Gnade III
„Meinetwegen hättet Ihr nicht aufhören brauchen", sagte Murasaki. Er hüpfte ein Stück durch den Raum, drehte sich einmal auf dem Absatz seiner Stiefel und lehnte sich dann mit verschränkten Armen gegen die Wand. „Ich stelle mich einfach genau hier hin." Von seinem Blickwinkel aus konnte er das ganze Bett einsehen.
Lloyds Blick verfinsterte sich weiter. „Macht Euch nicht lächerlich", sagte er.
Murasaki winkte ab. „Ich kann warten", sagte er. „Lasst Euch von mir bloß nicht stören." Er ließ eine Hand in seinem Ärmel verschwinden und holte seinen Fächer hervor. „Oder aber wir reden, während Elliot Euch durch–" Mit dem noch zugeschlagenen Fächer machte er eine undefinierbare Bewegung in Richtung des Bettes. „–huldigt. Mir ist es gleich."
Lloyd stieß ein Schnauben aus und kroch nun gänzlich unter Elliot hervor. Zu dem Drachen sagte er: „Verzeiht, wie es aussieht, müssen wir dies auf später verschieben."
Elliot nickte nur als Antwort. Er hob seinen Mantel vom Boden auf, zog ihn an und verließ dann das Zimmer. Murasaki winkte ihm zum Abschied und wartete, bis die Tür hinter dem Drachen zugefallen war, ehe er zu dem Elfen hüpfte und sich zu ihm auf das Bett setzte. Lloyd rückte sofort ein Stückchen zur Seite.
„Einmal hätte ich ja unbeachtet gelassen, Sweetie. Aber zweimal?" Murasaki lehnte sich vor und richtete den zugeklappten Fächer auf Lloyds Brust. „Ihr habt Euch ja tatsächlich einen Drachen angelacht."
Lloyd gab sich keine Mühe, ein Augenrollen zu unterdrücken und richtete nur stumm sein Gewand.
„Einen Drachen." Murasaki schlug den Fächer auf und verdeckte mit ihm die untere Hälfte seines Gesichts, aber sein Lächeln konnte er nicht verbergen. „Und dann auch noch Elliot." Er lachte leise in sich hinein. „Ihr fahrt doch nicht etwa zweigleisig? ...Nein, dreigleisig. Da gab es ja noch diesen Raben. Wobei... Ihn sollten wir wohl besser nicht mitzählen. Er war ein wenig schwierig. Aber stattdessen vielleicht der Meisterdieb?"
Stumm hatte Lloyd den Worten des Erzählers gelauscht, aber nun sah er seine Chance, selbst du sprechen. „Was wolltet Ihr mit mir bereden?", fragte er.
„Ich?" Murasaki legte sich in einer viel zu theatralischen Geste die Hand an die Brust. „Wollte ich mit Euch reden?"
Lloyd hielt sich nicht einmal damit auf, die Augen zu verdrehen. Mit vollkommen ausdrucksloser Miene stand er auf. „Wenn das alles war, dann werde ich nun gehen." Er griff nach seinem Gehstock und wollte schon zur Tür gehen, aber Murasaki hüpfte ebenfalls auf die Füße.
„Zu Eurem Drachen?", fragte der Erzähler. „Ist seine ‚Gesellschaft' etwa angenehmer als meine."
„Ja", gab Lloyd trocken zurück. Er trat aus der Tür und schlug sie hinter sich zu in der Hoffnung, ihn abschütteln zu können. Doch wer hätte erahnen können, dass Murasaki ihm einfach in die Eingangshalle folgte?
„Ihr wollt mich doch nicht einfach allein lassen." Der Erzähler holte schnell zu ihm auf.
Lloyd schwieg, schob nur seine Brauen zusammen und beschleunigte seine Schritte. Er zweifelte, dass Murasaki von ihm ablassen würde, aber einen Versuch war es wert. Und zu seinem Erstaunen hielten die klirrenden Schritte neben ihm an, als er fast bei dem Dienstbotengang angekommen war.
Lloyd wollte weiterhumpeln und Murasaki keine Beachtung schenken, aber er konnte es nicht über sich bringen, ihm nicht zumindest einen kurzen Blick zu gewähren.
