Kapitel 1

Caitlyn

Der weiße Mercedes CLS 500 bremst auf dem winzigen, leeren Parkplatz der Houghton High School ab und meine Mom, Geraldine Sinclair, stellt den Motor ihres heißgeliebten Wagens ab und drückt mir einen Kuss auf die Wange. 

,,Viel Spaß, Schätzchen", sagt sie lächelnd zu mir und tätschelt meine Schulter. ,,Ruf mich an, falls es Probleme geben sollte, oder wenn ich dich abholen soll. In Ordnung, Caitlyn?". ,,Okay, Mom", antworte ich ihr, lächel zurück und nehme meinen schwarzen Michael Kors Rucksack, welcher mit etlichen Schulbüchern vollgestopft ist, von der Rückbank und öffne die Autotür, um aus zusteigen.

Ich schließe die Beifahrertür des Autos und winke meiner Mutter zum Abschied noch einmal zu, bevor sie den Motor startet und den Parkplatz verlässt.

Kurz streiche ich meine Jeans und mein beigefarbenes Crop Top glatt und werfe mir den Rucksack über die Schulter. Dann werfe ich einen kurzen Blick auf meine rosegoldene Armbanduhr, welche genau halb sieben zeigt.

Die Direktorin der Houghton High School bat mich, vor Unterrichtsbeginn zu erscheinen, damit genug Zeit bleibt, um einige Papiere auszufüllen, das Gebäude zu besichtigen und einige Fragen zu stellen.

Einen Moment lang beäuge ich das Gebäude, welches in einem blassen, gelblichen Ton gestrichen ist und direkt im Licht der aufgehenden Sonne steht. Trotz dass das Schulgebäude von Sonnenlicht umhüllt wird, vermittelt es mir ein tristes Gefühl, welches mich schaudern lässt.

Ich atme die warme Mai Luft tief ein. ,,In Ordnung, Caity, du packst das", sage ich mir selbst, um mir Mut zu machen und dann gehe ich auf die gläserne Eingangstür der Houghton High zu, in der mich Mrs. Young, die Schuldirektorin, erwartet, um mich auf meiner neuen Schule willkommen zu heißen und mich mit dem Gebäude, den Regeln und dem Stundenplan bekannt zu machen.

Langsam öffne ich die schwere Eingangstür und beim Betreten der Schule kommt mir der Geruch von frischer Wandfarbe entgegen. 

Anscheinend hat man sich um einen neuen Anstrich der Schulwände gekümmert und die Außenwände des Gebäudes dabei außer Acht gelassen, denke ich mir und sehe mich in dem Eingangsbereich um, welcher größer ist, als ich erwartete.

,,Caitlyn?", höre ich eine feine, weibliche Stimme meinen Namen sagen und ich drehe mich in die Richtung, aus der sie kommt. 

,,Caitlyn Sinclair?", fragt eine große, schlanke Frau im Bleistiftrock und Bluse und mustert mich. 

,,Ja, richtig. Sind Sie Mrs. Young?", frage ich die blonde Frau zurück, woraufhin sie zu lächeln anfängt und mir ihre knochige Hand hinhält, um mich zu begrüßen.

,,Genau, ich bin Mrs. Young, die Direktorin dieser entzückenden Schule", stellt sie sich vor und schüttelt meine Hand sanft und ich lächle zurück. Entzückend?

Mrs. Young bittet mich, ihr in ihr Büro zu folgen, da noch einige Formalitäten ausstehen würden.

Auf dem Weg zu ihrem besagten Büro zeigt mir die Direktorin einige Unterrichtsräume, welche sich jeweils rechts und links von dem Hauptflur befinden, der sich vom Eingangsbereich bis zum anderen Ende des Gebäudes zieht.

,,Nach Ihnen", sagt Mrs. Young und bedeutet mir mit einer einladenden Handbewegung ihr Büro zu betreten und mich auf einen der weißen Ledersessel gegenüber ihres Mahagoni Schreibtisches zu setzen.

Ich lege meinen Kors Rucksack auf den zweiten Sessel neben mir ab und beobachte die Direktorin, welche in den Schubladen ihres Tisches nach Papieren wühlt und diese nach einer Weile auf das glatte, dunkle Holz legt.

Circa 15 Minuten lang sitzen wir in dem hell gestrichenen Büro und bearbeiten jede einzelne Frage und auszufüllende Lücke der Papiere, welche als Aufnahmebestätigung an der Houghton High dienen.

Während Mrs. Young die Papiere überprüft, um sicherzustellen, dass nichts vergessen wurde, starre ich die rote Uhr an der mir gegenüberliegenden Wand an und verfolge den Sekundenzeiger mit meinen Augen.

