In rabenschwarzer Nacht I
Die Sonne stand schon tief, als Lloyd endlich das Niemandsland hinter sich gelassen hatte. Der erste Schnee war gefallen und bedeckte die Asche, den Staub und alles Grauen des Krieges. Diese Welt, die er als grau und verregnet kannte, hatte sich in ein weißes Paradies verwandelt.
Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Schon nach wenigen Augenblicken löste er Kopfschmerzen bei Lloyd aus.
Mit einer Hand umfasste er den dicken Pelzrand seiner Kapuze, damit der Wind sie nicht von seinem Kopf blasen konnte und stapfte weiter durch den Schnee.
Er hasste die Kälte.
Schon jetzt konnte er in der Ferne ein Licht zwischen dem schneebehangenen Wald aufblitzen sehen. Seine Unterkunft – Ein Gasthaus, in dem niemand fragen würde, was ein Elf außerhalb des Großen Waldes machte. Jedoch dauerte es noch eine halbe Stunde, ehe er sich zu dem Gebäude gekämpft hatte.
Als Lloyd die Tür aufstieß, waren seine Stiefel völlig durchnässt und seine Füße begannen taub zu werden. Er trug den Schnee von draußen auf den hölzernen Boden, auf dem sich schon einige dunkle Wasserflecken befanden.
Der Wirt schenkte ihm einen abschätzigen Blick. In einer Ecke saß eine in schwarz gehüllte Gestalt, die Kapuze ebenso tief ins Gesicht gezogen wie der Elf. Außer den dreien war das Gasthaus leer. Ein kleines Feuerchen prasselte im Kamin und spendete zumindest ein bisschen Wärme, die das Eis in Lloyds Knochen vertrieb. Heute würde er keinen Fuß mehr vor die Tür setzen.
Er trat an den Tresen heran und reichte dem Wirt einen Zettel. Der Wirt entfaltete ihn und las. Dann sah er den Prinzen skeptisch an, gab ihm das Stück Papier zurück und sagte: „Das Zimmer ist belegt."
„Bitte?" Lloyd glaubte, sich verhört zu haben. Das Zimmer war den Elfen vorbehalten. Schon seit Generationen gab es ein Abkommen mit diesem Gasthaus.
„Das Zimmer ist belegt", wiederholte der Wirt nun lauter.
Innerlich seufzte Lloyd. Er hatte sich also nicht verhört. „Ist ein anderes Zimmer frei?", fragte er.
„Nein." Mit diesem Wort wandte sich der Wirt schon von ihm ab.
Lloyds Brauen schoben sich zusammen. Das Gasthaus war nahezu leer. Dieser Wirt wollte ihn nur abwimmeln. „Von wem ist das Zimmer belegt?", fragte er.
Der Wirt deutete mit dem Kopf auf die Gestalt in der Ecke.
Natürlich, dachte Lloyd, wer auch sonst. Er wandte sich ab und ging zu dem Fremden. Gerade als er einen Stuhl zurückziehen, und sich zu ihm setzen wollte, sah der Fremde auf. Unter der Kapuze kam ein bleiches Gesicht zum Vorschein. Zwei graue Augen blickten den Elfen gleichgültig an.
„Ihr belegt mein Zimmer", sagte Lloyd.
Der Fremde hob eine Augenbraue und durchbohrte ihn weiter mit abschätzigem Blick. Lloyd schluckte. Irgendetwas an diesem Mann war merkwürdig.
Der Elf zwang sich ebenso fest zurückzustarren, obwohl ihm immer flauer im Magen wurde, desto weiter die Stille anschwoll.
„Und?" Dieses Wort stach wie ein Messer in Lloyds Brust und brach sein Herz auf, um eine Seite von ihm zu befreien, die er für gewöhnlich zurückhielt. Angst.
Lloyd senkte seinen Blick. Seine Knie wurden weich, sodass er sich an der Lehne des Stuhles abstützen musste. Er atmete tief durch. Es war nur ein Mensch, redete er sich ein. Wie könnte ein Mensch ihn ängstigen?
Er sah wieder auf. Der Fremde hatte sich weder bewegt noch den Blick abgewendet. Seine Augen wanderten an Lloyds Kleidung hinab, musterten den Elfen und fuhren wieder hoch. An seinem Hals, der durch den Pelzkragen halbverdeckt war, blieben sie haften. Zu der Gleichgültigkeit mischte sich etwas anderes. Gier.
„Ich bin mir sicher, dass wir uns einigen können", sagte der Fremde und stand auf. Er war größer als Lloyd. Weit größer. Und sein Kreuz war so breit, dass der Elf sich ohne Schwierigkeiten dahinter verstecken könnte. Mit einer Kopfbewegung deutete er dem Elfen an, ihm zu folgen.
Lloyd war sich sicher, dass er sich nicht auf diesen Fremden einlassen sollte.
Alles in ihm schrie, dass er fortlaufen sollte, aber er konnte nicht zurück in den Großen Wald. Den Auftrag fehlschlagen lassen, weil das Zimmer nicht frei war, dann könnte er seinem Vater niemals mehr unter die Augen treten.
