1. Kapitel
1. TEIL
Die Highshifts
Ich habe das Gefühl, langsam durchzudrehen.
Manchmal wache ich nachts auf und höre Schreie, bis ich erkenne, dass es meine eigenen sind. Manchmal sehe ich Dinge in meinen Träumen, die mich wünschen lassen, wieder in die Realität zurückzukehren. Und die Wirklichkeit ist auch nicht gerade das Paradies.
Träume können grausam sein. Menschen auch.
»Ean, bitte!«, flehe ich in vollem Bewusstsein, gerade seinen wahren Namen verwendet zu haben. Ich weiß, es ist unfair ihm gegenüber, auf diese Weise Druck auf ihn auszuüben, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Vielleicht braucht er diese kleine Erinnerung daran, dass ich etwas über ihn weiß, von dem er will, dass niemand anderes es erfährt.
»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nichts tun kann?«, stößt er hervor und legt ein weiteres Blatt auf den Stapel rechts neben sich. »Ich kann nichts tun, Gwendolyn.«
»Du versuchst es ja noch nicht einmal.« Meine Stimme zittert und wieder treten mir Tränen in die Augen. »Du unternimmst nichts. Das ist das Problem. Obwohl du etwas tun könntest, sitzt du nur hier und erledigst Papierkram.«
Endlich blickt er auf und konzentriert sich vollkommen auf mich.
»Hör mir zu, Gwen. Ich weiß, er bedeutet dir viel. Verdammt nochmal, er war einer unserer besten Rekruten, aber ...«
»Sag nicht ›war‹«, flüstere ich und wische mir eine Tränenspur von der Wange.
»Was?«
Ich wiederhole es: »Sag nicht ›war‹. Noch ist er nicht tot. Aber so siehst du ihn, oder? Für dich ist Rae bereits gestorben.« Einen Moment lang weiß ich nicht mehr weiter, weil diese Erkenntnis zu überwältigend schmerzhaft für mich ist. »Aber das ist er nicht. Ich war auch einmal des Königs Versuchskaninchen und Folterliebling. Und ich habe überlebt, ich stehe genau vor dir, auch wenn ich beinahe daran zerbrochen wäre. Wer weiß, was das bei Rae anstellt. Wenn man mich schon nach wenigen Tagen so sehr kaputt gemacht hat, was ist dann mit ihm nach diesen drei Wochen los?«
»Was, Gwen? Was soll ich deiner Meinung nach tun?« Ethan King alias Ean, ehemaliger Thronfolger, derzeitiger Anführer der Rebellen, lässt seinen Stift für meinen Geschmack etwas zu laut auf den Tisch fallen.
»Du hast Spione innerhalb der Mauern. Nutze sie!«, fordere ich ihn auf.
»Und du weißt genau, dass ich das nicht tun kann. Diese Leute sind wichtig und verdammt schwer einzuschleusen. Ich kann nicht riskieren, einen von ihnen bei einer Rettungsaktion zu verlieren, die nicht den Ansatz einer Chance hat.«
»Ich verlange nicht, dass sie ihn befreien«, meine ich mit geballten Fäusten, »ich will wissen, wo er sich aufhält und wie es ihm geht. Ich will Informationen.«
»Was willst du denn damit, wenn wir ihn nicht befreien können?«
»Ihr sollt ihn ja auch gar nicht befreien. Ich werde das übernehmen.«
Eine Weile lang sieht er mich ausdruckslos an, als erwarte er irgendeine Reaktion, einen Rückzug, doch ich stehe hoch aufgerichtet da und warte auf seine Antwort.
Ethan stößt ein kleines, herablassendes Lachen aus. »Das ist nicht dein Ernst, Gwen.«
»Und ob es das ist, und warum auch nicht? Ich kenne mich besser als die meisten im Palast und am Hofe aus, ich habe Freunde, die mir helfen können. Wenn es jemand schaffen kann, dann ja wohl ich. Ich ...«
»Nein«, unterbricht Ethan mit resolut.
»Aber wenn ich erst einmal seinen Aufenthaltsort kenne, dann ...«
»Ich sagte nein, Gwen. Auf gar keinen Fall.« Plötzlich scheint dem Rebellenanführer nicht mehr so sehr nach Lachen zumute zu sein.