Oh Gott, in knapp einer Stunde beginnt der Unterricht, denke ich und fange langsam an, nervös zu werden.

Allgemein hatte ich nie ein Problem damit, Menschen kennen zu lernen, doch dieses Jahr ist das anders. Dieses Jahr ist alles anders, dieses Jahr ist alles verrückt und verwirrend.

In diesem Jahr machte mein Vater, Anthony Sinclair, einen schwerwiegenden Fehler in seinem Beruf, der mir und meiner Familie beinahe den Wohlstand kostete und uns dazu zwang, New York City, all unsere Freunde und Bekannte und unsere Familie zu verlassen.

Natürlich macht jeder Mensch Fehler, dessen bin ich mir bewusst. Fehler zu machen ist menschlich und alltäglich. So viele Menschen machen jeden Tag einen Fehler während der Arbeit. 

Wenn ein Immobilienmakler einen Fehler macht, dann verliert er an Profit. Wenn ein Konditor einen Fehler macht, dann verliert er an Profit. Doch wenn ein Chirurg einen Fehler macht, führt dies zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod.

Anthony Sinclair, mein Vater und ehemals sehr angesehener Schönheitschirurg in New York City, machte einen Fehler. Dieser führte zu dem Tod einer Patientin, welche meinen Vater dafür bezahlte, eine Brustvergrößerung an ihr vorzunehmen. Ein eigentlich täglicher Eingriff für einen Schönheitschirurgen, doch bei dieser Patientin machte er einen tödlichen Fehler.

Und ich als Teenager weiß, dass sich solche News schneller verbreiten als ein Lauffeuer. 

Deswegen habe ich Angst davor, meine neuen Mitschüler und Mitschülerinnen kennen zu lernen. Denn ich bin nicht nur Caitlyn Sinclair, die Tochter einer erfolgreichen Staatsanwältin und eines ehemals angesehenen Plastischenchirurgen. 

Dieses Jahr bin ich die Tochter eines Mörders.

,,Ms. Sinclair?", reißt mich die Stimme meiner neuen Direktorin aus meinen Gedanken und ich wende meinen Blick ab von dem Sekundenzeiger der Uhr und schaue Mrs. Young in ihre smaragdgrünen Augen.

,,Entschuldigung, Mrs. Young, was haben Sie gesagt?", frage ich peinlich berührt nach und lächle entschuldigend. 

,,Ich wollte wissen, ob es Ihnen vielleicht lieber wäre, wenn eine Schülerin aus einer Ihrer Kurse Sie durch die Schule führen würde. In den Pausen natürlich", wiederholt sie sich freundlich und heftet die eben ausgefüllten Papiere in einen schwarzen Hefter, auf dem in großen Druckbuchstaben 'SINCLAIR, CAITLYN' steht.

,,Das ist eine großartige Idee", antworte ich ihr und lächle weiterhin.

Wer will schon die Tochter eines Mörders herumführen?, frage ich mich und meine Angst vor der Begegnung mit meinen neuen Mitschülern wächst um so mehr.

Mrs. Young erhebt sich von ihrem teuer aussehenden Schreibtischstuhl und ich tue es ihr gleich.

Sie reicht mir einen Zettel, auf dem sich mein Stundenplan befindet. Ich nehme ihn entgegen und überfliege ihn flüchtig. ,,Ich habe die Namen der Lehrer und die Raumnummern dazu geschrieben", sagt sie und wieder ein mal lächelt sie mich überfreundlich an.

Mich erschleicht das Gefühl, dass sie versucht, super freundlich zu mir zu sein, weil sie Mitleid mit mir hat und Mitleid ist das Letzte, das ich jetzt gebrauchen könnte.

,,Dankesehr", antworte ich ihr und nehme meinen Rucksack von dem Ledersessel, um ihn wieder aufzusetzen.

Mrs. Young begleitet mich zur Tür, welche mich wieder in den Hauptflur des Gebäudes führt. ,,Sobald der Unterricht beginnt, werde ich eine Schülerin aus dem ersten Kurs, den Sie heute haben, ausrufen lassen und sie bitten, Sie herumzuführen und Sie mit einigen Mitschülern bekannt zu machen", meint sie und schüttelt meine Hand, um sich zu verabschieden.

,,Ihr erster Kurs ist Mathematik. Schauen Sie auf Ihren Stundenplan, dann wissen Sie, wer Sie unterrichten wird und wo sich der Raum befindet. Einen schönen ersten Tag, wünsche ich", sagt sie noch und verschwindet kurz darauf in ihrem Büro.

Schön wird er sicher nicht, denke ich und schaue auf meine Armbanduhr von Paul Hewitt.

