Gier I
Der Rabe stand nun schon seit zehn Minuten unter der Brücke bis zur Hüfte in dem sumpfigen Wasser. Wäre er sterblich, könnte er seine Beine nicht mehr spüren, so eisig war der Fluss, obwohl der Frühling schon angebrochen war.
Warum Ejahl sich gerade dieses Schmugglerversteck ausgesucht hatte, um die Nachricht zu übermitteln, wusste er nicht. Der einzige Grund, den er sich ausmalen konnte, war, dass der Meisterdieb ihm, solange er noch konnte, heimzahlen wollte, dass er sich bald um Ava kümmern sollte.
Kematian warf einen Blick auf seine Tochter am Ufer des Flusses. Ruhig saß sie auf einem Stein und malte mit einem Stock in dem Sand. Sein Umhang lag auf ihrer Schulter. Zwar war er ihr viel zu groß, aber er würde sie warmhalten, solange sie nicht in Bewegung waren.
Die Strahlen der aufgehenden Sonne verfingen sich in den blonden Locken und ließen sie golden glänzen. Rosig waren ihre Wangen, gefärbt durch die Kälte.
Kematian seufzte und wandte sich wieder der Suche nach dem Versteck zu. Jede Spur, die Ejahl hinterlassen hatte, war von dem Wasser weggeschwemmt worden, und jeder Geruch war lange verweht. Und da der Rabe dieses Versteck noch nie genutzt hatte, wusste er nicht, wo es sich befand.
Ejahls Hinweis, es befinde sich hinter einem Stein, half ihm unter der Steinbrücke auch nicht weiter. Ihm blieb keine andere Möglichkeit, als jeden einzelnen Stein abzutasten und zu schauen, ob er lose war.
Genau das war es, das Kematian seit nun elf Minuten tat. Er warf noch einen Blick auf seine Tochter, um sicherzugehen, dass sie sich nicht von ihrem Platz entfernt hatte. Ava saß weiterhin am Ufer des Flusses und stocherte im Sand herum.
Er richtete seine Aufmerksamkeit zurück auf die Brücke. Ein Stein ragte ungewöhnlich weit aus einem der Pfeiler heraus. Kematian watete dorthin und zog ihn vorsichtig heraus. Dahinter befand sich ein Hohlraum, in dem die kleine Notiz lag, die Ejahl für ihn hinterlassen hatte. Er nahm die Nachricht und steckte den Stein wieder an seinen Platz.
Vorsichtig, um das durchweichte Papier nicht zu zerreißen, faltete er den Zettel auf. Die Tinte war leicht verwischt, aber noch leserlich.
Imperium, eine halbe Stunde von Carsum entfernt. Lasst mich nicht zu lange warten.
Dem Herz, das Ejahl ans Ende der Nachricht gesetzt hatte, gab Kematian nur ein Augenrollen. Er stopfte den Zettel in seine Hosentasche, obwohl das Papier dort nass wurde und watete aus dem Wasser heraus.
„Wir können aufbrechen", sagte er zu seiner Tochter.
Ava ließ den Stock fallen und hüpfte auf die Füße. Sie wollte schon den Umhang von den Schultern nehmen und ihn Kematian reichen, aber der Rabe winkte ab.
„Ist schon gut", sagte er. „Mir ist nicht kalt."
Ava nickte nur leicht. Sie hatte schon bemerkt, dass heute etwas anders war. Ihr Vater hatte sie nicht wie sonst zu Milan gebracht, sondern heimlich und mitten in der Nacht geweckt. Er hatte sicherlich seine Gründe, daher wollte sie es nicht ansprechen und fragte auch nicht, wohin die Reise sie führte.
Bedrückende Stille lag über den beiden, als sie losgingen. Wortlos schob sie nur ihre Hand in seine. Ein verzweifelter Versuch, das Schweigen, das auf seinen Schultern lastete, zu durchbrechen. Und ihre Bemühungen trugen Früchte.
„Wir gehen in das Imperium", sagte Kematian. Er wollte seine Tochter nicht vollkommen ohne Informationen aus ihrer Heimat fortbringen. „Du wirst bei einem alten Bekannten von mir bleiben, bis ich zurück bin." Er drückte vorsichtig ihre Hand. Dies war die letzte Reise, die er mit ihr unternahm. Wenn er sie zu dem Meisterdieb gebracht hatte, plante er nicht, sie noch einmal wiederzusehen.
„Sein Name ist Ejahl", sagte Kematian. „Er ist zwar manchmal ein wenig seltsam, aber er wird gut auf dich Acht geben."