Der Erzähler stand vor der Statue des Gottes und sah zu ihm auf. Der goldene Blick ausdruckslos mit einem Hauch von Missfallen, als würde er sich an Regnas Abbild stören. „Ist es nicht faszinierend, wie sehr man doch versucht, etwas aus ihm zu machen, dass er niemals war?" Murasaki wandte sich zu Lloyd und winkte ihn zu sich. „Ich möchte Euch eine Geschichte erzählen." Er ging auf die Statue zu und setzte sich auf einen breiten Steinsockel, der einst als Altar gedient hatte. Dort rückte er auf eine Seite und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich. „Setzt Euch."
Lloyd sah noch einmal zu der Tür, die in den Dienstbotengang führte, aber dann seufzte er und humpelte zu Murasaki. Aber er zögerte, sich auf den Steinsockel zu setzen. Zwar war er nicht gläubig, aber es erschien ihm trotzdem falsch, sich auf einem Altar niederzulassen.
Murasaki bemerkte das Zögern und deutete noch einmal auf den Platz neben sich. „Er wird es Euch schon nicht übelnehmen", sagte er.
Lloyd seufzte erneut, setzte sich aber ohne Widerworte neben den Erzähler. „Dann fangt an. Ich höre Euch zu." Den Gehstock lehnte er an den Altar. In Griffnähe, falls er spontan aufstehen und fliehen wollte.
Ein Lächeln zupfte an Murasakis Mundwinkel, kraftlos und schwach. Er hob den Fächer leicht an, um die untere Hälfte seines Gesichts zu verbergen.
„Es ist die Geschichte eines Propheten, der stets die Wahrheit sah, sie jedoch nie erkannte", begann er. „Auf seiner Reise wurde er zu einem Gott und stürzte, verehrt von jedem, jeden ins Verderben. Er brachte Wunder in diese Welt und als er verschwand, nahm er auch sie mit sich."
Er überschlug seine Beine und berührte dabei Lloyd leicht mit seinem Fuß. Als hätte er sich verbrannt, zuckte er zurück und fuhr kommentarlos fort: „Als er einst in diese Welt kam, war er noch ein Prophet, aber schon damals lasteten Verbrechen auf seinen Schultern. Doch er versuchte sein bestes, um die Geschehnisse der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Jedem Hungernden an seiner Schwelle gab er Nahrung. Jeden, den er retten konnte, versuchte er zu retten und selbst den Todgeweihten schenkte er das Leben."
Sein Blick schweifte von Lloyd fort und richtete sich nach vorne. Mitten in die Leere. „Bald wurden ihm Schreine erbaut, man kniete vor seinem Abbild. Als Gott der Wunder und als Hüter der Wahrheit wurde er verehrt. Doch... was nützt die Wahrheit einem Lügner? Was hat er davon, sie zu schützen?"
Für den Bruchteil einer Sekunde richtete Murasaki seine Augen auf Lloyd, aber es gelang ihm nicht, den Ausdruck in ihnen einzufangen. „Es gibt zahlreiche Gründe, an denen er letztlich zugrunde ging. Der Druck, der auf ihm lastete. Stets wollte er alle Wünsche erfüllen, doch immer öfter fand er sich zitternd in einer Ecke wieder. Ängstlich, dass seine Jünger sich von ihm abwenden, wenn er nur einen Fehler macht.
Weiter und weiter mehrten sich die Bilder, Prophezeiungen, die auf ihn einstürzten, so sehr, dass er nicht länger sehen konnte, obwohl sich alles direkt vor seinen Augen befand. Daher verkündete er Falsches. Manchmal war es nur Banales. Einem Ehepaar prophezeite er einen Sohn, doch das Kind wurde eine Tochter. Einem Bauern gab er Aussicht auf gute Ernte, doch im Winter musste seine Familie hungern.
Mehr und mehr Rückschläge erlitt er. Ein Blinder, dem er zuvor das Augenlicht zurückgab, verlor es wieder. Diejenigen, die er geheilt hatte, starben und er kam zu spät, um sie zu retten. Kinder, denen er seinen Segen gegeben hatte, erkrankten und er konnte keine Heilung finden.
Aber das Ausmaß seines größten Verbrechens, seiner größten Fehleinschätzung, liegt noch in der Zukunft. Zwei verfeindeten Völkern verkündete er, sie fänden Frieden durch ein und dieselbe Person." Murasaki schwieg kurz. Sein Blick flackerte erneut zu Lloyd, nur um sich danach wieder starr nach vorne zu richten.
Er seufzte leise, ehe er weitersprach. „Ein König, ganz in Weiß und doch nennt er sich ‚dunkel', soll Frieden bringen. Doch wie viel Krieg muss er erst führen, bis er Frieden erlangt? Aus wie vielen Freveln besteht eine Heldentat?"