Und daher folgte Lloyd ihm. Falls der Fremde Geld wollte, so könnte er es ihm geben, falls er jedoch etwas anderes wollte... Er schluckte. Das würde er spontan überlegen. In größter Not könnte er dem Fremden einfach die Hände brechen. Mit einem Menschen wurde er schließlich fertig.
Er folgte dem Fremden in das obere Stockwerk des Gasthauses, wo sich die Zimmer befanden. Eine der Türen öffnete er und schob Lloyd an sich vorbei in den Raum. Hinter sich hörte der Elf ein leises Klicken, als der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Also kein Gold... Lloyd hatte von ganzem Herzen gehofft, dass der Fremde nur Gold wollte. Er sah sich im Zimmer um auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit oder einem Gegenstand, der ihm bei einem Kampf tauglich sein würde.
Doch er fand etwas anderes. Etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine schwarze Maske in Form eines Rabenschnabels. Nun wusste er, weshalb der Wirt dem Fremden das Zimmer gegeben hatte. Einem Raben schlug man nichts ab.
Innerlich ohrfeigte er sich. Warum hatte er nicht erkennen können, dass sein Gegenüber ein Rabe war? Dann hätte er irgendwie einen anderen Weg gefunden und sich von ihm ferngehalten. War man einem dieser Attentäter erstmal aufgefallen, dann ließen sie einen nicht mehr aus den Augen.
Der Rabe verfolgte Lloyds Blick und stieß ein Schnauben aus. Dieses Geräusch ließ den Prinzen nach vorne springen, herumwirbeln und einige Schritte vor dem Raben zurückweichen. Sein Herz drohte ihm vor Angst aus der Brust zu springen.
Der Rabe legte seinen Umhang ab und warf ihn auf einen Stuhl. Die Kleidung, die er darunter trug, war dunkel, bestens geeignet, um sich des Nachts ungesehen nach einem Mord davonzustehlen, aber völlig untauglich für das frostige Wetter. Einer der Hemdsärmel war aufgerissen, als wäre er mit einer Klinge angegriffen worden, aber seine weiße Haut darunter war unverletzt. Seine dunklen Haare waren lang genug, dass er sie in einem Zopf trug, doch an den Seiten kurz rasiert.
„Da Ihr nun wisst, was ich bin", sagte der Rabe. Seine Stimme ließ Lloyds Nackenhaare aufstehen. „Könnte ich Euch natürlich sofort umbringen, aber dann würde Euer Blut so schnell erkalten."
Lloyd begann zu zittern. Gegen einen Raben konnte nicht einmal er etwas ausrichten.
„Stattdessen werde ich Euch am Leben lassen, sofern Ihr genau das tut, was ich Euch sage." Der Rabe verschränkte die Arme vor der Brust und wartete auf eine Antwort.
Lloyd brauchte keine Zeit, um über dieses ‚Angebot' nachzudenken. Es gab nur eine Wahl, die sein Leben verschonen würde. „In Ordnung...", murmelte er.
In Selbstgefälligkeit zuckten die Mundwinkel des Raben. „Legt Eure Waffen ab", sagte er.
Mit zitternden Händen öffnete Lloyd die Schnalle seines Waffengürtels. Mehrfach rutschte er ab, hatte Schwierigkeiten seine Bewegungen präzise auszuführen. Und daher dauerte es einige Sekunden, bis der Gürtel samt Kurzschwert auf dem Boden lag. Der Rabe betrachtete ihn dabei und brachte ihn nur dazu, noch stärker zu zittern. Ob er ungeduldig war, wusste Lloyd nicht. In der Miene des Raben konnte er keine Regung ablesen, aber er wollte nichts riskieren. Und auch der Rabe würde sich nicht in Gefahr begeben, indem er ihm half.
Hastig legte Lloyd seinen Umhang ab und zeigte dem Raben die Innenseite. „Versteckte Taschen", erklärte er und ließ das Stück Stoff auf die Dielen sinken.
Daraufhin schlüpfte er aus seinen Stiefeln und sagte: „Doppelte Sohlen." Auch diese Handlung beobachtete der Rabe. Ein Funken Anerkennung entzündete sich in seinen Augen, aber er erlosch so schnell wieder, dass Lloyd sich sicher war, er hätte es sich nur eingebildet.
Der Elf überlegte noch einmal genau, ob er noch eine Waffe bei sich trug. Wenn der Rabe sie nämlich finden würde, wollte Lloyd nicht auf dessen Gnade angewiesen sein. Denn jeder wusste: Ein Rabe besaß keine Gnade.
„Das ist alles", sagte er. Seine Stimme zitterte.
„Legt Euer Oberteil ab", sagte der Rabe. Sein Ton gewährte keine Widerworte. Lloyd versuchte tief durchzuatmen, um sich für das Bevorstehende zu widmen, aber seine Kehle schnürte sich zu. Seine Finger gehorchten ihm nicht. Es dauerte viel zu lange, ehe der erste Knopf geöffnet war und noch länger, bis der zweite offen war. Gefühlte Stunden vergingen. Doch schlussendlich gesellte sich auch sein Hemd zu der restlichen Kleidung auf dem Boden. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Herz schlug so laut, dass er Angst hatte, sein Gegenüber könnte es hören.
