Des Raben schwarze Federn I
Als Lloyd am nächsten Morgen die Treppe herunterschlurfte, pochte dumpfer Schmerz in seinem Kopf. Die Erinnerungen an letzte Nacht waren hinter einem dichten Nebelschleier verborgen. Da war der Biss und danach...
„Ihr seid wach", wurde er von Kematian begrüßt. Mit seiner Tochter saß er in der Küche. Ava aß wieder Haferbrei. Sie lächelte dem Elfen zur Begrüßung zu, ehe sie sich wieder ihrem Essen widmete.
Lloyd brummte etwas, aus dem man nur schwerlich ein „Guten Morgen" heraushören konnte, und funkelte Kematian an.
Als der Rabe die Reaktion bemerkte, lächelte er ihm nur entgegen. Seine Zähne sahen wieder normal aus. Die Maske aus Menschlichkeit hatte er wieder aufgesetzt.
„Kematian", sagte Lloyd, „auf ein Wort."
Der Angesprochene nickte und folgte ihm ohne Widerworte in den Flur.
Als sie außer Hörweite Avas waren, zischte Lloyd ihm entgegen: „Ihr meintet, Ihr wärt vorsichtig."
„Ihr lebt noch", antwortete Kematian unbehelligt. „Ich verstehe nicht, was Euer Problem ist."
„Ich war bewusstlos."
„Beim ersten Mal kann alles ein wenig überwältigend sein, ich weiß."
„Ihr versteht nicht. Ich. War. Bewusstlos. Was wenn Ihr noch weiter gegangen wärt? Wenn Ihr die Kontrolle verloren hättet?"
„Ihr könnt mir nicht erzählen, Euch hätte es nicht gefallen", entgegnete Kematian. „Ich musste Euch zeitweise den Mund zu halten, weil Ihr so laut wart. Es ist nicht leicht, sich zurückzuhalten, wenn..."
Lloyd unterbrach ihn: „Über diese Nacht werden wir niemals wieder sprechen. Hätte ich gewusst, dass... dass... Hätte ich das gewusst, dann wäre dergleichen nie geschehen."
„Dann wollt Ihr nicht noch einmal?" Kematians Ton könnte man fast als unschuldig beschreiben, würde der Hauch von Gier nicht mitschwingen.
„Gewiss nicht!", zischte Lloyd ihm zu.
„Wie Ihr meint." Kematian zuckte mit den Schultern. „Kommt und esst etwas. Danach geht es Euch sicherlich besser." Er zog Lloyds Kragen hoch um die Bisswunde zu verstecken und schob ihn dann neben sich her, an den Esstisch.
Der Elf murrte, aber er setzte sich zu Ava und aß mit ihr zu Frühstück. Und Kematian sollte recht behalten: Er fühlte sich danach schon besser.
°
Das Zusammenleben mit Kematian erwies sich als unkomplizierter, als Lloyd anfangs erwartet hatte. Hauptsächlich lag das daran, dass der Rabe kaum in seinem Haus war. Auch Ava sah er in der nächsten Zeit nicht noch einmal. Da Kematian nicht wollte, dass er mit ihr sprach, war sie bei einer ‚Freundin' untergekommen.
Lloyd selbst blieb, sofern es ihm möglich war, in dem Haus. Er fürchtete sich vor Kopfgeldjägern und den übrigen Raben. Daher bemerkte er nicht, was sich in dieser Zeit direkt vor seinen Augen abspielte.
Kematian hatte nämlich einen neuen Zeitvertreib gefunden. Für gewöhnlich interessierte er sich nicht für die Sterblichen, doch als er eines Morgens das Nest der Raben vor den Stadttoren Cyrills verließ, bemerkte er eine Frau, die ganz in der Nähe herumschnüffelte.
Der Wind trug ihren Geruch zu ihm. Unterdrückte Verbitterung und Rachgier. Kematian kannte ihren Geruch, sodass sein Interesse geweckt wurde.
Er brauchte nur wenige Sekunden, bis er bei der Frau angekommen war. Sie hatte ihre Waffen, Pfeil und Bogen, an einen Stein gelehnt und suchte etwas auf dem Boden. Offenbar vergeblich, denn sie stampfte nur wütend auf und trat einige Steine in den Graben am Wegesrand.
„Braucht Ihr Hilfe?", fragte Kematian. Die Frau sprang erschrocken zur Seite. Die lautlosen Schritte hatte sie nicht hören können. Als sie das selbstgefällige Grinsen in seinem Gesicht sah, wich der Schrecken aus ihren Augen.
