich wollte ihn nicht zu sehr ausquetschen. Es ist wichtiger, dass wir Kingsley schnappen und Dingfest machen."

"Aber was dann?", entgegnete Griffon, "wenn er wirklich noch lebt und wir ihn schnappen können, was sollen wir mit ihm anfangen? Ich weiß nicht, ob wir ihn irgendwo unterbringen können, wo er niemanden verletzen und nicht ausbrechen kann."

"Harlow wird schon was einfallen."

"Und... was wenn nicht?", Griffon schluckte und setzte sich gerade hin, "oder wenn Kingsley wiederkommt und Harlow nicht zur Stelle ist? Dieser Kingsley ist eine riesige Gefahr für die ganze Stadt, vermutlich sogar für die gesamte Welt."

"Worauf willst du hinaus?", Freya leckte sich nervös die Lippen, ahnte bereits etwas ganz Schlimmes.

"Sollten wir ihn nicht lieber schnellstmöglich töten?"

Freya fuhr sich durchs Gesicht und schluckte schwer, "Ich...", stotterte sie und überlegte.

"Ich steh zu Harlow", sprach sie schließlich, "und Harlow würde ihn nicht töten, also werde ich es auch nicht tun."

Griffon nickte verstehend, schien allerdings nicht sehr angetan davon, "na schön", murmelte er, "dann müssen wir uns eben eine gute Alternative überlegen", stieg er in den Plan mit ein. "Du... du widersprichst nicht?", erwiderte Freya überrascht, "du bist komplett einverstanden damit?"

"Einverstanden nicht", widersprach Griffon, "ich mein... unsere Heimat steht hier auf dem Spiel, die Schutzzone ist alles, was uns vor der Organisation beschützt. Meine Verlobte lebt hier, unser- unser ungeborenes Kind wird hier in ein paar Monaten geboren, ich hab Angst. Aber Harlow ist das schlaueste Wesen, das ich vermutlich jemals kennenlernen werde und er ist sich das Risiko bewusst. Wenn er bereit ist -wenn Kingsley es tatsächlich wert ist- dieses Risiko einzugehen, dann hat Harlow einen verdammt guten Grund. Ich vertraue ihm."

Zwei weitere Wochen zogen vorbei, mit Harlow ging es wieder Berg auf. Er konnte sich wieder aufrappeln und rumlaufen, doch sprach kein Wort über das Ereignis in der Lageralle. Griffon und Freya wurden zwar vor Neugier geplagt, doch fragten nie nach. Harlow würde schon einen Grund haben, das hatte er immer.

"Okay, Harlow", sprach Freya und zog sich ihre Jacke über. Der Bändiger saß auf der Couch, trug wie immer ein Hemd und eine dunkle Hose. Griffon hatte ihm vom Schrottplatz ein paar gute Metall-Teile mitgebracht, um ihn beschäftigt zu halten. Es war das erste Mal seitdem, dass Harlow wieder richtig bei Bewusstsein war. "Griffon hat einen Hinweis zu einer dieser vermissten Feen bekommen, also werden er und Ich uns jetzt aufmachen. Wir haben noch Reste im Kühlschrank, falls du Hunger hast und übernimm dich ja nicht."

"Ihr behandelt mich alle wie ein Kind. Dabei bin ich fast 800 Jahre älter als du und Griffon", grummelte Harlow beleidigt, schraubte gerade die Ecken eines Dings fest. Freya wusste in den meisten Fällen nicht, was Harlow baute und inzwischen vermutete sie, dass Harlow es selbst nichtmal wusste. "Ja, weil du dich wie eins verhältst, wenn du nicht raus darfst", antwortete Freya, gab ihrer Handfläche einen Kuss und drückte diese auf Harlow's Kopf, "bis später, Kleiner."

"Ich bin größer als-", wollte Harlow sich beschweren, als Freya bereits verschwunden war. "Unfassbar", murrte er über seine Kollegin und Mitbewohnerin. Nachdenklich drehte er den selbstgebauten Würfel aus Eisen in seiner Hand herum. Ursprünglich wollte er das Navigationssystem reparieren, da es bei einem Einsatz vor zwei Wochen abgeschossen wurde, doch nach dem dritten Fehlschlag hatte Harlow es einfach aufgegeben.

Er konnte schlichtweg an nichts anderes als Kingsley denken.

Die Flüssigkeit, die er dem Kleineren verabreicht hatte, musste einfach wirken. Hoffte er zumindest. Somit wären Kingsley's Fähigkeiten nämlich zumindest für einige Zeit außer Gefecht gesetzt.

Harlow wusste nur allzu gut, dass Kingsley dadurch nicht ungefährlich geworden war, aber ohne seine Manipulation und seiner Elektrizität wurde schonmal viel Schaden verhindert. Außerdem war er bei einer nächsten Begegnung leichter mit umzugehen. Wenn auch vermutlich ein bisschen gereizter.

Seufzend warf Harlow den Würfel in die Höhe, und breitete seine Hand bereits danach aus, als ihm der Würfel ins Gesicht fiel und mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden aufkam. Harlow's Hand blieb unverändert, seine Augen weiteten sich unmerklich, wie gebannt starrte er die Deckenbeleuchtung an.

Er fühlte es. Das Kribbeln, das Zucken in den Fingerspitzen. Das warme Gefühl im Brustkorb, das andeutete, dass er nicht allein war. Dass jemand ganz bestimmtes da war.

Es war das erste Mal seit Jahrhunderten, dass Harlow so intensiv die Nähe eines anderen Bändigers gespürt hatte. Bisher hatte Kingsley es immer erfolgreich geschafft, seine mentale Barriere so stark aufzubauen, dass Harlow ihn erst in unmittelbarerer Nähe wahrnehmen konnte. Das führte allerdings auch zur Folge, dass Kingsley ihn genauso wenig mitbekommen konnte.

Doch jetzt war es anders. Ein unsichtbares Band schien Harlow den Weg zu seinem Feind zeigen zu wollen. Harlow fühlte sich wie hingezogen. Kingsley wollte diesmal, dass Harlow ihn findet, er ließ seine Barrieren runter.

Er musste die Chance nutzen. Harlow sprang vom Sofa auf, ignorierte seine schmerzende Seite und griff nach seinem Mantel. Natürlich konnte es auch nur eine Falle sein, der Blonde war sich dem bewusst, doch er kannte Kingsley nur zu gut. Sowas verletzbares wie seine mentalen Wände abzuschwächen, musste einen besonderen Grund haben.

Und vielleicht, nur ganz vielleicht, bahnte sich ein wenig Hoffnung in Harlow an, die ihn dazu trieb, in tiefster Dunkelheit die Schutzzone zu verlassen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top