Er rang sich ein Lächeln ab, doch ließ es schnell wieder fallen, als er bemerkte, dass es zu aufgesetzt wirkte und drückte stattdessen noch einmal ihre Hand.
Abends passierten sie die Grenze in das Imperium. Von hier aus erstreckte sich eine weite, schier endlose Wüste, in der man leicht verloren gehen konnte, wenn man den Weg nicht genau kannte. Und selbst dann brauchte es nur einen Fehler und das Sandmeer würde einen verschlingen.
Er hatte Ava mittlerweile auf den Arm genommen, damit sie schneller vorwärtskamen. Schweigend war der Weg bis hierher und schweigend setzten sie ihn fort.
Mehrere Stunden vergingen, ehe Kematian Lichtpunkte, die zu Carsum gehörten, in der Ferne sehen konnte. Die Monde ließen den gelben Sand silbern funkeln und erleuchtete den Weg, den der Rabe ging. Denn er peilte nicht Carsum an, sondern die Wüste westlich der Stadt.
Ava war mittlerweile eingeschlafen und ließ sich von ihrem Vater tragen. Kematian wollte so schnell wie möglich Ejahls Unterkunft finden, ehe ein Sandsturm aufzog oder die Nacht noch kühler wurde.
Trotz des warmen Mantels zitterte das Mädchen in seinen Armen. Die Wüste tat ihr Bestes, sich von ihrer kältesten Seite zu zeigen.
Ein einziger Lichtpunkt erweckte Kematians Interesse. Mitten im Nirgendwo, doch genau dort, wo Ejahl sich aufhalten sollte.
Bald erkannte er, dass es sich um eine kleine Hütte handelte, die vor einer hohen Felswand errichtet und daher vor den Sandstürmen geschützt war. Von außen machte sie einen ganz angemessenen Eindruck.
Die Fenster verglast, das Dach und die Fassade heil. Ein kleiner Zaun, kaum hüfthoch, zog sich um das Grundstück, doch das Tor stand offen. Kleine Kakteen sprossen aus dem Sand und deuteten einen Weg direkt zu der Tür an.
Kematian musste zugeben, dass dies mehr war, als er von Ejahl erwartet hatte. All seine Drohungen mussten ihre Wirkung entfaltet haben.
Er trat an die Tür heran, klopfte mit der Faust gegen das Holz und wartete, bis ihm geöffnet wurde. Ein Krachen kam aus dem Inneren, dann hastige Schritte.
Ava zuckte zusammen und schlug die Lider auf. Müde rieb sie sich die Augen und sah erst zu ihrem Vater und dann zu der Hütte, vor der sie standen.
Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, warf Licht auf die beiden Reisenden und gab Kematian gleichzeitig einen Blick auf das Innere. Ein leises metallisches Geräusch ertönte, als Ejahl seinen Dolch zurücksteckte. Er hatte erkannt, wer mitten in der Nacht an seiner Tür geklopft hatte und diese beiden nicht als Bedrohung eingestuft.
„Kematian", begrüßte er den Raben und öffnete die Tür gänzlich. „Wie schön, dass Ihr endlich hier seid." Ein ehrliches Lächeln legte sich auf seine Lippen. Sein Blick verharrte noch einen Moment auf Kematian und schweifte dann zu dem Mädchen. „Und du musst Ava sein."
Der Meisterdieb hatte sich in den letzten Monaten so sehr verändert, dass Kematian ihn kaum wiedererkannte. Die Haare waren ein Stück länger geworden, doch ordentlich zusammengebunden und sie schimmerten nicht mehr fettig. Den Bart hatte er frisch getrimmt, sodass sein Erscheinungsbild jünger erschien.
Die Wangen zwar noch eingefallen und die Ringe unter den Augen dunkel, doch die Haut war nicht länger fahl und fast sogar ein wenig sonnengebräunt. Die braunen Augen schimmerten lebendig und hatten alle Mattigkeit abgelegt.
Er machte eine einladende Handbewegung und trat einen Schritt zur Seite, um die beiden ins Haus zu lassen.
Wortlos ging Kematian hinein. Das Innere war gut ausgeleuchtet. Statt in einen Flur trat man sofort in einen großen Raum, der sowohl Küche als auch Ess- und Wohnzimmer war. Auf der linken Seite führte eine Treppe in das zweite Stockwerk.
„Oben ist ein Schlafzimmer", sagte Ejahl mit Blick auf Ava, die zwar versuchte, wach zu bleiben und die neue Umgebung zu betrachten, aber die Augen fielen ihr immer wieder zu.
