9 - '' Weil ich am liebsten nichts wäre. ''
,,Na dann, erzähl mir doch mal wieso du hier bist beziehungsweise wieso du glaubst hier zu sein.''
Allein diese simple Aufforderung sorgt bei ihr für ein Gefühlschaos. Wut, Angst, Scham und Trotz kämpfen in ihr um die Oberhand. Tief in ihrem Inneren weiß sie wie die richtige Antwort lauten würde: ,, Weil ich an einer Essstörung leide. Weil ich krank bin. Weil ich nichts mehr essen kann, ohne das Ana mich anschreit und Mia sich danach sehnt noch mehr zu essen damit wir beim kotzen das Gefühl haben mehr zu verlieren. Weil mich der Gedanke daran nichts zu essen mit Freude und Stolz erfüllt. Weil ich meine Freunde kaum noch treffe und am liebsten den ganzen Tag in meinem Bett liegen würde. Weil mir ständig kalt ist und ich dauernd mit der Angst leben muss ständig ohnmächtig zu werden. Weil ich am liebsten nichts wäre. Weil ich an manchen Tagen kaum aufstehen kann, da der Wunsch in mir nichts zu sein, nichts zu fühlen mich an mein Bett fesselt. Weil ich manchmal auf meinem Bett sitze und mir die Ohren zu halten muss weil Ana und Mia in mir drin schreien, toben und wüten, mich zwingen wollen Dinge zu tun, die ich nicht tun möchte aber die sich verdammt richtig anfühlen. Weil ich glaube langsam verrückt zu werden, immerhin spreche ich mit zwei Stimmen in meinem Kopf, und genau deshalb geht man ja zu einem Psychologen, oder? Weil man verrückt ist?'' Genau das ist die Antwort, die sie geben sollte, sie spürt das. Doch schon laueren Ana & Mia, das tödliche Gespann, hinter ihrer nächsten Hirnwindung und machen ihr einen Strich durch die Rechnung.
‚Genau und wenn du schon dabei bist doch vollends zu blamieren erzähl der Psychotante hier doch am besten gleich noch das du sogar schon in Tüten gekotzt hast und von deinen Fressattacken, immerhin hast du gestern wieder genug Mittag gegessen, um eine Fußballmannschaft mitsamt Trainer satt zu bekommen.' Ana nickt wissend hinter Mia und stemmt ihre Hände in ihre beinahe nicht greifbaren Hüften ehe sie das Wort ergreift: ‚Schämst du dich denn nicht dafür? Was willst du dieser Frau erzählen? Die wird dich doch genauso wenig verstehen wie deine Eltern oder alle anderen. Sieh lieber zu das du hier schnell rauskommst und bald dein Handy wieder bekommst, damit du mit den Anderen schreiben kannst. Die Einzigen die dich verstehen werden.'
Von all dem bekommt die Psychologin, mit dem passenden Namen Frau Angst, nichts mit. Von diesem Kampf in ihrem Inneren. Das einzige was Frau Angst, sie muss immer wieder kurz grinsen bei dem Namen ob sie möchte oder nicht, mitbekommt ist, wie sie ihre Haare aus dem Gesicht streicht und die Ärmel ihres Pullovers über ihre Hände zieht, ehe sie antwortet.
