Vergebung I
Erst als die Strahlen der Sonne auf die wirbelnden Schatten trafen, von denen die Stadt umgeben war, erwachte Lloyd wieder.
Er rieb sich die Augen und tastete dann zu der anderen Seite des Bettes. Leer und schon lange erkaltet, falls dort überhaupt jemand gelegen hatte. Erst dann fiel ihm auf, dass der Stoff in seinen Armen keine Decke war, sondern die violette Robe mit den Pfauenfedern.
Er schüttelte seinen Kopf und richtete sich auf. „Murasaki, seid Ihr hier?", flüsterte er in den Raum, doch es kam keine Antwort zurück. Natürlich nicht. Was hatte er auch anderes erwartet?
Er schlug die Decke zurück und erhob sich. „Murasaki?", fragte er noch einmal, aber wieder ertönte nicht einmal das Klirren der Ketten, geschweige denn Worte.
Ein leises Seufzen entwich ihm. Er ließ die violette Robe im Bett liegen und trat auf den Korridor. Doch auch dort hörte er keinen Klang, durch den er vermuten könnte, dass sich der Erzähler noch im Palast befand.
Daher machte Lloyd sich auf den Weg in sein eigenes Gemach und kleidete sich dort ein. Ganz in Weiß, denn er hatte Elliot angewiesen, alle Kleidung, die nicht weiß war, aus dem Schrank zu verbannen. Eine kleine Vorsichtsmaßnahme, um sicherzustellen, dass er keine Farben kombinierte, die nicht zueinander passten.
Er hatte gerade seinen Gehrock übergeworfen, da hörte er leises Klirren hinter sich, gefolgt von einer Stimme. „Ich bin hier." Das Rasseln der Ketten trat an ihn heran.
„Wo wart Ihr?", fragte Lloyd und drehte sich zu ihm um.
Ohne ihm zu antworten, ergriff Murasaki seine Hand und legte sie auf einen kalten Knauf. Geformt wie ein Drachenkopf mit weit geöffnetem Maul. Befestigt an einem langen Holzstab, um den dunkles Leder gehüllt war.
„Ihr habt ihn wiedergefunden", sagte Lloyd. Ursprünglich hatte er den Gehstock nie haben wollen, jetzt konnte er die Freude, die in ihm aufkam, da er ihn wieder in der Hand hielt, nicht leugnen.
„Er war noch genau dort, wo Ihr ihn zurückgelassen habt", sagte Murasaki.
„Habt Dank." Lloyd konnte sein Lächeln kaum zurückhalten. Obwohl er es nicht zugeben wollte, er hatte diesen kalten Knauf vermisst, der ihm in der Hand lag, als sei er eigens nur für ihn geschaffen.
„Irgendwie musste ich mich ja beschäftigen, während Ihr geschlafen habt", antwortete der Erzähler. „Jemanden währenddessen zu beobachten ist so schrecklich langweilig."
Er trat noch einen Schritt an Lloyd heran und richtete ihm den Kragen. „Wollen wir aufbrechen?", fragte er.
Lloyd zögerte kurz. Er hatte Tavaren seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen und die Angst vor dem, was ihn dort erwartete, zerrte an ihm. Doch letztlich nickte er.
Er spürte Murasakis Griff an seinem Arm und keine Sekunde später standen sie vor den Toren des Kestrel-Anwesens.
Der Erzähler stützte ihn noch so lange, bis die anfängliche Übelkeit, die in Lloyd bei dieser Art des Reisens stets aufkam, verschwunden war. Doch nach einigen Sekunden ließ er den Elfen los und verabschiedete sich.
„Wenn Ihr wieder aufbrechen wollt, dann ruft mich einfach", sagte er und wandte sich ab. „Lasst Euch ruhig Zeit. Bleib tagelang und gerne auch mehrere Wochen hier. Nutzt jede Sekunde weise." Er deutete ein Winken an, doch als er sich in Erinnerung rief, dass Lloyd es nicht sehen konnte, sagte er: „Auf Wiedersehen, Sweetie."
Auch wenn Lloyd nicht hörte, wie sich das Klirren entfernte, wusste er, dass der Erzähler verschwunden war. Er wandte sich ab und tastete nach dem Tor. Kalt traf das Eisen auf seine Fingerspitzen.
Er umfasste es, klammerte sich an ihm fest, denn noch immer waren seine Beine wackelig von der Reise.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, schob er das Tor auf und betrat das Grundstück. Das Knirschen des Sandes unter seinen Sohlen wies ihm die Richtung und half ihm auf dem Weg zu bleiben. Er war noch nicht oft zum Herrenhaus gegangen, aber oft genug, dass er sich grob zurechtfand.
Den Wolf hörte er nicht und es war ihm auch recht, nicht von ihm umgerannt zu werden. Doch ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Was hatte es zu bedeuten, dass Dasan nicht wie sonst, das Anwesen bewachte?
Langsam und vorsichtig irrte er durch die Dunkelheit. Der Weg kam ihm länger vor, doch er wagte es nicht, schneller zu gehen, da er nicht stolpern wollte.