Er sah zu Lloyd, als erwarte er eine Antwort, aber der Elf schwieg und Murasaki fuhr fort: „Erst als es schon zu spät war, erkannte der Gott seinen Fehler. Aus Angst blieb er stumm, obwohl er wusste, was geschehen sollte. Er würde sich niemals einem reißenden Strom in den Weg stellen, niemals glauben, dass er einen Felsbrocken, der einen Berg herabrollt, aufhalten könnte.
Mehrfach wollte er die Wahrheit sprechen, aber letztlich log er. Denn Lügen begleiteten ihn stets auf seinem Weg. Ewig einsam, doch niemals allein. Ewig liebend, doch niemals geliebt.
Als Gott sollte er leben, doch als Verräter untergehen. Vor seinen Tempeln, erbaut auf Lügen, knien diejenigen, die seinen Täuschungen erlagen." Murasaki seufzte. Er klappte seinen Fächer zu und ließ ihn in seinem Ärmel verschwinden, ehe er Anstalten machte, aufzustehen, aber der Elf hielt ihn zurück.
„Was ist mit ihm geschehen?", fragte Lloyd.
Murasaki sah zu ihm. Das Gold verschloss jede Regung in seinem Innersten. „Es gibt verschiedene Enden zu dieser Geschichte", sagte er. „Manche glauben, dass er sich zurückgezogen hat und elendig in einer kleinen Hütte mitten im Nirgendwo gestorben sei. Andere sagen, dass er ein letztes Mal vor seinem Tod Wunder vollbringen wollte. Er versammelte all seine Jünger in einem seiner Tempel und sagte ihnen, dass sie ihn mit Schwertern durchbohren sollen. Für jede Klinge gewährte er ein Wunder. Stundenlang erlitt er diese Qualen, doch letztlich starb er, obwohl er ein Gott war."
Er machte eine kurze Sprechpause, in der er tief Luft holte. „Doch es gibt noch ein drittes Ende. Eines, an das kaum jemand glaubt, denn diese Geschichte trug sich vor mehreren Jahrhunderten zu und seitdem hat den Gott niemand mehr zu Gesicht bekommen. Aber einige glauben, dass er sich zurückgezogen und die Zeit überlebt hat. Dass er es nicht mehr wagt, in die Zukunft zu sehen oder Wunder zu vollbringen. Niemanden duldet er an seiner Seite, denn einsam war er immer und einsam will er stets bleiben."
„Und an welches Ende glaubt Ihr?", fragte Lloyd, auch wenn er nicht erwartete, dass der Erzähler ihm eine Antwort geben würde.
Murasaki stand auf, trat einige Schritte von dem Altar fort und drehte sich dann zu ihm um. „Ich glaube an jedes und an keines", sagte er. „Doch fragt ihn am besten einfach selbst nach der Wahrheit. Wenn Ihr Glück habt, dann hat er uns gelauscht. Ihr sitzt schließlich auf seinem Altar."
„Auf seinem Altar...?" Lloyd begriff nur langsam, wessen Geschichte Murasaki ihm gerade erzählt hatte. Regnas.
Erschrocken sprang er auf die Füße, aber unerwarteter Schmerz zuckte durch sein Bein und sein Gewicht konnte es nicht länger halten. Er kippte nach vorne, aber ehe er gegen Murasaki stoßen konnte, machte der Erzähler einen Satz zur Seite, sodass Lloyd mit dem Gesicht voran auf den Boden gestürzt wäre, hätte er nicht gerade rechtzeitig seine Arme hochgerissen.
Auf den kalten Fliesen blieb er liegen und murmelte leise: „Aua..."
Das Klirren trat an ihn heran und ein Schatten beugte sich über ihn. „Geht es Euch gut?"
Lloyd brummte nur als Antwort und stützte sich auf seine Hände, um aufzustehen. Murasaki griff einen seiner Arme und half ihm auf die Füße.
Der Elf wandte sich schon ab und wollte zurück zum Altar gehen, um seinen Gehstock aufzusammeln, aber Murasaki hielt ihn fest und zog ihn zu sich zurück. Er nahm sein Gesicht in die Hände, sodass er den Kopf nicht länger drehen konnte, und starrte ihm in die Augen.
„Murasaki?", fragte Lloyd, aber er bekam keine Antwort. Stattdessen machte der Erzähler mit ihm eine halbe Drehung und hob das Kinn des Elfen an, sodass dieser nun direkt in das Licht der Kristalle an Decke und Wänden sah. Er schloss die Lider, weil das Glitzern ihn blendete.
