Raben II
Kematian beeilte sich die Stadt durch die Katakomben zu verlassen und stand in weniger als einer halben Stunde vor dem Tor des Kestrel-Anwesens. Den Wolf, der sonst stets auf dem Grundstück umherstreifte und Alarm schlug, wenn ein Unbefugter einen Fuß in die Nähe des Herrenhauses setzte, konnte er weder sehen noch hören. Entweder er war im Inneren des Anwesens oder mit seinem Besitzer unterwegs.
Kematian holte seine Maske unter dem Umhang hervor und setzte sie auf, ehe er das Grundstück betrat. Kalt war der Wind, obwohl es noch einige Monate dauern würde, bis der Winter hereinbrach. Doch hier im Norden senkten sich die Temperaturen schnell, sobald die letzte Ernte eingetrieben war und nicht selten geschah es, dass die Pflanzen erfroren, weil es über Nacht so eisig geworden war, dass die Kälte alles Leben auslöschte.
In dieser Zeit sammelten die Wachen unzählige Tote aus den Straßen. Menschen, aber vor allem Elfen, denen es nicht gelungen war, einen warmen Platz für den Winter zu finden. Obdachlose hatte die Stadt zu genüge, denn keiner von ihnen konnte die Mauern verlassen. Entweder sie wurden von den Wachen aufgehalten oder von den Katakomben verschlungen.
Armut regierte die Stadt. Ihre Hand hielt sie hoch über die Häuser und ließ die Einwohner wie Puppen nach ihrem Willen tanzen.
Wenn sich Kematian das Anwesen des Herzogs ansah, dann verstand er auch, wohin all der Reichtum, den die Stadt durch den Handel verdiente, floss. Aber er selbst sollte nicht heucheln, denn er hatte durch seine Tätigkeit als Rabe auch ein halbes Vermögen verdient.
Er machte kaum ein Geräusch, als er auf dem Sandweg entlang ging. Auch auf den Stufen, die zur Eingangstür führten, dämpfte er seine Schritte. Aus dem Inneren hörte er Stimmen, aber sie waren so weit entfernt, dass er sich sicher war, dass sie ihn nicht bemerken würde, wenn er ins Herrenhaus schlich.
Er legte seine Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Die Tür öffnete sich. Es verwunderte ihn zwar, dass sie nicht abgeschlossen war, aber er schob es darauf, dass Adelige alle gleich waren. Sie glaubten, sie wären unantastbar, bis sie Besuch von den Raben bekamen. Danach änderte sich ihre Einstellung drastisch und sie legten mehr Wert auf ihre Sicherheit. Aber jeder Leibwächter, alle Wachhunde und all diese Schlösser hatten Kematian bisher noch nie aufhalten können.
Der Rabe seufzte und zwang sich die glücklichen Erinnerungen zu verdrängen. Zunächst musste er sich um diesen Auftrag kümmern.
Vorsichtig schlich er sich in das Haus und schloss die Tür hinter sich. Die Eingangshalle war, wie er es sich von dem Herzog vorgestellt hat. Prunkvoll, marmorn und golden. Bilder der männlichen Familienmitglieder priesen die Kestrel-Dynastie.
Die beiden Stimmen waren im hinteren Teil des Anwesens, aber für sie interessierte er sich nicht. Er suchte das Schlafzimmer des Kindes. Die Wirkung, wenn er sich bei Nacht in das Haus schlich, war zwar eine bei weitem größere, aber die Raben hatten nicht genau bestimmt, wie oder was er tun sollte.
‚Hinterlasse eine Warnung'. Das war sein Auftrag.
Kematian stieg die Treppe hoch. Er wollte den Stimmen so fern wie möglich bleiben und sich erst im oberen Teil des Anwesens umsehen. Vielleicht hatte er Glück und würde unter den abertausenden Zimmern das richtige finden.
Tür um Tür öffnete er, nur um sie wieder zu schließen, weil sich dahinter kein Kinderzimmer verbarg. Dutzende Räume suchte er ab, aber keiner war der richtige.
Doch dann hörte er einen Herzschlag. Klein und schneller als bei einem erwachsenen Menschen. Das Kind. Es war hier im oberen Stockwerk, hielt vermutlich gerade Mittagsschlaf.
