"Danach"

"Ich wollte das alles doch nicht.. Wirklich! Ich.. Endlich fingen wir wieder an zu reden und sie hatte sogar zugenommen... Ich.. Sie..", schluchzend wendet Emily ihren Blick ab und schaut nach oben. Versucht tief einzuatmen, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Die Tränen zu stoppen. Sie spürt den festen Griff ihrer Mutter, die ihren Arm um sie gelegt hat und sie an sich drückt. Dankbar für ihre Unterstützung lehnt sie sich an sie. 

Nach einigen Minuten geht ihr Atem wieder langsamer und sie beruhigt sich allmählich, auch wenn ihre Augen noch immer brennen und sie spürt, wie heiße, Tränen langsam über ihre Wangen laufen. Vorsichtig blickt sie wieder nach vorne. 

Vor ihr sitzen eine Menge Leute, die meisten hat sie erst heute kennengelernt. Andere, wie Frau Praest und einige der Schwestern, kennt sie schon von ihren Besuchen und Terminen bei S. Frau Praest sitzt ihr quer gegenüber und immer wenn Emily zu ihr blickt, schenkt sie ihr warmes Lächeln. Auch wenn es albern ist, Emily beruhigt dieses Lächeln mehr als jede Berührung oder jedes tröstende Wort es gerade könnten. So konzentriert sie sich ausschließlich auf das Lächeln vor ihr. Versucht die anderen Menschen alle auszublenden. Stellt sich vor sie erzählt diese Geschichte nur Frau Praest. Sonst niemanden. 

Noch einmal schließt sie die Augen und wirft noch einen Blick in das Gesicht der Therapeutin, ehe sie wieder beginnt zu sprechen. Diesmal ist ihre Stimme gefasster, auch wenn ihr Kinn immer noch zittert. Emily blickt der Leiterin des Therapiezentrums in die Augen und wendet ihren Blick nicht ab, während sie spricht. Sie will das alles nur noch hinter sich bringen und ihr Bett, sich verkriechen und versuchen diesen Tag zu vergessen. 

Stockend erzählt sie davon wie sehr sie sich gefreut hat als S wieder begann mit ihr zu sprechen, auf ihre E-Mails und Briefe zu antworten. Von sich zu erzählen, sich ihr zu öffnen, wieder da zu sein. Nicht nur mit Emily zu reden, ihr auch zu zuhören. Es fühlte sich an als hätte Emily ihren verloren geglaubten Zwilling zurück. Vor dem Streit und allem was danach kam war Emily gar nicht klar gewesen wie wichtig S ihr war. Ihre Freundschaft. 

Natürlich sie waren beste Freundinnen, jeder wusste das. Sie verbrachten jeden Tag zusammen und schliefen regelmäßig beieinander. Teilten alle ihre Geheimnisse, Wünsche, Träume und Sehnsüchte. Emily verstand erst, das S die einzige Person war die sie wirklich verstand und bei der sie, abgesehen vielleicht von ihren Eltern und Geschwistern, sie selbst sein könnte. Ohne S machte ihr nichts mehr Spaß und sie hatte niemandem mehr mit dem sie wirklich, tabulos, reden konnte. Deshalb bat Emily auch eines Morgens ihre Eltern darum ihr die Möglichkeit zu geben mit S Kontakt aufzunehmen. 

Zunächst war die Begeisterung eher gering. Immerhin hatte S Emily geschlagen, schlecht behandelt, sich von ihr abgewandt. Ihre Eltern sahen natürlich wie sehr ihre Tochter unter dem Verlust ihrer besten Freundin litt. Auch sie selbst litten, es war als hätten sie eine weitere Tochter verloren und es war für sie schwer zu begreifen wie es soweit kommen konnte. Zu groß war also die Sorge das S ihre Tochter erneut verletzen würde. Doch, nach einigen Gesprächen, erlaubten sie Emily den Versuch. 