„Öffnete Eure Augen", sagte Murasaki in ruhigem Ton. „Ich möchte etwas überprüfen."
Lloyd schob seine Brauen zusammen, aber er tat, wie geheißen. Die wenigen Sekunden in Dunkelheit ließen das Licht nun noch greller erscheinen. Er blinzelte und bemerkte, wie seine Augen feucht wurden, aber er schloss sie nicht noch einmal.
Stumm beobachtete Lloyd jede von Murasakis Bewegungen. Der goldene Blick ruhte auf ihm, genauer gesagt auf seinen Augen. Eine leichte Falte bildete sich zwischen Murasakis Augenbrauen. Er drehte den Kopf des Elfen ein Stück zur Seite und rückte näher an ihn heran.
Lloyd, der die Gründe für Murasakis Verhalten nicht kannte, erstarrte. Kälte kroch ihm den Rücken herab und er nahm seinen Blick von dem Erzähler in der Hoffnung, ihn ausblenden zu können.
Das Licht um ihn herum verschwand. Der ganze Eispalast löste sich auf und Lloyd stand mit Murasaki in dem Zimmer neben der Bibliothek, in das der Erzähler ihn schon einmal gebracht hatte.
Lloyds Magen drehte sich um. Übelkeit machte sich in ihm breit und seine Knie zitterten.
„Setzt Euch", sagte Murasaki und deutete auf einen der Sessel. Er wandte sich ab und ging zu dem großen Schrank, öffnete ihn und wühlte in den abertausenden Phiolen herum.
„Was ist los?", fragte Lloyd. Er ging einen Schritt auf ihn zu, aber der Schmerz in seinem Bein erinnerte ihn daran, dass er sich doch lieber setzen sollte. Trotzig presste er die Lippen zusammen und humpelte zu dem Sessel, auf den Murasaki gezeigt hatte. Er setzte sich, das kaputte Bein halb ausgestreckt, weil das Einknicken zu viele Schmerzen bereitete.
„Fortuna ist Euch nicht gnädig gestimmt", sagte Murasaki, aber er drehte sich nicht um oder erklärte seine Worte. Erst als er das Fläschchen, das er gesucht hatte, fand, wandte sich zu dem Elfen.
„Ihr werdet blind", sagte er. „Eure Belohnung dafür, dass Ihr einen Blick in ihre Bücher geworfen habt."
Lloyd schob seine Brauen zusammen. Er wusste nicht, was er davon hielt oder ob er dem Erzähler überhaupt glauben sollte. Daher fragte er nur: „Wann?"
Murasaki hob und senkte seine Schultern. „Das ist schwer zu sagen. Vielleicht schon morgen, vielleicht erst in einige Jahren. Manchmal nimmt Fortuna das Augenlicht über Nacht, ohne zuvor eine Ankündigung zu geben, und manchmal ist es ein schleichender Prozess, bei dem die Welt nach und nach völlig lichtlos wird."
„Und ich kann nichts dagegen tun?", fragte Lloyd. Er wollte dem Erzähler nicht glauben, aber wenn es auch nur den Hauch einer Chance gab, dass er diesmal die Wahrheit sprach, dann konnte er nicht tatenlos warten, bis er blind wurde.
Murasaki schüttelte seinen Kopf. „Ganz aufhalten könnt Ihr es nicht." Er hielt ihm eine Phiole mit blauer Flüssigkeit entgegen. „Aber das hier sollte helfen, es zumindest ein wenig hinauszuzögern."
Lloyd beäugte das Fläschchen nur misstrauisch, aber er nahm es nicht an. Er erinnerte sich noch gut genug an den Abend in Cyrill, als Murasaki ihn mit seinen Substanzen beinahe umgebracht hätte. Daher schüttelte er als Antwort seinen Kopf.
„Habt Euch nicht so", sagte Murasaki und drückte ihm das Fläschchen in die Hand. „Überlegt es Euch zumindest. Licht ist nichts, das man ein einfach fortwerfen sollte. Verehrt es, solange Ihr könnt, aber wenn es Euch verlässt, dann lasst es ziehen."
Missmutig schob Lloyd seine Brauen weiter zusammen, aber er erwiderte nichts und behielt die Phiole in der Hand.
Murasaki betrachtete ihn währenddessen mit einem Lächeln, durch das Lloyd wusste, dass er – was auch immer der Erzähler ihm gerade gegeben hatte – nicht zu sich nehmen würde.
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