‚,Ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau, ich denke meine Eltern wollen das ich mit Ihnen reden.'' Bei diesen Worten setzt sich Frau Angst ein wenig gerader hin und sie sieht förmlich wie sich die Rädchen in ihrem Psychologenhirn eine schlaue Antwort ausdenken, um sie in eine Falle tappen zu lassen, und sofort regt sich der altbekannte Trotz und auch die Wut in ihr, zwei Emotionen die erst seit kurzer Zeit so nah beieinander und vor Allem so nah an ihrer Oberfläche zu schweben scheinen. Bevor sie darüber nachdenken kann, öffnet sich ihr Mund: ‚,Obwohl doch eigentlich weiß ich es schon'', kurz sieht sie Hoffnung in dem Gesicht ihres Gegenübers aufblitzen und die Freude darüber diese Hoffnung gleich zu erdolchen wird beinahe übermächtig. ,,Ich bin hier weil meine Eltern ein Problem mit mir, meinem neuem Ich haben, mit der Tatsache das ich endlich verstanden habe, das ich zu fett bin. Ich bin hier weil meine Eltern meinen nur weil ich einmal im Sportunterricht umgefallen bin, weil ich zu wenig getrunken habe, dass ich direkt ein Problem habe. Aber ich habe kein Problem mir geht es gut. Wieso alle direkt so ein Fass aufmachen müssen nur weil ich abnehme, ist mir sowieso ein Rätsel.'' Sofort verzieht sich die Hoffnung aus dem Gesicht ihrer Psychologin. Ihrer Psychologin Ana und Mia müssen jedes Mal lachen, wenn sie das hören, und Frau Angst atmet tief ein. Anscheinend hat sie eine neue Strategie gewählt den sie entschuldigt sich für einen Moment, um auf die Toilette zu gehen und verschwindet. Ana und Mia sind stolz auf sie und klopfen ihr auf die Schulter, immerhin hat sie die Psychologin innerhalb weniger Minuten verscheucht.
Als Frau Angst nach einem Augenblick den Raum wieder betritt und sie anspricht, schreckt sie zusammen. Sie hatte sich völlig in ihren Gedanken verloren während sie aus dem großen Bodenfenster neben sich, in den Schnee, gestarrt hat. Die ganze Zeit muss sie an den letzten Winter denken. Letzten Winter hatte es nicht geschneit. Letzten Winter hat alles begonnen, damals sind Ana und Mia aufgetaucht. Zuerst kam Ana, still und leise wie ein Schneesturm und kurz darauf hat Ana auch noch Mia mit ins Boot geholt. Zusammen wurden die Beiden stärker als S. Immer öfter hat S sich von ihnen sagen lassen was sie tun und vor allem sagen sollte. Die anderen Mädchen sagten ihr immer wieder das alles in Ordnung sei, das sie auf die Beiden hören solle. Das sie ihr nichts Böses wollen. Doch mittlerweile ist es als hätten sie die Kontrolle übernommen und S war alleine in der hintersten Ecke ihres Hirns. Auch so ein Gedanke, der in ihr das Gefühl das wachsen lässt das sie allmählich wirklich den Verstand verliert, oft hat sie das Gefühl gar nicht mehr wirklich da zu sein. So als wäre ihr wirkliches Ich abgelöst worden durch Ana und Mia. Sie bestimmen alles. Wann sie isst, wie viel sie isst, ob sie überhaupt isst, mit wem sie redet, was sie isst, wie viel Sport sie macht... allgemein dreht sich alles nur noch um eine Sache. Diese eine Sache die Ana und Mia verabscheuen und doch zu ihrem und damit auch zu Ss Mittelpunkt machen. Essen. In ihr ist ein ständiger ein Kampf.
Der Kampf mit Ana und Mia, ihr Kampf gegen sich selbst.
‚,Sa..?'', hastig unterbricht Frau Angst sich. ,,Tut mir leid.Ich meinte natürlich S. Ist es okay wenn ich dich so nenne? Deine Eltern haben mir gesagt das wohl praktisch niemand dich bei deinem vollen Namen nennt.'' Da hat sie ausnahmsweise mal was gesagt an dem was Wahres dran ist. Schnell nickt S als Antwort. Bleibt aber ansonsten lieber stumm. Mittlerweile bereut sie ihren kleinen Ausbruch von vorhin. Wer weiß welche Auswirkung das nun hat, vielleicht bekommt sie ihr Handy jetzt nie wieder. Bei dem Gedanken fängt sie an nervös auf ihrer Lippe zu kauen, unterbricht sich aber sofort als sie den forschenden Blick bemerkt mit dem die Psychologin sie belegt. Die Stille, zwischen den beiden findet sie ironischer Weise beruhigend, irgendwie ist es schön mal nicht alleine in dieser Stille zu sein. Doch natürlich muss Frau Angst diese Stille wieder brechen:
"Möchtest du mir denn vielleicht erzählen in welchen Gedanken du dich gerade so verloren hast?"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top