1 | Mr Walters

„Dein Chef ist echt heiß." Ich rolle mit den Augen und nehme den zuckerfreien Mandelmilch-Latte und das glutenfreie Müsli-Brötchen entgegen, das mir die Bedienung und gleichzeitig gute Freundin Michelle über den Tresen reicht.

„Du musst ja auch nicht ständig irgendwelche Botengänge für Mr Super-Macho erledigen", entgegne ich und krame meine firmeneigene Kreditkarte aus meiner Manteltasche. Umständlich, weil mir zwei Kleidungsstücke aus der Reinigung über dem Arm hängen und ich mit der anderen Hand versuche, das Paket von der Post zu balancieren, ziehe ich die Karte über das Lesegerät.

„Mal abgesehen davon, dass du für ihn arbeitest, Dan", meint Michelle und legt mir einen Gratis-Apfel-Zimt-Donut auf den Kaffeebecher, den ich gerade so noch halten kann, „musst du schon zugeben, dass Gary Grant ein Traum von einem Mann ist! Er ist groß, hat schneeweiße Zähne, ein charmantes Lächeln und riecht verführerisch, wie dunkle Kaffeebohnen. Und ich wette, untenrum ist er sicherlich auch gut..." „Okay, es reicht", sage ich und lasse mir von Michelle meine Karte wieder in die Manteltasche zurückstecken. „Wenn du weiterredest, bekomme ich das Bild von meinem Chef und seinem besten Stück bestimmt nicht wieder aus dem Kopf!"

Nicht, dass ich schon mehr als einmal daran gedacht hätte, aber wenn ich ihm in zehn Minuten über den Weg laufen werde, möchte ich höchst ungern seinen vermutlichen Superschwengel vor Augen haben.

„Außerdem solltest du nicht so oberflächlich und klischeehaft sein", tadele ich meine Freundin, obwohl ich selbst nicht besser bin. „Nicht alle Dunkelhäutigen haben einen großen..." „Kaffee? Möchtest du noch einen Kaffee?", fragt Michelle lauter als nötig, als plötzlich ihr Chef durch die Tür kommt und sie anlächelt. Ich weiß, sie steht auf ihn. Und er wohl auch auf sie. Anders als bei mir und Mr. Grant, der kaum Notiz von mir nimmt und sich anderweitig amüsiert.

Dass Michelle ihren Chef noch immer nicht nach einem Date gefragt hat, liegt wohl an ihrer persönlichen Firmen-Policy: „Never fuck the Company". Nichtsdestotrotz versucht sie immer wieder mir meinen Boss schmackhaft zu machen. Muss man nicht verstehen.

Nachdem ich mich von Michelle verabschiedet und es tatsächlich geschafft habe, all meine Besorgungen ohne großen Zwischenfall erst durch den einsetzenden Schnee vor der Tür und dann in die Chef-Etage im 19. Stock zu bringen, stelle ich den Kaffee und das Müsli-Brötchen auf den Schreibtisch und hänge das Sakko und die Hose aus der Reinigung auf den dafür vorgesehenen Ständer. Gerade will ich mir den lecker duftenden Donut, der noch auf dem Kaffeebecher liegt, schnappen, als auch schon mein Boss zur Tür hereinkommt. Er trägt wie so oft einen teuren Designer-Anzug und schaut auf seine ebenso hochwertige Uhr, weil er wie immer in Eile ist.

Er registriert mich schweigend und lässt sich das Paket geben, das ich mitgebracht habe. Dann greift er nach dem Donut, der auf dem Kaffeebecher liegt, und wirft ihn angewidert in den Papierkorb. „Dolores weiß doch genau, dass ich gerade streng Diät halte", tadelt er mit tiefer Stimme und ich bin zu sehr von ihm eingeschüchtert, als dass ich ihm sagen würde, dass er gerade meinen Donut im Papierkorb versenkt hat. Ob man den wohl noch essen kann?

„Walters, ich möchte, dass Sie jetzt nach Hause fahren und sich für den weihnachtlichen Wohltätigkeitsball umziehen. Sie kommen heute Abend mit mir", sagt er mit einer Ruhe, die mich aufhorchen lässt. „Entschuldigen Sie, Sir, habe ich gerade richtig gehört? Sie möchten, dass ich heute Abend bei dem Ball aushelfe?"

„Nein, Walters, sie sollen nicht aushelfen. Sie sollen mit mir dahin gehen. Meine Begleitung ist spontan abgesprungen und ich kann als Veranstalter dieses Balls ja schlecht allein dort auftauchen. Und da mir so spontan keine andere Möglichkeit einfällt, habe ich Sie ausgewählt."

Mein Herz klopft plötzlich wild, doch ihm scheint das egal zu sein. In drei Zügen hat er seinen Kaffee ausgetrunken und mit der anderen Hand nebenbei das Paket geöffnet. „Sir, ich verstehe nicht", gebe ich zu, da ich mir nicht vorstellen kann, dass der fast zwei Meter große und ziemlich breit gebaute, ehemaliger Supersportler ausgerechnet mit seinem, kleineren, schlanken und käseweißen Assistenten zu dieser Veranstaltung gehen möchte. Denn Michelle hat recht, optisch gesehen ist Gary Grant ein Traummann! Einer, der mich nicht kalt lässt.

„Was gibt es da denn nicht zu verstehen?", fragt Mr Grant nun etwas ungehalten und sieht mir direkt in meine Augen. „Ich brauche eine Begleitung und Sie kommen mit. Oder haben Sie schon etwas anderes vor?"

Natürlich könnte ich mir nun etwas ausdenken, um nicht mit ihm auf den Ball zu müssen. Doch wenn ich ehrlich bin, bin ich viel zu neugierig und habe auch ein wenig Angst vor den Konsequenzen, wenn ich sein Angebot ablehne. „Nein, Sir", antworte ich. „Ich bin nur so überrascht und ich habe auch keinen Anzug für so eine Feierlichkeit."

„Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen, Walters. Ich habe Olivia schon losgeschickt, um Ihnen einen passenden Anzug zu besorgen. Am besten gehen Sie noch einmal zum Friseur und unter die Dusche. Ich lasse den Anzug direkt zu Ihnen nach Hause schicken", sagt er und vernichtet mit wenigen Bissen das Müsli-Brötchen. Dann schaut er auf seine Uhr. „Wir treffen uns um sieben Uhr vor dem Hotel. Oder besser, ich hole Sie zuhause ab. Damit Sie es sich nicht spontan anders überlegen. Alles verstanden?" Sein Blick duldet keine Wiederrede. „Ja, Sir."

Als er den Raum verlassen hat, traue ich mich einmal durchzuatmen. Langsam rattert die Erkenntnis durch: Ich werde auf den alljährlichen Weihnachtsball gehen! Da wollte ich schon immer mal hin! Doch ich werde mit meinem Boss hingehen. Dem Mann, der den Geburtstag seiner eigenen Mutter vergisst und einen höheren Verbrauch an Liebhabern im Monat hat als ich in meinem ganzen Leben. Ich weiß das, weil ich sie immer am Telefon abwimmeln muss, wenn sie nach dem One-Night-Stand versuchen, ihn unter seiner Firmennummer zu erreichen.

Aber habe ich wirklich eine Wahl? Resigniert beuge ich mich über den Papierkorb und fische meinen Donut heraus. Den Zucker brauche ich jetzt!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top