Ein grimmiges Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Welch ein Glück er heute doch hatte.
Er folgte dem Schlagen des Herzens und fand das Schlafzimmer des Kindes schnell. Leise schlich er an die Wiege heran.
Das kleine Mädchen war erst wenige Wochen alt. Braune Löckchen kringelten sich um das runde Gesicht. Die Augen hatten sie geschlossen und in ihrem Arm lag eine kleine Stoffpuppe. Auf einem glänzenden Emblem, das an der Seite der Wiege befestigte war, stand ihr Name eingraviert in das Metall.
Isabella.
Kematian wandte sich ab. Er wollte das Kind nicht wecken und damit riskieren, dass sie Mutter ins Zimmer gestürmt kam und ihn bei der Arbeit unterbrach.
Unter seinem Umhang holte er ein Messer hervor und zog die Schneide quer über seine rechte Handfläche. Die Spitze seines linken Zeigefingers benetzte er mit dem Blut und wandte sich der Wand zu. Er hatte sich etwas wenig Spektakuläres überlegt, das dafür aber umso deutlicher war.
Er legte seinen Finger an die noch saubere Wand und schrieb: Die Raben senden ihre Grüße. Klar und gut leserlich die Schrift, ohne Verschnörkelungen und ohne unnötige Zierde. Der Herzog soll sofort wissen, was geschehen war, wenn er hier ankam.
Zufrieden mit seinem Werk wandte er sich ab und trat wieder auf die Wiege zu. Isabella hatte ihre Augen immer noch geschlossen. Unter seinem Umhang zog er eine schwarze Feder hervor und legte sie in die Wiege.
„Hoffen wir mal, dass dein Vater seine Sache gut macht", murmelte Kematian und strich über die braunen Löckchen. „Ansonsten werden wir uns bald wiedersehen." Kinder hatte er schon immer ungern umgebracht.
Ein Geräusch riss ihn von dem Säugling los. Das Quietschen eines Tores. Mit weiten und dennoch leisen Schritten ging der Rabe zum Fenster und sah, wie der Herzog und an dessen Seite sein Wolf das Grundstück betraten.
Kematians Blick verdunkelte sich. Auf demselben Weg, wie er hereingekommen war, konnte er das Anwesen nicht verlassen. Der Wolf schnüffelte am Boden und japste dann kurz auf, um seinem Herrchen zu signalisieren, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging.
Der Herzog verstand sofort. Er beschleunigte seine Schritte und nur wenige Sekunden später, hörte Kematian das Öffnen der Eingangstür. Der Wolf jedoch blieb draußen und wollte die Schmach des letzten Treffens mit dem Raben wiedergutmachen. Damals war er furchtsam geflüchtet, doch heute würde er sich stellen. Er streifte auf dem Grundstück umher und wartete, bis der Eindringling sich in seinen Weg wagte.
Einige Sekunden nach dem Schließen der Tür, öffnete Kematian das Fenster. Er trat auf den Balkon, der sich um das erste Obergeschoss zog und von dort aus sprang er über die Brüstung einige Meter in die Tiefe. Geschmeidig wie ein Raubtier, weich wie eine Katze landete er auf seinen Füßen.
Aber der Wolf hatte das Geräusch gehört. Ehe der Rabe lossprinten konnte, hatte sich Dasan schon auf ihn gestürzt und am Bein gepackt. Seine Zähne versenkten sich tief in dem kalten toten Fleisch, rissen an der Wade.
Jedem gewöhnlichen Menschen hätte dieser Biss die Knochen gebrochen, aber Kematian stand wie ein Fels in der Brandung. Er schnalzte nur verärgert mit der Zunge und trat nach dem Wolf. Unter seinem Fuß spürte Kematian das Bersten der Knochen.
Dasan stieß ein Jaulen aus. Er flog einige Meter und brach am Boden zusammen. Doch er richtete sich wieder auf, schüttelte die Benommenheit und den Schmerz in seiner Bauchgegend, wo ihm eine Rippe ins Fleisch stieß, ab und wollte sich wieder auf den Eindringling stürzen.