Sein Fuß stieß gegen die erste Stufe der kleinen Treppe, die zu dem Eingang des Herrenhauses führte. Zögerlich stieg er sie hoch. Er hatte nie gezählt, wie viele Stufen es genau waren. Die Wichtigkeit dieses Wissens hatte er nie erkannt, doch nun wurde ihm dieser Fehler schmerzlich bewusst.
Er fühlte sich wie ein Kind, das noch nicht gehen konnte und wackelig auf den Beinen stand. Zögerlich tastete er sich vorwärts. Stufe für Stufe.
Aber es gelang ihm, ohne zu stolpern, bis zur Tür zu steigen. Er hob eine Hand, aber ehe er anklopfte, zögerte er. Die Angst, vor dem, was ihn erwarten könnte, schlug auf ihn nieder. Was, wenn Tavaren ihn gar nicht wiedersehen wollte? Schließlich waren seit ihrem letzten Treffen viele Monate vergangen.
Oder noch schlimmer. Was wäre, wenn Tavaren in den Gefechten mit Templern und Elfen ums Leben gekommen war?
Solange er nicht an diese Tür klopfte, würde er es nie erfahren. Nur eine Tat würde ihn von der Unwissenheit befreien. Doch wollte er überhaupt Antworten auf seine Fragen?
Lloyd schüttelte seinen Kopf und verbannte jeden Zweifel. Er umfasste den Knauf des Gehstockes fester, suchte Sicherheit in ihm und klopfte gegen die Tür.
Stille im Inneren. Dann Schritte, die hastig auf den Eingang zu kamen. Ein leises Knarren als sich die Tür öffnete.
„Lloyd?" Das war Luanas Stimme.
Ein kleiner Hüpfer in Lloyds Herzen zauberte ein betrübtes Lächeln auf sein Gesicht. „Ja, ich bin zurück."
„Kommt doch hinein", lud sie ihn ein. „Tavaren ist derzeit noch außer Haus, aber er wird sich sicherlich freuen, Euch wiederzusehen." Sie trat einen Schritt zur Seite um ihn ins Herrenhaus zu lassen.
Lloyd atmete erleichtert auf. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich nicht bewahrheitet. „Habt Dank", sagte er. Eine Hand legte er an den Türrahmen, damit er nicht versehentlich gegenstieß, und trat ein.
Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Ein Geräusch, dass manchmal dafür sorgte, dass sich seine Nackenhaare aufstellten, doch nun breitete sich Geborgenheit in seiner Brust aus.
„Ich bin mir sicher, Tavaren wird bald zurückkehren", sagte Luana. „Darf ich Euch auf eine Tasse Tee einladen, während wir auf ihn warten?"
„Sehr gerne", antwortete Lloyd. „Wärt Ihr so freundlich, meinen Arm zu nehmen und mich zu leiten? Man nahm mir die Fähigkeit, zu sehen." Ihm war es unangenehm, dies zuzugeben und auf Hilfe angewiesen zu sein, aber noch weniger wollte er gegen etwas stoßen und eine teure Vase herunterreißen oder wegen einer Falte im Teppich stolpern.
„Natürlich", sagte Luana. Sie griff seinen Arm und führte ihn durch die Korridore bis ins Teezimmer.
Noch immer war der Raum so rosa und weiß eingerichtet wie damals. Die Sonne erhellte das Zimmer durch die Fensterfront. Obwohl der Frühling schon angebrochen war, lagen Schneereste auf der Veranda, die von dem Raum aus zu erreichen war und die Sonne konnten das Eis nicht schmelzen, so sehr sie sich auch bemühte, möglichst warm und hell zu strahlen.
Doch der Raum war nicht leer. Als Lloyd und Luana eintraten befanden sich schon zwei weitere Personen darin.
Anthea saß auf dem Boden vor der Fensterfront. Auf ihrem Schoß ihre Tochter Isabella, die das Gesicht an die Scheibe drückte, um auch ja alles wahrzunehmen, was sich draußen abspielte. Die Vögelchen, die durch den Schnee hüpften. Die wenigen Frühblüher, die sich ihren Weg schon aus dem harten Boden gekämpft hatten.
Anthea sah auf, als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und auch das kleine Mädchen blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
Lloyd hörte das erschrockene Quietschen Isabellas, die sich schnell an ihrer Mutter festklammerte und sich hinter ihr versteckte, als sie den Fremden sah. Denn nicht nur, war er ihr unbekannt, seine Gestalt wirkte für das kleine Mädchen auch mehr als schauderhaft.
Hochgewachsen und edel in Weiß gekleidet. Ausdruckslos starrten die Augen in die Leere und die Mundwinkel waren nur leicht erhoben. Die Haare fielen ihm offen über die Schulter und unterstützten seine frostige Ausstrahlung.
„Anthea, erinnerst du dich noch an Lloyd", stellte Luana ihn vor und gab ihm gleichzeitig einen Überblick, wer sich im Raum befand.
