4. Kapitel

DALENA

Heute ist Markttag.

Dalena wandert unauffällig in der Masse mit und nähert sich hin und wieder einem der Stände, um ein paar Früchte und etwas Brot mitgehen zu lassen.

Seit der Flucht aus dem Untergrundgefängnis sind gerade einmal viereinhalb Wochen vergangen, aber bis jetzt konnte sie sich nur mit größter Mühe über Wasser halten. Sie hat kein Geld, um sich Lebensmittel zu kaufen, und der Umstand, dass sie sich auch noch vor den Wachen verstecken muss, erschwert es ihr zusätzlich, in dieser Stadt zu überleben.

Natürlich wäre sie schon längst von hier fortgegangen, aber als der König von der Massenflucht erfuhr, ließ er alle Tore überwachen und riegelte somit die ganze Hauptstadt ab, wodurch es unmöglich wurde zu entkommen.

Plötzlich rempelt jemand sie von links hinten an und die 15-Jährige verliert für wenige Sekunden die Balance, aber das reicht der kleinen Straßendiebin schon, um Dalena ihr heutiges Mittagsessen aus der Manteltasche zu stibitzen.

Noch bevor sie richtig realisiert hat, wie ihr geschieht, dreht Dalena sich schon um und rennt ihr hinterher, wobei sie immer wieder einzelne Personen zur Seite schubsen muss, um das Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren.

Hinter ihrem Rücken macht sich wegen des Gedrängels Unmut breit, aber sie bekommt es kaum mit, während sie sich immer weiter durch die Straßen arbeitet und Ring um Ring hinter sich lässt.

Irgendwo in den äußeren Zirkeln verschwindet das Kind kurz von der Bildfläche, die Rebellin entdeckt es dann aber gerade, als es hinter einer Ecke verschwindet, und nimmt die Verfolgung wieder auf.

Obwohl sie mehr als einen Monat in Gefangenschaft verbracht hat, hat sich ihre Kondition nur unwesentlich verschlechtert und den Rest hat Dalena in den letzten Tagen wieder aufbauen können, daher ist sie kaum außer Atem und holt schließlich auf, als das Straßenmädchen langsamer wird.

»Du bleibst schön da!«, zischt sie, als sie das davonlaufende Mädchen am Ärmel erwischt und zurückzieht, sodass die Kleine beinahe von den Füßen gerissen worden wäre. »Gibt mir das zurück!«

Das Kind wehrt sich mit Händen, Füßen und Zähnen, kann allerdings nichts gegen den festen Griff der Rebellin ausrichten und gibt betrübt klein bei.

»Her damit!«, befielt Dalena und streckt fordernd die Hand aus, doch das braunhaarige Mädchen, das vollkommen verdreckt vor ihr steht, schüttelt nur den Kopf und macht ein trotziges Gesicht, obwohl ihr die Angst ins Gesicht geschrieben steht.

»Das gehört dir genauso wenig wie mir!«, sagt sie mit kindlichem Ernst und reißt die Augen auf. »Du hast es ja auch gestohlen, also ist es nicht dein Eigentum!«

»Richtig!«, sagt die Größere. »Aber es ist das erste einigermaßen gute Mittagessen seit Tagen, also gib schon her!«

Mit zusammengekniffenen Augen und die Lippen fest aufeinander gepresst, wühlt die Diebin in ihren Taschen und zieht schließlich das bisschen Brot und Früchte hervor, das Dalena nur wenige Minuten zuvor ergattert hat.