Aber der Rabe war verschwunden. Er hatte die Chance genutzt und war geflohen. Die Beine des Wolfes zitterten. Nur durch die Aufgabe, sein Zuhause und seine Menschen zu beschützen, hatte er sich aufraffen können. Nun, da der Rabe verschwunden war, sank der Wolf in sich zusammen und blieb am Boden liegen.
Alarmiert durch das Jaulen des Wolfes kam Tavaren zurück auf den Hof, doch auch er konnte den Raben nicht mehr sehen. Statt aber den Eindringling weiter zu verfolgen, kniete er sich zu Dasan und strich ihm durch das Fell.
„Es wird alles gut", sagte er. „Ich bringe dich rein und lasse einen Heiler kommen." Er hob den Wolf an, bedacht nichts in seinem Inneren zu zerstören und trug ihn in das Haus.
Währenddessen war Kematian auf dem Weg zurück in die Stadt. Er war nicht so schnell wie sonst. Seine Wade zerrissen, fiel ihm das Laufen schwer und die Wunde heilte nur langsam, weil er schon lange nichts mehr gegessen hatte.
Trotzdem brauchte er nicht einmal die zwei Stunden, die er Ejahl genannt hatte, um zu ihm zurückzukehren.
Der Meisterdieb lief unruhig in seinem Zimmer umher. Die Fingernägel mittlerweile vollkommen abgebissen und eingerissen, bis es blutete. Sein Blick schoss zu den Raben.
„Kematian", begrüßte er ihn, „Ihr seid zurück." Er wollte auf ihn zugehen, aber er stockte und drehte lieber weiter seine Kreise.
„Habt Ihr, während ich fort war, etwas genommen?", fragte Kematian.
Ejahl schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, glaubt Ihr ansonsten würde ich so aussehen." Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet. Seine Hände zitterten und seine Beine waren wackelig, drohten bei jedem Schritt einzuknicken, aber noch hielten sie ihn.
Kematian ging zu dem Sofa und setzte sich. Er legte sein Bein auf dem Polster ab und schob das Hosenbein hoch, um die Wunde betrachten zu können.
Aus der Verletzung sickerte weiterhin Blut, aber der Biss heilte langsam.
„Blutet Ihr gerade auf meine Couch?", fragte Ejahl. Er trat zu dem Raben, blieb vor ihm stehen und sah entsetzt auf den roten Fleck, der sich unter Kematians Bein gebildet hatte.
„Für die Polster ist es sogar eine Verbesserung", entgegnete der Rabe.
Ejahls Blick verdunkelte sich. Er biss die Zähne zusammen, aber erwiderte nichts und schob nur das Bein von dem Sofa hinunter, damit er sich neben Kematian setzen konnte. Seine Hand führte er wieder an seinen Mund und er biss in seinen Zeigefinger, bis Blut floss.
Kematian beobachtete die Tat stumm und hielt dem Meisterdieb nur seinen Arm hin.
„Was soll ich damit?", fragte Ejahl.
„Beißt mich."
Der Meisterdieb sah ihn verwirrt an. „Läuft das nicht eigentlich anders herum?"
Kematian zuckte mit den Schultern. „Ich kann den Schmerz besser ertragen als Ihr. Außerdem werden Eure Menschenzähne mich schon nicht ernsthaft verletzen können."
Ejahl kommentierte die Erklärung nicht. Er verstand auch, ohne dass Kematian gesagt hatte, was der eigentliche Grund war. Der Rabe wurde hungrig, wenn er Blut roch, aber da er nichts bei sich halten konnte, konnte er diese Gier nicht stillen.
„In Ordnung", murmelte Ejahl. Er nahm Kematians Hand und biss in einen der Finger. Die Haut riss nicht ein, der Knochen brach nicht. Ungeachtet wie fest Ejahl auch zubiss, der Rabe zuckte nicht einmal zusammen.
„Wie habt Ihr Euch das genau vorgestellt?", fragte Kematian. „Weshalb soll ich hierbleiben?"
„Lenkt mich ab", murmelte Ejahl, den Finger weiterhin im Mund. Als hätte er eine plötzliche Idee, sah er auf und ließ die Hand los. Er wollte schon an Kematian heranrücken, ihm einen Arm um die Schulter legen und sich auf dessen Schoß ziehen, aber der Rabe hielt ihn auf und schob ihn wieder ein Stück von sich.