»Warum denn nicht?«, rege ich mich auf. »Was spricht dagegen?«
Er verdreht genervt über meine scheinbare Dummheit die Augen. »So ziemlich alles, Gwen. Du bist viel zu wichtig für diese Mission, als dass ich dich aufrecht in den bitteren Tod rennen lasse. Dieses Unternehmen wird nicht stattfinden, hast du mich verstanden?«
Ich verspüre das dringende Gefühl, auf etwas einzuschlagen –irgendetwas. »Es ist mein verdammtes Leben, Ethan, nicht deines. Du kennst mich, ich werde einen Weg finden, mit oder ohne deine Hilfe. Selbst wenn du mich fesselst und einsperrst, ich finde einen Weg, dem zu entfliehen.«
Er sieht aus, als könnte er jede Sekunde in die Luft gehen, aber stattdessen setzt er sich wieder auf seinen Bürostuhl und legt den Kopf in den Nacken, dann atmet er tief ein und aus. »Du bist die nervigste Person, die auf dieser Erde wandelt, und mir ist schleierhaft, wie ich eine solche Person nicht freiwillig ziehen lasse, was mir eine Menge Sorgen ersparen würde. Aber das Universum ist und bleibt ein Rätsel.«
Hoffnung keimt in mir auf. »Ist das ein Ja? Bitte sag mir, dass das ein Ja ist!«
Er legt einen Arm über seine Augen und plötzlich fällt mir auf, wie sehr er in den letzten paar Wochen, seit ich zum letzten Mal wirklich mit ihm geredet habe, gealtert ist.
»Ich werde schauen, was sich machen lässt. Aber Gwen – bitte mach dir nicht zu viele Hoffnungen, du musst verstehen, dass ich nicht für eine einzelne Person alles aufs Spiel setzen kann. Dafür ... dafür ist er ... ach vergiss es.«
Mir ist durchaus bewusst, was er sagen wollte: Dafür ist Rae nicht wichtig genug. Aber im Moment ist mir egal, was er sagen wollte. Ich bin einen Schritt näher dran, meinen besten Freund wiederzubekommen, und da ist keine Zeit für kleine nervtötende Details.
Das Traurige an Ethans Aussage ist, dass ich genau weiß, wie er bei mir reagiert hätte: Ohne zu zögern hätte er Leute geschickt, die mich befreit hätten. Weil ich in seinen Augen wertvoll bin, zumindest wertvoller als Rae. Die Gabe, die mich außerhalb dieser Stadt zu einer Vogelfreien macht, macht mich hier drinnen zu einer Göttin.
Ich finde diese Art zu denken falsch, weil es genau wie bei der Monarchie ist. Ethan sieht manche Leute als wichtiger an als andere, genauso wie der König seine adeligen Kumpanen als wichtiger einstuft als den Rest der Bevölkerung.
Manchmal denke ich, dieser ganze Krieg ist komplett umsonst, weil die Menschen nicht aus ihren Fehlern lernen, aber dennoch höre ich nicht auf zu kämpfen. Denn nichtsdestotrotz stirbt die Hoffnung nun einmal zuletzt.
Fast vier Wochen ist es her, dass ich aus der Hauptstadt Breonias geflohen bin. Meine Unterhaltung mit Ean liegt eine Woche zurück und ich bin noch immer überrascht, wie schnell meine Familie und ich uns hier eingelebt haben. Es ist anders als früher, das Leben in rauen Verhältnissen, aber es hat einen einzigartigen Charme. Nun atme ich nicht mehr den Gestank der Unterdrückung, sondern den reinen Duft der Freiheit ein.
»Du willst bitte was machen?!«, fragt Silvy mich entgeistert und das erinnert mich sofort wieder an Rae, sein erschrockener Gesichtsausdruck, als ich ihm sagte, ich würde in den Palast gehen, weil meine Mum mich als Sklavin verkauft hat. »Gwen, das kannst du nicht machen, das kommt einem Himmelfahrtskommando gleich.«
»Ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen. Und das werde ich auch nicht«, meine ich entschlossen und starre stur geradeaus.
»Du bist komplett verrückt, Gwendolyn Lansing.«
»Danke«, entgegne ich kurz angebunden, »in diesem Fall sehe ich das als Kompliment.« Ich drehe mich ein wenig in ihre Richtung, als wir vor dem Eingang zur Küche anhalten. Während ich sie von oben bis unten mustere, frage ich mich einmal mehr, weshalb ich nie auf den Gedanken gekommen bin, dass sie zu den Rebellen gehören könnte. Immerhin wusste sie es oft, wenn man einen Beschenkten gefunden hat. Aber dennoch ...
Weil du zu diesem Zeitpunkt noch gedacht hast, Rebellen wären ein Mythos, das Hirngespinst irgendeines Verrückten, der den Traum von einer bessern Welt hat, denke ich im Stillen und unterdrücke ein Lächeln. Zum Glück hatte ich Unrecht, sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot.