»Danke«, meint diese und will sich schon abwenden, doch dann kommt ihr ein Gedanke. »Warum beklaust du Leute? Was sagen deine Eltern dazu, dass du so aussiehst?«

»Meine Eltern sind stolz auf mich!«, betont das Mädchen. »Sie sagen, nur so kann man hier überleben. Niemand aus dem äußersten Bezirk kann mit dem überleben, was der König einem zugesteht. Da muss man ein wenig nachhelfen, sagen meine Eltern. Mein Bruder ist letztes Jahr verhungert.«

Dalenas Miene verdüstert sich. »Wie alt war er?«

Das Mädchen zuckt eingeschüchtert die Schultern. »Weiß nicht. Nicht alt. Drei oder vier Wochen ... Mum konnte ihn nicht ernähren.«

»Wie heißt du?«, will die 15-Jährige schnell wissen, um sich abzulenken und nicht länger über diese schreckliche Information nachdenken zu müssen. »Wie alt bist du?«

Ihre Gegenüber windet sich nun endgültig aus dem Klammergriff und reibt sich den schmerzenden Arm. »Natalie. Ich bin zwölf.«

»Natalie«,wiederholt Dalena und kurz ist es ganz still. »Zeigst du mir, wo du wohnst?«

Das Kind sieht sie mit schräg gelegtem Kopf und recht unentschlossen an. »Mum sagt, ich darf keinen Fremden vertrauen. Sie könnten mich bestehlen ...«

»Na ja, eigentlich bin ja eher ich von dir bestohlen worden als anders herum«, gibt Dalena zu bedenken. »Du kannst mir vertrauen. Hast du Hunger?« Sie weiß, dass es eine Art Bestechung ist, als sie der Kleinen eine Scheibe frisches Brot unter die Nase hält.

Natalie leckt sich die Lippen und starrt sehnsüchtig das Essen an, aber in ihren Augen steht noch immer die Vorsicht, also setzt die Rebellin ein beruhigendes Lächeln auf und drückt ihr das Lockobjekt in die Hand.

»Und jetzt komm«, meint sie leise, »und stell mich deiner Familie vor.«

Und so schlendern sie durch die Gassen – zwei vor Dreck starrende Gestalten in zerlumpten Gewändern. Das größere Mädchen hat dem kleineren, das an einer dünnen Scheibe Brot nagt, lässig den Arm um die Schultern gelegt und wirkt vollkommen entspannt, wäre da nicht der ein oder andere hektische Blick über die Schulter nach hinten gewesen.

Die Kleine gibt ein kompliziertes Klopfzeichen auf dem faserigen, teilweise gesplitterten Holz wieder, das auf Dalena ziemlich lang und durcheinander wirkt.

Aber als das Mädchen schließlich fertig ist, wird augenblicklich die Tür geöffnet – nur einen kleinen Spalt, als würde man nicht wollen, dass irgendjemand in das Innere des Hauses sieht. Oder als hätte man Angst, dass jemand einfach so aus Lust und Laune heraus in die Wohnung stürmt.

Dalena runzelt die Stirn. Eigenartige Welt.

Natalie beobachtet sie abwartend und mit etwas zusammengekniffenen Augen. »Was ist jetzt?«

Mit einem letzten Blick zurück zwängt sich die 15-Jährige durch den Spalt, während sie die kleine Diebin direkt hinter sich spürt. Sie weiß, die nächsten Augenblicke werden Schlüsselmomente sein: Wenn sie sich nicht richtig verhält, werden Natalies Eltern sie im Zweifelsfall vielleicht sogar umbringen. In Notzeiten greifen die Menschen zu den schärfsten Maßnahmen, um sich selbst und ihre Liebsten am Leben zu erhalten.

Deshalb hebt Dalena sofort die Arme, als sie im dahinter liegenden Raum ankommt und vier verschiedene Augenpaare ihr entgegen starren. »Keine Angst, ich bin eine Freundin von Natalie.«

»Das ist sie nicht!«, widerspricht diese sogleich, woraufhin die Rebellin am liebsten ihren Kopf gegen die Wand gedonnert hätte. Diese kleinen Kinder haben einfach noch kein taktisches Verständnis.

»Aber«, setzt Nate wieder an, »sie ist auch keine Feindin. Ich hab sie auf der Straße beklaut, sie hat mich erwischt. Aber sie hat selbst geklaut, also kann sie mich nicht anzeigen. Sie ist genauso wie ich, wie wir.« Das Mädchen grinst ziemlich ruhig und cool in die Runde, dann marschiert sie durch den Raum und lässt sich auf das Sofa fallen.