„Wie oft muss ich es Euch noch sagen?", sagte Kematian. „Mein Körper ist tot. Ich kann nicht."
Ejahl brummte kurz und verschränkte die Hände vor der Brust. „Ihr könntet mir doch wenigstens einen Kuss geben", murmelte er.
Kematian stieß ein belustigtes Schnauben aus. „Und was hätte ich davon? Euch zu küssen, ist nicht gerade eine Freude."
„Ihr seid heute wieder so freundlich", sagte Ejahl und deutete dann auf die Wunde in Kematians Bein. „Hat der Wolf Euch erwischt?"
Der Rabe nickte stumm.
„Ihr habt ihn doch hoffentlich nicht umgebracht. Dann würde Tavaren Jagd auf die Raben machen."
Kematian fiel dem Meisterdieb ins Wort, ehe er weitersprechen konnte. „Der Wolf wird es überleben", sagte er und schwieg danach wieder.
Ejahls Blick verfinsterte sich weiter. Er versuchte verzweifelt eine Unterhaltung mit Kematian anzufangen, um sich von dem Zittern in seinen Händen, der Unruhe und dem Herzrasen abzulenken, aber in dem Raben fand er keinen Gesprächspartner.
„Erzählt mir etwas", sagte Ejahl, um ihn aus der Wortkargheit zu locken.
Kematians Brauen schoben sich zusammen. „Was wollt Ihr wissen?"
„Wenn Ihr tot seid, wie kamt Ihr dann zu Ava?", fragte Ejahl. „Sie kann nicht Eure leibliche Tochter sein."
Er sah, wie sich Kematians Kiefer anspannte. Es war etwas, über das der Rabe nicht reden wollte, aber nach einigen Sekunden öffnete er seinen Mund und sagte: „Es war ein Auftrag. Jeder in dem Haus sollte sterben. Einfacher ging es nicht." Er blieb wieder einige Sekunden still. „Ein armes Bauernpärchen mit zwei Kindern. Sie hatten sich bei irgendeinem Landverpächter unbeliebt gemacht aus irgendwelchen Gründen, die mich nicht interessiert haben. Er wollte sie einfach von seinem Land verschwunden wissen.
Ich schlich mich in das Haus und fand die Eltern, schlafend im gemeinsamen Bett. Dann deren erstes Kind, ein Junge von zwölf Jahren und dann ein zweites Kind, auch ein Junge diesmal aber sieben. Vier Familienmitglieder sollten es sein, aber es gab ein fünftes von dem man mich nicht unterrichtet hat.
Gerade als ich mich umdrehen und das Haus verlassen wollte, hörte ich einen weiteren Herzschlag, der mich zu einem kleinen Mädchen führte. Sie war nur wenige Tage alt. Unschuldig. Also nahm ich sie bei mir auf.
Die Raben waren nicht glücklich, als sie davon erfuhren und legten mich an die Kette. Eine falsche Bewegung und sie stirbt. Aber sie nahmen mir Ava nicht weg und solange ihr nichts geschieht, ist es mir gleich, was sie von mir verlangen."
Ejahl nickte nur und murmelte: „Ich verstehe." Er hatte schon lange bemerkt, dass der Rabe vielleicht oft seine Krallen ausfuhr, aber tief in seinem Inneren hatte er doch noch ein Herz. Selbst wenn es kalt, verdorrt und tot war, selbst wenn es nicht mehr schlug und keine Regung der Menschlichkeit vermuten ließ. Denn genau dieser Rabe hatte ihn damals aus den Katakomben befreit, ihn vor dem sicheren Tod gerettet und nicht mal eine Gegenleistung zu verlangen.
„Wie lange wird es noch dauern, bis die Sonne untergeht?", fragte Ejahl.
Falls Kematian diese Frage verwunderte, so ließ er sich trotzdem nichts anmerken. „Einige Stunden wohl noch. Warum?"
„Ich würde gerne rausgehen, aber das Sonnenlicht macht mir Angst", antwortete der Meisterdieb.
Kematian schnaubte nur, aber Ejahl wusste, dass er ihn in der Nacht durch die Straßen der Stadt begleiten würde.
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