Mit einer Kopfbewegung deutete Kematian ihm an, dass er den Weg weisen sollte. Ejahl führte ihn die Treppe hoch, einen schmalen Flur entlang und öffnete dort eine von drei Türen.
Dahinter lag ein dunkles Zimmerchen. Es wurde nur von dem Licht der Zwillingsmonde, das durch das Fenster fiel, erhellt und war spärlich eingerichtet. Nur ein Bett und eine Kommode, doch es würde ausreichen.
Kematian betrat das Zimmer und legte Ava in das Bett. Er nahm ihr den schweren Umhang ab und warf ihn sich selbst über die Schulter, ehe er sie zudeckte. Vorsichtig strich er ihr ein letztes Mal über die blonden Locken und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Ava schien nun aus dem Halbschlaf aufzuwachen und zu bemerken, dass sich ihr Vater von ihr verabschiedete. Sie kroch unter der Decke hervor und hängte sich an seinen Hals.
„Tschüss, Papa", murmelte sie.
Er erwiderte ihre Umarmung. Ein betrübtes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. „Auf Wiedersehen, Ava." Eine Lüge und er wusste, dass seine Tochter sie bald entlarven würde, wenn sie es nicht schon längst getan hatte.
Er deckte Ava erneut zu, ehe er aufstand und sich umdrehte.
Ejahl stand an den Türrahmen gelehnt. Ihm hingen Worte auf der Zunge, aber er hielt sie zurück und wartete, bis der Rabe bei ihm angekommen war und hinter sich die Tür geschlossen hatte.
Erst dann sprach er: „Manchmal könnte man Euch wirklich mit einem Menschen verwechseln."
Ein leises Knurren grollte in Kematians Brust, aber er erwiderte nichts und ging nur wortlos die Treppe herunter.
Ihm folgten Ejahls Schritte und die Worte: „Wollt Ihr noch kurz hierbleiben? Euch vielleicht setzen?"
Kematian schüttelte mit dem Kopf, aber er antwortete erst, als er wieder unten angekommen war. „Ich werde sofort aufbrechen."
„Dann wollt Ihr Euch nun also irgendwo zurückziehen und sterben wie ein verletztes Tier?"
Kematian stieß ein Schnauben aus. „Nein", sagte er. „Ich gehe nach Benela."
Ejahl erstarrte. „Nach Benela? Wisst Ihr nicht, was dort vor sich geht? Viele Flüchtlinge sind in den letzten Wochen von dort losgezogen und sie alle berichten Schreckliches."
„Ich weiß", antwortete Kematian. „Warum sollte ich warten, bis der Tod mich findet, wenn ich ihn auch suchen kann? Seit diesem Fluch habe ich nichts mehr zu mir genommen. Ich habe seit Monaten nicht gegessen. Es ist eine Qual."
„Ich verstehe", murmelte Ejahl. Sein Blick schweifte kurz durch den Raum, ehe er wieder zu dem Raben sah. „Ihr wisst, dass ich kein Problem damit habe, wenn Ihr –"
„Nein", unterbrach Kematian ihn. „Ihr nützt mir nur lebend etwas und gerade jetzt würde ich Euch umbringen."
Nun schmollte der Meisterdieb und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na, sicher. Das habt Ihr bisher doch jedes Mal gesagt und trotzdem lebe ich noch. Ein großer böser Rabe seid Ihr, ich weiß schon." Er trat einen Schritt auf Kematian zu und fragte: „Bekomme ich dann wenigstens einen Kuss?"
Verdutzt sah der Rabe ihn an, aber er fing sich schnell wieder und sagte: „Nein."
„Nein?", fragte Ejahl. „Ich hab mir sogar die Zähne geputzt." Als er bemerkte, dass er Kematian noch nicht überzeugt hatte, ergänzte er noch: „Es ist doch nur ein Kuss. Was soll schon dabei sein?"
Kurz rang der Rabe mit sich, aber letztlich gab er dem Meisterdieb recht und ging einen Schritt auf ihn zu.
Sichtlich erfreut schenkte der Meisterdieb ihm ein Lächeln und kam selbst die letzten Schritte zu ihm.
Kematian rollte nur mit den Augen. Er nahm Ejahls Gesicht in die Hände und zog ihn zu sich. Für kaum eine Sekunde presste er seine Lippen auf Ejahls und ließ dann wieder von ihm ab.
„Zufrieden?", fragte er.
Der Meisterdieb schmollte nun wieder. „Nein", antwortete er. „Was war das denn bitte?"