,,Mir bleiben noch 15 Minuten, bis der Unterricht beginnt", murmle ich und schaue auf den Stundenplan, den ich von Mrs. Young erhalten habe.

Mathematik, Mr. Moose, R13, steht unter der ersten Stunde am Montag. 

,,Die Räume eins bis zehn befinden sich im Erdgeschoss, zehn bis zwanzig sind im ersten Stock, im zweiten Stock finde ich die Wissenschaftsräume und im dritten Stock die AG-Räume für zum Beispiel Musik und Hauswirtschaft", wiederhole ich die Gebäudebeschreibung, welche ich auf dem Weg zum Büro erklärt bekam.

Mit schnellen Schritten gehe ich den langen, orange gestrichenen Flur entlang, um zur Treppe zu gelangen, die in das zweite Stockwerk der High School führt.

Nach wenigen Minuten komme ich vor der Tür des Raumes dreizehn an, der noch abgeschlossen zu sein scheint. 

Gerade, als ich wieder einen Blick auf meine Uhr werfen will, klingelt die schrille Schulglocke der Houghton High School und ich höre, wie die schwere, gläserne Eingangstür des Gebäudes aufgeht.

Die Stille, die vorher in dem Gebäude herrschte, wird von jugendlichen Stimmen und Gelächter verdrängt und meine Nervosität steigt ins Unermessliche.

Nervös wippe ich auf meinen Füßen hin- und her und kaum erreichen meine neuen Mitschüler den zweiten Stock, bleiben einige von ihnen ruckartig stehen und starren mich an, als wäre ich ein Alien von einem anderen Planeten.

,,Das ist die Tochter von Anthony Sinclair", höre ich einige flüstern.

,,Die Tochter des New Yorker Chirurgen", flüstert jemand.

,,Die Mörderstochter",flüstert ein anderer.

Und in diesem Moment wünschte ich, ich wäre heute Morgen nicht aus meinem Himmelbett aufgestanden und in den Mercedes meiner Mutter gestiegen. In diesem Moment wünschte ich, ich hätte mich gegen meine Eltern und für ein Internat ganz, ganz weit weg entschieden.

Ich fühle, wie mir die Hitze in den Kopf steigt und meine Wangen langsam rot werden.

Immer mehr Schüler tummeln sich um mich herum und ich traue mich kaum, mich richtig um zusehen, also starre ich einfach auf den Vinyl Boden, der im gesamten Gebäude ausgelegt ist.

,,Eine Schülerin aus dem Mathematikkurs von Mr. Moose bitte ins Sekretariat", übertont eine Ansage der Sekretärin das Geflüster und für einen kurzen Moment dachte ich, sie würden aufhören, zu tuscheln.

Doch nicht ein mal Mr. Moose, der soeben den Flur betritt, scheint sie davon abzuhalten, sich die Mäuler über mich zu zerreißen.

Der Mathelehrer schließt die Tür zu dem Raum auf, vor dem ich und die Klatschtanten stehen, und tritt ein.

Alle Blicke ruhen auf mir. Als würden sie erwarten, dass ich ausflippe und um mich schlage. Niemand von ihnen macht den Anschein, das Klassenzimmer zu betreten. Niemand außer einem.

Ein großer, gut gebauter Junge mit schwarzen, zerzausten Haaren und einem ziemlich außergewöhnlichen Kleidungsstil stürmt geradezu in das Klassenzimmer und setzt sich an einen Tisch.

Ich kann nicht anders, als ihm hinterher zu schauen und ihn zu mustern. So wie es aussieht, ist er überhaupt gar nicht daran interessiert, mich zu beleidigen oder sich den Klatschtanten anzuschließen.

Gerade, als ich mich dazu aufraffen konnte, einfach ins Klassenzimmer zu gehen, höre ich eine weiche Stimme meinen Namen rufen: ,,Caitlyn? Caitlyn?", ruft ein Mädchen aus der Menge und als sie es geschafft hat, sich durch das Dickicht von flüsternden Teenagern zu kämpfen, lächelt mich ein Mädchen mit braunen, lockigen Haaren und rosa Strähnen an und hakt sich bei mir ein.

,,Hi, ich bin Tony. Mrs. Young will, dass ich dich später herumführe und dich den ganzen Tag begleite", sagt sie aufgeregt und zerrt mich in das gelb gestrichene Klassenzimmer, wo sie für uns beide entscheidet, dass wir besser hinten sitzen sollten.

,,Lass dich von den Aßgeiern nicht einschüchtern", sagt sie leise zu mir, als wir uns setzen und sich mein persönlicher Mob auch dazu entschließt, sich auf ihre Plätze zu begeben.