Da S erst einige Zeit nach Erhalt des Briefs Zugang zu diesem bekam, war die Situation anfangs eher schlechter als besser. Emily und ihre Eltern erfuhren erst nach einigen Wochen das S noch nicht so weit sehr und noch lange keinen Kontakt zu ihr haben dürfte. Immerhin spielte Emily, durch ihre ausschlaggebende Rolle bei der Entdeckung von S Krankheit, auch eine bedeutende Rolle bei ihrer Therapie. Ein zu früher Kontakt hätte S Zustand erheblich verschlechtern können, anstatt ihn zu verbessern. Deshalb hatten S behandelnde Therapeuten entschlossen ihr zunächst nichts von dem Brief zu erzählen. Erst sollte S deutliche Fortschritte in ihrer Therapie, ihrem Verhalten und vor allem ihrem Gewicht zeigen. 

Emily erinnert sich noch genau an den Tag als sie endlich den Anruf bekam. 

Es war ein regnerischer Tag. Einer dieser Tage an denen man glaub die Sonne wird nie wieder scheinen. Der Himmel war seit dem Morgengrauen bewölkt und es wurde einfach nicht heller. Während sie ihr Elternhaus betrat fluchte sie die ganze Zeit über das Wetter. Alles an ihr tropfte. Selbst ihre Socken waren, trotz Gummistiefeln, triefnass. Gänsehaut bevölkerte ihre Arme als im warmen Flur stand und ihren nassen Klamotten abstreifte. Ihre Kleidung warf sie achtlos auf den Boden vor der Tür, etwas was sie sich nur traute weil sie wusste das ihre Mutter noch nicht zu Hause war.  Gerade als sie darüber nachdachte wenigstens ihre Jacke über die Badewanne zu hängen, riss das Telefon sie aus ihren Gedanken. Vor Schreck zuckte sie zusammen. 

Ihre Mutter besteht zwar darauf das sie noch einen Festnetzanschluss besitzen, doch dort rief eigentlich selten jemand an. Meistens ihre Oma und selbst das passiert nur ein paar Mal im Jahr. So erschreckt Emily sich beinahe jedes Mal wenn das schrille Klingeln durch den Flur schallt. Mit schnellen Schritten eilt sie zum Hörer. Wie immer, wenn dieses Telefon klingelt, schlägt ihr Herz bis zum Hals. Sie schiebt es jedes Mal auf den Schreck. Insgeheim glaubt sie aber das dieses Telefon verflucht ist, auch wenn es albern ist. So gut wie jede schreckliche Nachricht die sie je erreicht hat, der Tod ihrer geliebten Katze, die Botschaft das ihre Tante einen schweren Autounfall hatte, S Einlieferung... all das erfuhren sie stets über das Festnetz Telefon. 

So klopfte ihr Herz ihr bis zum Hals während sie ihren Namen ins Telefon stotterte. Als sie hörte wer sich dort meldete traten ihr bereits Tränen in die Augen, aber genauso schnell wie sich diese unsagbare Angst in ihrer Brust breit gemacht hat wich sie auch wieder. Das Lächeln auf ihrem Gesicht fühlte sich beinahe schmerzhaft an, so groß war es und die Tränen die ihre Wange runter liefen waren Freudentränen. S durfte nicht nur, nein,sie wollte sogar, mit ihr reden, mit ihr telefonieren. 

Von da an schien der Fluch des Festnetztelefones gebrochen, denn das Läuten bedeutete das S anrief. Auch wenn ihre Gespräche anfangs kurz und oberflächlich waren, für Emily waren sie der schönste Moment des Tages. Selbst S, sehr schnell gehaltener und merklich verbotener Anruf, aus dem Krankenhaus gab Emily Hoffnung. Auch wenn sie wieder abgenommen hatte. Das war normal. Das waren die Depressionen, wie Frau Praest ihr erklärte, bald wird es S wieder besser gehen. Depressionen sind heilbar, das war gut, dagegen gibt es Medikamente. 

Und so schien es auch. 