Dalena wirft einen Blick hinter sich und bemerkt, dass jemand vollkommen lautlos die Tür geschlossen hat. Dieser Fluchtweg ist ihr nun durch einen hoch aufragenden Mann mit recht knochigem Körperbau versperrt, der zwar nicht gerade vor Kraft strotzt, sie aber möglicherweise dennoch überwältigen könnte.

Man könnte meinen, nach so viel Zeit in Gefangenschaft, verbunden mit unheimlichen Qualen, an die sie sich nicht einmal erinnern will, sollten der Rebellin Situationen wie diese hier nicht mehr nahe gehen und sie schon gar nicht in Angst und Schrecken versetzen, aber sie spürt das Adrenalin durch ihre Adern pumpen.

Und sie spürt die Blicke all der Leute im Raum ausschließlich auf sich ruhen. Es ist aus und vorbei mit mir, denkt sie. Aus und vorbei.

In diesem Moment beginnt Natalie – oder Nate, wie sie das Mädchen im Stillen bereits zu nennen begonnen hat – laut zu lachen. »Du müsstest mal dein Gesicht sehen. Du siehst aus, als hättest du gerade einen Geist getroffen.«

»Unbezahlbar«, stimmt die Frau neben ihr zu und ihre Mimik wird ein wenig weicher, aber ein Lächeln erlaubt sie sich nicht. »Wer bist du?«

Dalena überlegt. Auf keinen Fall kann sie zugeben, dass sie aus dem Palast geflohen ist. So schnell könnte sie gar nicht schauen, da würde sie schon wieder auf der Straße landen. »Ich ... Meine Eltern sind beide umgekommen.« Bis jetzt entspricht alles noch der Wahrheit. Noch. »Wir waren nie reich, aber es hat für ein einfaches Leben gereicht. Dann ist mein Vater bei der Arbeit schwer verletzt worden und erlag wenigen Tagen danach seinen Wunden. Und meine Mutter ... Sie ist in dem schrecklichen Sturm vor einigen Monaten von einem umstürzenden Baum erschlagen worden.« Lügen. Alles Lügen. Aber bei ihren Zuhörern löst diese Geschichte Mitleid aus, und genau dieses Gefühl braucht Dalena im Moment, um ihr Leben retten zu können. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Seit Wochen ziehe ich durch die Straßen und versuche, mich über Wasser zu halten, aber ich fühle mich ...« Sie zaubert sich einige Tränen in die Augen, um das Ganze etwas glaubwürdiger zu machen, »so alleine. Ich habe niemanden mehr.«

Eine ganze Weile lang herrscht unangenehme Stille, dann seufzt die Frau, die Dalena mittlerweile als Natalies Mutter identifiziert hat, und steht auf. »Wie heißt du?«

»Ich heiße – Lena. Lena Doham.« So hat ihre Mutter sie früher genannt, bevor sie von den Flammen verschluckt wurde, die von Bomben gesät worden waren.

»Na dann komm mal mit. Und du auch, Natalie. Schauen wir mal, dass wir euch beide wieder einigermaßen sauber bekommen.«

Sie führt die beiden Kinder durch einen schmalen Gang zu einem winzig kleinen Bad, in das sie Natalie schickt, dann bedeutet sie der Rebellin, in den angrenzenden Raum zu gehen. »Natalie wird dir sagen, wann du ins Badezimmer kannst.«

Dalena will gerade an ihr vorbei in das kleine Zimmer gehen, als sie von der Frau am Oberarm festgehalten wird. »Lass mich diese Entscheidung nicht bereuen, hörst du? Wenn du meine Familie auch nur ansatzweise in Gefahr bringst, dann werde ich dich töten. Glaub nicht, dass ich das nicht tun werde. Das werde ich.«

Vielleicht hätte diese Aussage sie schocken sollen, aber Dalena nickt nur einmal ohne Zögern und marschiert an ihr vorbei ins Zimmer. Die Mutter hält sie nicht noch einmal auf.

* * *

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