,,Wenn das nur so einfach wäre", antworte ich ganz leise und sie nickt mit einem verständnisvollen Blick.

Mr. Moose, der gerade ein Mathebuch aus seiner klischeehaften Lehrertasche nimmt, räuspert sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Endlich hören sie auf zu flüstern.

,,Guten Morgen, alle zusammen", sagt Mr. Moose mit heiserer Stimme und die gesamte Klasse antwortet: ,,Guten Morgen, Mr. Moose". Nach der Begrüßung mustert er jeden einzelnen Schüler und schlägt dann sein Mathebuch auf.

Alle Schüler, außer mich. Und um ehrlich zu sein, bin ich ihm dafür sehr dankbar. 

Und während der Mathelehrer etliche Formeln an die Tafel schreibt, kann ich nicht aufhören mich zu fragen, welche Gerüchte schon an meinem ersten Tag an der Houghton High School über mich kursieren und was mich noch erwartet.

,,Hey, mach dir keinen Kopf", flüstert Tony mir zu, während sie die Aufgaben von der Tafel in ihren karierten Collegeblock überträgt und mit ihrem pinken Taschenrechner versucht, diese zu lösen.

Ich zucke mit den Schultern und krame meinen Taschenrechner und meinen Collegeblock aus meinem Rucksack, um die Formeln und Aufgaben ebenfalls zu übertragen und diese zu lösen.

Mathematik gehörte nie zu meinen Lieblingsfächern, aber dennoch war ich schon immer gut darin, mathematische Aufgaben schnell zu lösen.

Während die meisten Schüler noch mit den Aufgaben beschäftigt sind, habe ich diese schon nach einigen Minuten gelöst und starre wie zuvor im Büro der Direktorin auf die Uhr und hoffe, dass die Zeit schnell vergeht.

Aber wie man immer so schön sagt, vergeht die Zeit viel langsamer, wenn man darauf wartet, dass sie schnell vergeht.

,,Alles klar, kann mir jemand die Ergebnisse der ersten drei Aufgaben nennen?", höre ich Mr. Moose die Klasse fragen und einzelne Hände erheben sich.

,,Das ist korrekt, Danielle", sagt er zu einer der Schülerinnen, die alle drei Ergebnisse richtig gelöst hat. 

,,Natürlich ist das korrekt", sagt Danielle selbstsicher und mit hörbarer Arroganz in der Stimme, woraufhin ich nicht anders kann, als meine Augen zu verdrehen.

,,Danielle Bishop", sagt Tony leise, ,,Kapitänin der Houghton Vixens und ein arrogantes Miststück", beendet sie ihren Satz flüsternd und zu mir herüber gelehnt. 

,,Vixens? Ihr habt einen Cheerleader Verein?", frage ich sie und sie nickt daraufhin. ,,Aber vergiss es wieder, sie nimmt nur diejenigen auf, die bereit sind, sich ihr zu unterwerfen", antwortet Tony mit angewidertem Ton. 

Mr. Moose bespricht weitere Aufgaben, doch ich kann ihm nicht zuhören, denn mich überkommt dieses dumpfe Gefühl, dass Danielle noch ein großes Problem werden könnte.

Die schrille Schulglocke ertönt und alle Schüler packen zusammen und verlassen in Scharen und tuschelnd das Klassenzimmer.

Auch der schwarzhaarige Junge verlässt mit schnellen Schritten den Raum und wieder fühle ich mich gezwungen, ihm hinterher zu sehen.

,,Was steht als nächstes auf deinem Stundenplan?", möchte Tony wissen während wir unsere Schulmaterialien in unseren Rucksäcken verstauen und ebenfalls den Raum verlassen.

,,Englisch bei Mrs. Miller", beantworte ich ihre Frage und sie fängt an breit zu grinsen. ,,Was ein Zufall. Da muss ich jetzt auch hin", sagt sie wieder mit aufgeregter Stimme und hakt sich aufs Neue bei mir ein.

Auf dem Weg zum Raum sechzehn, in dem der heutige Englischunterricht stattfindet, erzählt Tony mir, dass sie in ihrer Vergangenheit auch mit Gerüchten und Tratschtanten zu kämpfen hatte, weil sie sich gern hin und wieder die Haare in auffälligen Farben färben würde.

,,Ich verstehe nicht, warum das für Außenstehende so interessant ist", sage ich zu ihr, kurz bevor wir ins Klassenzimmer gehen.

,,Das interessiert nur diejenigen, dessen Leben langweiliger ist, als das der anderen", gibt sie zurück und damit mag sie Recht haben.

Auch in Englisch sitzen wir in der letzten Reihe und erst, als Mrs. Miller um Ruhe bittet, hört das Flüstern wieder auf.





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