Ihr langer Pony fällt Silvy in die Augen, während der Rest ihres schwarzen Haars ihr Gesicht umschmeichelt. Kaum zu glauben, dass sie nicht viel älter ist als ich. Früher habe ich sie immer schon als erwachsen erachtet – was sie genau genommen mit ihren achtzehn Jahren schon ist – aber nun merke ich, dass kaum ein Unterschied zwischen uns besteht. Zumindest kein größerer Unterschied als das halbe Jahr, das uns trennt.
Silvy verengt ihre Augen und sieht mich fragend an. Ich schüttle die letzten Gedanken ab und öffne die metallene Schwingtür nach außen, dann lasse ich sie eintreten. Hinter mir schwingt die Tür wieder zu und ich gehe schnell einen Schritt vor, um das Metall nicht in den Rücken zu bekommen.
»Was hast du jetzt eigentlich vor? Musst du wieder meditieren?« Ich höre ihre Stimme an, wie affig sie diese Vorstellung findet. Um ehrlich zu sein, insgeheim bin ich selbst lange der Meinung gewesen, dass dieses Herumsitzen und Nichtstun rein gar nichts bewirkt außer Langeweile, aber nach meiner letzten Vision kann ich das nicht mehr so ganz glauben. Immerhin könnte es sein, dass die Meditation die Vision von Raes Tod heraufbeschworen hat. So bin ich immerhin vorgewarnt und kann versuchen, das zu verhindern.
»Ja, ich werde wohl bald gehen«, antworte ich und erinnere mich an meine Diskussion mit Ean, der wollte, dass ich jeden Tag eine volle Stunde damit zubringe, in diesem Raum zu sitzen. Schließlich haben wir uns auf drei Mal pro Woche geeinigt.
»Gut«, meint Silvy. »Ich muss jetzt in die Küche. Und in wenigen Stunden kommt der Transporter, der mich zurück in die Stadt bringt.«
Sie muss wieder auf ihren Posten als Übermittlerin und Spionin der Rebellen, nachdem sie meine Familie und mich wohlbehalten hier abgeladen hat. Ich vermisse sie schon jetzt, obwohl sie noch nicht einmal weg ist. Silvy ist die einzige wirkliche Freundin, die ich hier habe, die anderen zollen mir lediglich Respekt für das, was ich getan habe und was ich kann.
»Also schön. Wir sehen uns nachher bestimmt nochmal«, meint sie und marschiert in Richtung Küche weiter, während ich nach einiger Überlegung in den RTD-Raum gehe, der abends meist immer brechendvoll ist, wohingegen jetzt keine einzige Person anzutreffen ist, weil ich so ziemlich als Einzige nichts zu tun habe.
Ich nehme mir den dünnen, flachen und durchsichtigen Controller vom Tisch und schalte auf den Nachrichtensender, in dem gerade ein Moderator auf die neuesten Ereignisse zu sprechen kommt.
»...aussieht, wird der Prinz vorerst seinen Anspruch auf den Thron nicht geltend machen. Er äußerte sich mit folgenden Worten dazu.« Ein Video von Kaden, umringt von Reportern, wird eingeblendet, und er erklärt, dass er noch viel zu lernen habe, bevor er sich in der Lage fühle, ein Königreich zu regieren.
Kaden: »Es war nie vorgesehen, dass ich der Thronerbe sein würde, daher war meine Ausbildung, was das Regieren betrifft, nie so ausführlich wie bei Raffael oder gar Ean. Seit dem Tod meines Bruders widme ich mich sehr gründlich den königlichen Studien der letzten 300 Jahre, um mir das Wissen anzueignen, durch das ich hoffentlich fähig werde, gerecht zu herrschen. So lange wird mein Vater auf dem Thron verweilen.«
Das Bild wird kurz schwarz, bevor wieder der Moderator auftaucht. »Des Weiteren gibt es zu berichten, dass der Kronprinz vor nur wenigen Minuten um die Hand der adeligen Suzanne Shriver ...«
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Ich weiß, bööööses Ende. Wer kann erraten, wie der Satz endet?
Soll ich euch mal was verraten? Die Idee zu dieser im nächsten Kapitel folgenden Szene hatte ich seit der Mitte des ersten Bandes. Wahrscheinlich erinnert sich niemand mehr daran, aber es gab ca. in der Mitte des 1. Bandes eine kleine Szene: Eine Frau wandert durch die Flure des Palasts, Kaden versteckt sich vor ihr und verspricht Gwen, ihr später alles zu erklären. Was er nie getan hat. Ich bin ja jemand, der es hasst, wenn Autoren einfach vergessen, solche Details später nochmals aufzugreifen. Ich habe es jedenfalls nicht vergessen, allerdings wollte ich in weiser Voraussicht damit warten, das Geheimnis zu lüften: Also darf ich vorstellen? Die geheimnisvolle Frau, Suzanne Shriver. Ihr werdet sie lieben (oder hassen😅) lernen...
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