„Ihr habt Angst?" Der Rabe ließ es wie eine Frage klingen, aber das siegesbewusste Grinsen auf seinen Lippen zeigte, dass er sich Lloyds Gefühlen bewusst war. „Das solltet Ihr auch." Mit wohlgesetzten Schritten kam er näher. Wie eine Raubkatze, die sich ihrer Beute nährte. Nur war der Prinz an diesem Abend die Beute.
Lloyd wollte zurückweichen, aber noch ehe er einen Schritt machen konnte, hielt der Rabe seinen Arm in festem Griff. Als würde er nichts wiegen, schleifte er ihn zum Bett und warf ihn auf die Matratze. Einen Wimpernschlag später, so schnell, dass Lloyd ihn kaum gesehen hatte, war der Rabe schon über ihn gebeugt. Hatte er sich bis jetzt noch zurückgehalten, wurde es nun ernst. Über die graue Iris des Raben legte sich ein dunkler Schleier. Alles, was aus diesen Augen tropfte war Gier. Und plötzlich wurde Lloyd eine Sache schmerzlich bewusst. Dieser Mann würde alles tun, um seine Gier zu befriedigen. Auch vor demjenigen, das schlimmer ist als der Tod, würde er nicht zurückschrecken.
Lloyd wollte gerade seinen Mund öffnen, um den Raben um Gnade zu bitten, da legte sich eine Hand über seinen Mund und erstickte seine Worte.
„Wehrt Euch nicht, dann wird es ganz schnell gehen", sagte der Rabe und hob seine Hand von dem Gesicht des Elfen.
Schnell?, wiederholte Lloyd in Gedanken. Schnell hieß, dass es für ihn schmerzhaft war.
Der Rabe senkte seinen Kopf zu Lloyds Hals und begann an der dünnen Haut zu saugen. Seine Hand umfasste Lloyds Kehle und drückte sein Kinn hoch.
Das Blut schoss dem Prinzen in die Wangen. Er stemmte seine Hände gegen den breiten Oberkörper und versuchte ihn von sich zu schieben, aber der Rabe rührte sich kein Stück. Es war, als wollte Lloyd einen Berg verschieben.
Ein belustigtes Schnauben traf sein Ohr. Dem Raben gefiel es, wenn sich seine Beute zur Wehr setzte. Aber Lloyd war kein Schaf, dass sich ohne Wehr von einem Wolf reißen ließ... Oder so dachte er zumindest. Denn ungeachtet, wie sehr er auch um sich trat, wie sehr er auch mit seinen Fäusten gegen die Brust des Raben trommelte, er ließ nicht von ihm ab.
Und plötzlich spürte er ein leichtes Schaben an seinem Hals. Wie von einem Messer. Sofort gefroren seine Bewegungen. Er wollte nicht sterben.
Der Rabe vergrub sein Gesicht in Lloyds Hals und sog tief Luft ein. „Ihr riecht absolut köstlich", murmelte er.
Lloyd krallte seine Hände in dem Hemd des Raben fest, bis das Weiße seine Knöchel zum Vorschein kam, und kniff die Augen fest zu, auch wenn er nicht so einfach aufgeben wollte. Denn er realisierte, dass er keine Möglichkeit hatte, den Raben aufzuhalten.
Leiser Schmerz schnitt in seinen Hals. Er presste die Lippen zusammen, wollte kein Wimmern aus seinem Mund treten lassen, und klammerte sich stärker an dem Raben fest, als könnte dies ihn überzeugen, aufzuhören.
Aber der Rabe achtete kaum auf die Gestalt, die unter ihm lag. Seine Lippen legte sich auf die Wunde und er begann zu saugen. Jedoch war der Biss nicht tief genug, dass er satt werden könnte und daher legte er erneut die spitzen Zähne an die dünne Haut.
Lloyd spürte das erneute Kratzen an seiner Kehle. Er bereitete sich auf erneuten Schmerz vor, doch nichts geschah.
Als er die Augen öffnete hatte sich der Rabe von ihm gelöst und aufgerichtet. Einige Sekunden verblieb er in der Position, dann stand er von dem Bett auf.
„Ihr könnt das Zimmer haben", sagte er, während er seine Habseligkeiten zusammenpackte.
Halb in Trance richtete sich Lloyd ebenfalls auf und sah ihm dabei zu, wie er seinen Umhang überwarf und die Maske aufsetzte. Mit hastigen Schritten ging er daraufhin zum Fenster und öffnete es. Kalter Wind wirbelte in das Zimmer und strich über Lloyds nackte Schultern.
„Wa—", setzte er an, aber der Rabe unterbrach ihn. „Ich hole mir die Bezahlung später ab." Mit diesen Worten sprang er aus dem Fenster und ließ den Elfen verwirrt zurück.
Erleichterung aber wollte ihm noch nicht in die Knochen kriechen. Jetzt hatte er ‚Schulden' bei dem Raben zu begleichen.
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