Nach einigen Wochen rief S sie das erste Mal wieder an. Klang.. irgendwie fröhlicher. Gefasster. Wieder echt. Als Emily dann hörte das sie auch wieder E-Mails schreiben dürften und sie S bald besuchen könne, musste sie sich anstrengen nicht vor Freude zu schreien. Natürlich bekam Emily vorher eine lange Mail mit Gegenstanden die sie nicht mit in die Klinik bringen durfte und auch Themen die sie, vor allem vor S, nicht ansprechen durfte. All das verstand Emily. 

Doch als sie kurz vor ihrem Besuch nicht nur eine E-Mail, sondern gleich zwei, von S erhielt, war sie zunächst stutzig. Sie erwägte sogar die erste Mail, mit dem Betreff "Nicht vor Zeugen öffnen", direkt ihren Eltern zu zeigen oder an die Klinik zurück zu senden. Gerade als ihre Maus über dem Weiterleiten Button schwebte, schoss ihr die Erinnerung an ihr letztes Gespräch mit S vor Augen. 

Bevor sie auflegten, nach einem fast einstündigen Gespräch, Emily wusste das S die Schwestern für diese Freiheit ordentlich bezirzen musste, schien S plötzlich verändert. Gerade als Emily anfing sich Sorgen zu machen, platze auf der anderen Seite der Leitung ein Knoten und aus S Mund sprudelten die Wörter so schnell, das sie Mühe hatte ihr zu folgen. Als S fertig war, beherrschte für einige Sekunde Stille das Gespräch. Emily hatte einen Knoten im Hals und brachte nur noch ein "Ich liebe dich auch Schwester. Bis nächstes Mal." hervor, ehe sie weinend zusammenbrach. In diesem Moment schwor Emily sich, nie wieder ihre Freundschaft mit S so aufs Spiel zu setzen, sie nie wieder zu verraten. 

Deshalb entschied Emily sich dagegen. Öffnete die Mail und die Erleichterung durchströmte sie warm und wohlig. Das war in Ordnung. Einen Rasierer mitbringen. Emily war natürlich klar, weshalb die Patientinnen keine Rasierer besitzen durften aber Emily kennt S. S geht es wieder besser. Wenn die beiden telefonierten lachten sie nur und unterhielten sich sogar über Themen wie Jungs und Dates, S war definitiv wieder sie selbst. Wahrscheinlich durfte sie bald sogar wieder raus und da würde sie ja eh spätestens an einen Rasierer kommen. Weshalb sollte Emily ihr nicht früher, vor allem bei dem sonnigen Wetter zu glatten Beinen verhelfen. 

Drückende Stille liegt über dem Raum als Emily nach einigen Minuten verstummt ist. Nur ihr Schluchzen und das Rascheln am Rücken ihres Pullovers, den ihre Mutter beinahe manisch reibt, zerschneiden die Geräuschlosigkeit. Gerade als Emily selbst überlegt die Stille zu brechen, räuspert sich die Heimleiterin. 

"Danke, Emily. Danke für deine Ehrlichkeit. Das.. das hilft uns wirklich weiter.", bei ihren letzten Worten wandern ihre Augen für eine Sekunde zu ihren Angestellten. Die Schwestern und Pfleger, die am Rand des Raumes stehen, wirken teilweise erleichtert, teilweise besorgt. Als Emily klar wird weshalb, blubbert das schlechte Gewissen wie Übelkeit in ihrem Magen hoch. Immerhin haben die hier Anwesenden sie, zum Teil, bei ihrem Besuch kontrolliert, nicht bemerkt das sie einen verbotenen Gegenstand bei sich trug. Erneut treten Tränen in ihre Augen. Sie wollte das alles doch nicht. 

Wollte nicht das all diese Menschen hier um ihren Job fürchten muss. 

Ihre Eltern sich mit der Polizei auseinander setzen müssen. 

Den guten Ruf der Klinik gefährden. 

Und vor allem wollte sie nicht das Samantha stirbt. 

Wollte nicht das sie diesen Kampf verliert. Doch sie hat verloren. 


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top