Der Elf erinnerte sich noch gut an Tavarens Frau und hoffe, dass sie sein kindisches Verhalten damals, als er eine Tasse kaputt gemacht hatte und dann aus dem Raum geflohen war, vergessen hätte.
„Natürlich erinnere ich mich", sagte Anthea. Sie erhob sich und nahm Isabella auf den Arm. „Es freut mich, Euch wiederzusehen."
„Die Freude ist ganz meinerseits", antwortete Lloyd.
Doch danach schwiegen sie. Beide wussten nicht, wie sich miteinander sprechen sollten und zwischen ihnen stand eine gewisse Anspannung, die sie daran hinderte, etwas zu sagen, sodass kurzerhand Luana das Gespräch übernahm.
„Wollt Ihr Euch vielleicht setzten, Lloyd?", fragte sie.
Der Elf nickte nur und ließ sich von Luana zu einem Stuhl führen, auf dem er sogleich Platz nahm. Seinen Gehstock lehnte er gegen den Tisch.
Mit einer Handbewegung deutete Luana Anthea an, sich ebenfalls zu setzen. Isabella hing immer noch an ihrer Mutter, aber sie betrachtete Lloyd mit geweiteten Augen und wollte nicht einmal für eine Sekunde ihren Blick von ihm abwenden.
Luana goss dem Elfen währenddessen Tee ein und reichte ihm die Tasse. „Wie ist es Euch in den letzten Monaten ergangen?", fragte sie. „Wo seid Ihr gewesen?"
Lloyd nahm die Tasse dankend an und antwortete: „Ich war ein wenig hier und dort." Vager hätte er sich nicht ausdrücken können. Doch was hätte er anderes sagen sollen? Dass Drachen ihn zu ihrem König gekrönt hatten und er dann, nachdem er ein Verbrechen begangen hatte, geflohen war? Nein, darüber schwieg er.
„Doch was hier während meiner Abwesenheit geschehen ist, ist mit Sicherheit viel interessanter als meine Erlebnisse", sagte er zwar, doch jeder im Raum wusste, sobald man einen Blick auf ihn warf, dass seine Worte nicht der Wahrheit entsprachen. Aber er griff nach jedem Faden, der von den Geschehnissen, die er in den letzten Monaten durchleben musste, ablenkte.
Er hob seine Tasse zu seinen Lippen und nippte vorsichtig an der noch heißen Flüssigkeit.
„Der Krieg dauert noch immer an", erklärte Luana. „Aber Tavaren gelang es eine Allianz mit Eurem Vater zu schließen, um mit ihm gemeinsam gegen Rededge zu ziehen."
Lloyd verschluckte sich beinahe an dem Tee. „Er hat was?", fragte er. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Tavaren war gelungen, woran so viele schon gescheitert waren.
Luana nickte. „Er hat Leandras mit Briefen überhäuft und der Elfenkönig hat nie geantwortet, aber Tavaren hat nicht aufgegeben. Und irgendwann kam dann eine Antwort zurück. Dann ein Treffen und letztlich dieses Bündnis."
„Unglaublich", murmelte Lloyd und lächelte kopfschüttelnd.
„Ja, nicht wahr?", sagte Luana. „Momentan müssen sie die Feldzüge gegen den Menschenkönig aber einstellen. An der südlichen Grenze des Großen Waldes soll es einige Schwierigkeiten geben, die Leandras' Aufmerksamkeit benötigen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was im Süden vor sich geht. Jeder, der von dort in den Norden flieht, berichtet anderes, aber es muss so schwerwiegend sein, dass Euer Vater sich von seinem eigentlichen Ziel abgewandt hat."
Lloyd schwieg und presste nur seine Lippen aufeinander. Er wusste genau, was sich dort zugetragen hatte, doch einfach zugeben, dass er der Grund für die Unruhen war, konnte er nicht.
„Euer Vater hat Tavaren sogar gebeten, ihm mit einem Heer zur Seite zu stehen und zu bekämpfen, was auch immer dort ist. In einigen Tagen will er deshalb aufbrechen."
„Ich verstehe", murmelte Lloyd. Diese Entwicklung war nicht gut. Nicht nur, war sie nicht gut, sie war sogar absolut schrecklich. „In einigen Tagen zieht er los, sagtet Ihr?", fragte er nach.
„Genau", antwortete Luana. „Momentan ist er mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Viele Fürstentümer sind unzufrieden damit, das Heer Kastolats durch ihr Gebiet ziehen zu sehen und besonders die Templer hegen immer noch großes Misstrauen gegen Tavaren. Und dann müssen natürlich auch noch Soldaten in Kastolat verbleiben, falls einer von den Fürsten einen Gegenschlag plant."
„Klingt nach einer schwierigen Situation", murmelte Lloyd eher zu sich selbst. Etwas schien ihm falsch an all dem. Es wirkte unecht. Diese Nachrichten zu hören und den Mund nicht aufzumachen. Das Schweigen kam einer Lüge gleich, doch das Sprechen wäre sein Untergang.
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