11- "Konfrontation"

Es ist so kalt das sie ihren Atem sehen kann, als S in ihrer Freistunde auf dem Hof sitzt, versucht zu vergessen wie kalt die Treppenstufen sind und sich stattdessen auf ihr Buch zu konzentrieren. John Green schafft es sonst immer sie in seinen Bann zu locken. Heute schaffen es allerdings nicht einmal die Beiden Will's, sie von dem nagenden Gefühl in ihrem Bauch abzulenken. Außerdem ist es viel zu laut, überall tollen irgendwelche Kinder herum und schreien und kreischen und lachen. Dieses Lachen... Frustriert legt sie das Buch in ihren Schoß, während ihre eine Hand beinahe manisch ihre Schläfe massiert um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben und sie mit ihrer anderen Hand tief in der Tasche ihres Hoodies kramt und den Lautstärke Regler ihres MP3-Players zu erwischen. Hoffentlich kann sie ihn noch ein wenig lauter stellen. Doch als sie bemerkt das ihre Finger bereits mehrmals vergeblich über das kleine Rädchen ratschten schließt sie ihre Augen und legt den Kopf in den Nacken. In letzter Zeit war sie dermaßen gefühlsduselig, dass ihr selbst solche Nichtigkeiten die Tränen in die Augen treiben. Tief atmet sie ein um die Tränen und dieses schwere Gefühl der Hilflosigkeit los zu werden. Als sie die Augen wieder öffnet zuckt sie zusammen wobei sie beinahe ihr Buch fallen lies. Vor ihr steht Emily.

Emily schaut sie aus ihren grünen Augen durchdringend an und S ist wie hypnotisiert. Sprichwörtlich wie die Maus vor der Schlange. Erneut treten ihr Tränen in die Augen und sie beißt sich auf die Unterlippe. Nun reißt sie ihren Blick doch los, um ihre Tränen zu verbergen. Rasch zieht sie die Kopfhörer aus ihren Ohren und stopft ihr Buch in ihre Tasche. Dann steht sie auf und gibt sich gefasster als sie ist: "Was gibt's?" Emily schenkt ihr ein kurzes, wenn auch sichtlich angestrengtes, Lächeln: "Ich wollte nur mit dir reden... Hast du gerade Zeit?"

Ehe sie antworten kann, hört sie auch schon Anas kämpferische Stimme in ihrem Kopf: Nein. Natürlich hast du keine Zeit! Mittlerweile beeindruckt das auftauchen von Anas und Mias Stimme sie nicht mehr und sie bleibt ganz gelassen. Auch wenn sie es meistens nicht schafft, es scheint als gibt Emilys Nähe ihr die Kraft, doch sie ist über sich selbst erstaunt als sie Anas Stimme zurück in die hintere Ecke ihres Hirns treibt. Sie ausblendet. Zögernd nickt sie Emily zu und deutet auf eine Stille Ecke des Hofes.

S kommt es vor, als wäre es eine Ewigkeit her das Emily und sie sich zusammen auf den Weg zu der kleinen Bank unter den paar Bäumen machen. Dabei sind sie erst letzten Frühling noch dort hin geflüchtet, wenn ihnen der ganze Trubel einer Freistunde oder einer Pause zu viel wurde. Sehnsucht und Nervosität kämpfen in ihr um die Oberhand, wie zwei Ringer. Sehnsucht danach das alles wieder so wird wie früher und Nervosität, denn nichts kann mehr so werden wie es war. Dafür müsste S noch nicht dieselbe sein wie letzten Frühling. Doch das ist S nicht mehr. Stimmt. Du bist besser. Schöner, schlanker. Du verdienst bessere, loyalere Freunde. Freunde die dich nicht verraten. Auch wenn es S vorhin gelungen ist Anas Stimme aus ihrem Kopf zu verscheuchen, diesmal ist es zu laut. Bei dem Gedanken an Emilys Verrat zieht sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Diesen Moment nutzt Ana und zwingt sich erneut in ihr Bewusstsein: Richtig! Genau deshalb! Wie kannst du mit so jemandem noch befreundet sein wollen? Bevor S auch nur darüber nachdenken kann und ihre Gefühle sortieren kann, sind Emily und sie bereits angekommen.

S fühlt sich noch gar nicht bereit für dieses Gespräch. Gerne würde sie um eine Pause bitten. Spielstop. Doch stattdessen schwebt zwischen den beiden Mädchen, keine will zuerst das Wort erheben. Die Luft scheint zum zerreißen gespannt und S Gedanken rasen durch ihr Hirn. Gerade als S beginnt zu glauben, dass Emily sie nur zum Narren halten will, hebt diese ihren Kopf und schaut S an:

"S...du fehlst mir. Ich meine.. du fehlst uns. Aber.. aber mir fehlst du am allermeisten. Wirklich. Ich dachte naja.. vielleicht könntest du mir verzeihen?Ich hatte einfach nur Angst um dich!" Erwartungsvoll blickt Emily S an. S erster Impuls ist es ihrer besten Freundin in die Arme zu fallen und in Tränen auszubrechen. Ihr alles zu erzählen. Von den Stimmen in ihrem Kopf, dem ständigen Hunger, dem Erbrechen, der Therapie... Doch während sie hier sitzt und ihrer besten Freundin, dem Menschen dem sie mehr als jedem anderen vertraut hat und auch dem Menschen der sie mehr als jeder anderer verraten hat, in die Augen schaut, wird aus ihrer Sehnsucht blanke Wut.