„Ein Kuss", sagte Kematian. „Wie Ihr es wolltet."
„Was auch immer das sein sollte, ein Kuss war es nicht", hielt Ejahl dagegen. „Gefühlvoll, Kematian, das schafft Ihr doch."
Kematian brummte kurz und öffnete seinen Mund, um zu erwidern, dass er keine Gefühle besaß, aber Ejahl kam ihm zuvor.
„Und sagt mir jetzt nicht, dass Ihr keine Gefühle habt", sagte er. „Ihr seid kein Monster, also versucht Euch nicht zu einem zu machen."
Wieder grummelte Kematian nur kurz in sich hinein, während er überlegte, ob er den Meisterdieb einfach umbringen und einen anderen Weg finden sollte, um Ava vor den Raben in Sicherheit zu bringen.
„Außerdem kennen wir uns jetzt schon so lange", fuhr Ejahl fort. „Wie könntet Ihr Euch einfach so davonmachen und sterben, ohne Euch gebührend von einem alten Freund zu verabschieden?"
Kematian schwieg. All seine Argumente könnten dieses Wortgefecht nicht für ihn entscheiden. „In Ordnung", brummte er daher nur.
„Das will ich doch meinen." Ejahl griff nach seiner Hand und legte sie sich an die Wange. „Nur ein Kuss. Mehr will ich doch nicht."
Kematian gab ihm noch ein Augenrollen, ehe er sich zu ihm herunterbeugte. Er konnte nicht glauben, dass Ejahl von ihm verlangte, gefühlvoll zu sein.
Doch er bemühte sich und hielt all seine Kraft, all die Grobheit zurück. Nur leicht drückte er seine Lippen auf Ejahls. So leicht, dass der Meisterdieb ihn sogar noch ein Stück zu sich zog und sich auf die Zehenspitzen stellte.
Ejahl wies ihm die Richtung und Kematian konnte nichts anderes tun, als den Kuss vorsichtig zu erwidern. All seine Zurückhaltung schöpfte er aus. Die Gier schluckte er herunter, obwohl seine Reißzähne wuchsen und diese leise Stimme ihm sagte, er solle Ejahl auf den Boden drücken und ihm die Zähne in den Hals schlagen.
Er schloss seine Augen und strich nur sacht auf der warmen Wange entlang. Doch dann hörte er Ejahls Herz. Viel zu schnell und es machte kleine Sprünge. Und in diesem Moment wurde ihm eine Sache bewusst, die er nie für möglich gehalten hätte.
Er stieß den Meisterdieb von sich. Gewaltsamer als notwendig gewesen wäre. „Ihr liebt mich?!" Seine Stimme war erhoben, doch er rief sich zu Ordnung, denn er wollte nicht riskieren, dass Ava ihn hörte.
Ejahl taumelte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Er brauchte einige Sekunden, ehe er sich fing. Erst dann öffnete er den Mund, um etwas zu entgegnen, doch er schloss ihn wieder und schwieg.
„Wie lange schon?" Kematian wollte nicht glauben, was er gerade in Erfahrung gebracht hatte und noch weniger, dass er es all die Jahre nicht bemerkt hatte. Doch jetzt, wenn er an die Begegnungen mit Ejahl zurückdachte, dann war es für ihn mehr als offensichtlich. Wie hätte der Meisterdieb sonst seine Gesellschaft nicht nur aushalten, sondern sich auch noch über die Treffen freuen können.
„Seit –", setzte Ejahl an, aber Kematian unterbrach ihn.
„Ich will es nicht wissen", sagte er.
Seit der allerersten Begegnung. Seit der allerersten Begegnung hegte Ejahl schon diese Gefühle und hatte sie nur verborgen gehalten, weil er genau diese Situation, in der er sich jetzt befand, immer gefürchtet hatte.
Der Rabe wusste, dass Ejahl wahnsinnig war, aber für so wahnsinnig hatte er ihn nicht gehalten.
Er wandte sich ab. „Ich werde jetzt gehen."
Ejahl nickte nur, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrechen. Erst als Kematian schon die Schwelle übertreten hatte, fragte er: „Werdet Ihr zurückkehren, wenn Ihr den Fluch irgendwie überlebt?"
Kematian blieb zwar stehen, aber er drehte sich nicht um. „Nein", sagte er nur und ging weiter in die kalte Wüste. Er biss die Zähne zusammen und blickte seinem nahen Tod entgegen.
Ava war in Sicherheit und über Ejahls ‚Liebe' brauchte er sich keine Sorgen machen, wenn er nur erst gestorben war. Es würde alles gut werden.
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