Richtig! Wie konnte die Schlampe dir das nur antun?, Ana verschränkt ihre knöchrigen Armen vor sich während sie missmutig den Kopf schüttelt.

Wirklich, sie hat dich verraten. Bevor sie überhaupt auf die Idee kam mit dir zu sprechen hat sie dich einfach hintergangen., Mischt sich auch Mia ein. Sie wird doch nur wieder sabotieren. Bei der ersten Gelegenheit wird sie jemandem von uns erzählen!

Im Stillen gibt S den Beiden recht. Sie weiß sie selbst ist nicht stark genug um diese Schlacht zu kämpfen, also macht sie Ana und Mia Platz. S zieht sich zurück. Sie ist zu schwach. Kaum lässt sie los, durchflutet sie wieder diese Wut und ein fieses Grinsen schleicht sich auf ihr Gesicht. S fühlt sich losgelöst. Es ist befreiend seinen Emotionen Luft zu machen. Nun wendet sie sich Emily komplett zu:

"Du hattest also Angst um mich? Aber anstatt mit mir zu reden, deiner besten Freundin, liest du meine Nachrichten und zeigst sie meinen Eltern!" Ein abfälliges Schnauben entweicht ihr. Ana und Mia, das Gespann der Knochen, feuern sie in ihrem Hirn, feuern sich Gegenseitig an. Schwenken Fahnen und führen Kriegstänze auf. Beinahe muss S bei der Vorstellung lachen, doch als sie wieder in die Augen von Emily schaut, wallt wieder all die alte Wut in ihr hoch und die nächsten Worte verlassen ihren Mund giftiger als geplant: "Em.. Ernsthaft. Meinst du wirklich ich könnte dir verzeihen? Du hast mein Leben zerstört. Wegen dir und deinen Gerüchten halten mich alle für krank! Keiner spricht mehr mit mir... und warum? Nur weil du meinst aus ein paar Nachrichten gelesen zu haben das ich ein Problem habe. Das einzige Problem was ich habe bist du." S genießt den Schock der sich auf Emilys Gesicht spiegelt. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals, doch ausnahmsweise ist sie deshalb nicht schwach. Es fühlt sich gut an. Sie ist stark.

Entrüstet rückt Emily von ihr ab. "Das ... das meinst du nicht ernst oder?" Anstatt einer Antwort blickt S ihr einfach nur ins Gesicht. Versucht all diesen Hass in ihre Augen zu legen, all ihre Verachtung, für ihre ehemals beste Freundin, in ihrem Gesicht zu zeigen. Emily blickt S einige Sekunden lang an, beinahe als würde sie hoffen das dies nur ein böser Traum ist. So lange bis sich ihr Gesicht rot verfärbt und sie aufspringt. "Wow. Das ist dein Ernst... Ich dachte wirklich hinter diesen Knochen würde noch meine beste Freundin stecken. Eine beste Freundin der ich helfen kann aber... da habe ich mich wohl geirrt. Das einzige was du noch bist ist ein Miststück. Ein arrogantes Miststück." Mit diesen Worten schnappt Emily sich ihre Tasche und dreht sich um, während S ebenfalls aufsteht. Nach einigen Schritten dreht Emily sich wieder um und kommt erneut auf S zu. Für einen kurzen Moment flammt Hoffnung in S auf, Hoffnung das Emily all das zurück nimmt, die beiden sich nie gestritten haben... Das Ana und Mia nur ein Moment waren, nicht ihr Leben sind. Aber als Emily direkt vor ihr steht erkennt S die Tränen und auch die Wut in ihren Augen. Der kleine Funken Hoffnung in ihrem Herzen, der Teil den Ana und Mia noch nicht erobert haben. Der Teil in dem sie sich manchmal noch wie sie selbst fühlt, erlischt die Flamme wie eine einsame Kerze an einem windigen Tag. "Weißt du S... Du bist nicht nur ein Miststück. Du bist auch noch krank!"

Das nächste was S spürt ist ein stechender Schmerz, der durch ihren Körper rast. Er scheint alles zu in Besitz zu nehmen. Ihr wird beinahe schwarz vor Augen. Wie aus weiter Ferne dringt ein Schrei zu ihr durch, zu ihrem Bewusstsein. Wie durch eine dicke Schicht Watte schallt ein lautes Knacken. Erfüllt den Raum und lässt Gänsehaut ihren Körper hinaufkriechen. Langsam blinzelt S und fühlt sich als würde sie aus einem langen Schlaf erwachen.

Sobald sie wieder klar sieht durchströmt entsetzen ihren Körper. Hart schlägt ihr Herz in ihrer Brust und sie spürt wie sie beginnt zu zittern. Vor ihr sitzt Emily auf dem Boden. Tränen laufen ihr Gesicht herab, während sie mit ihren Händen ihre Nase umklammert hält. Eine Traube von Menschen umringt die Mädchen mittlerweile. S spürt wie das Blut langsam über ihre Fingerknöchel rinnt und zwischen ihnen auf den Boden tropft. Schnell packt S sich ihre Tasche und flüchtet vom Schulhof. Sie will nur noch weg. 

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