„Nein", fuhr sie ihn an. „Schert Euch fort!"
Kematians Miene wurde ausdruckslos. Kurz überlegte er, ob er sie einfach beißen sollte, doch er ließ es bleiben. Den Geschmack von Wut hatte er noch nie gemocht. Er bevorzugte Angst. Dafür hatte er momentan genug Möglichkeiten, damit er nicht auf Wut zurückgreifen musste.
Etwas blitzte in Kematians Augenwinkel auf. Ein kleiner Gegenstand versteckte sich unter einer Schicht aus Staub, sodass die Frau ihn nicht gesehen hatte. Er ging zu dem Blitzen und hob einen goldenen Ohrring auf.
„Sucht Ihr das hier?", fragte er die Frau und zeigte ihr den Ohrring.
„Ihr Blick hellte sich auf. „Ja, genau den..." Sie brach ab und musterte Kematian. Männer wie ihn kannte sie zu genüge. Er würde eine Gegenleistung verlangen, da war sie sich sicher.
Umso überraschter war sie, als er den Ohrring in ihre offene Hand legte. Doch ihr Zorn verebbte nicht, selbst als sie den Ring in der Hand hielt. Sie knirschte mit den Zähnen und verstaute ihn in der Tasche.
„Ihr wart im Großen Wald?", fragte Kematian. Er konnte die Elfen an ihr riechen.
Sie nickte bitter. „Meine Freundin wurd—"
„Ich habe Euch nicht nach Eurer Lebensgeschichte gefragt", schnitt er ihr das Wort ab.
Sofort verdunkelte sich ihr Blick. Sie drehte sich von ihm weg und stapfte davon. Nicht in Richtung Stadt, sondern zum Niemandsland und damit auch zum Elfenreich.
Aber Kematian hatte kein Interesse, sie entkommen zu lassen. Entspannt schlenderte er neben ihr her.
„Was wollt Ihr von mir?", knurrte sie ihn an.
„Zunächst Euren Namen", antwortete er.
„Werdet Ihr mir Euren geben, wenn ich meinen nenne?"
„Selbstverständlich nicht."
Bei dieser Antwort schnaubte sie erbost. Und plötzlich fiel Kematian ein, woher er ihren Geruch kannte.
„Ihr heißt Camille, richtig?", fragte er.
Sie blieb stehen und sah ihn verblüfft an. „Woher...?" Die restlichen Worte wurden von ihrer Überraschung verschlungen.
„Damals sah ich ein wenig anders aus", sagte er. „Deshalb erkennt Ihr mich vermutlich nicht." Aus einer Tasche an seinem Gürtel holte er die Schnabelmaske der Raben hervor. Er musste sie nicht einmal anlegen, da stolperte Camille schon einige Schritte rückwärts. Jetzt roch Kematian auch Angst an ihr.
„Ihr!?", rief sie.
Er ließ die Maske wieder in seiner Tasche verschwinden. Schließlich könnte er Camille schneller töten, wenn er beide Hände frei hatte.
Die Frage war nur, wie er es machen wollte. Mit bloßen Händen? Eigentlich tat er das am liebsten, aber dann müsste er sich danach das Blut von den Händen waschen.
Mit seinen Zähnen? Auch etwas, das er sehr genoss, aber der bittere Geschmack des Zornes war noch nicht vollständig aus ihrem Blut verschwunden.
Zu weiteren Überlegungen kam er nicht, denn Camille rief: „Ich will Euch anheuern."
Kematian warf ihr einen kalten Blick zu. Er hätte sie einfach umbringen sollen. Jetzt hatte sie sich aus diesem Schicksal herausgewunden.
„Ihr wisst, wie man Raben anheuert", sagte er. „Dann tut es auf die traditionelle Art."
Er wandte sich von ihr ab, aber ehe er losgehen konnte, griff sie nach seinem Ärmel. „Ich habe keine Zeit dafür.", sagte sie.
Kematian riss sich los, blieb aber stehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und blickte auf sie herab.
„Bitte", sagte Camille. „Ich habe die Bezahlung dabei."
Wortlos streckte er die Hand aus. Kurz darauf hielt er einen prall gefüllten Geldbeutel, aber damit wollte er sich nicht begnügen. „Ich will den Ohrring", sagte er.
„Den Ohrring...?" Camilles Stimme zitterte. Er betrachtete sie weiterhin gleichgültig. Nur ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel verriet seine Belustigung. Wie er es sich gedacht hatte, war der Ohrring bedeutsam für sie.
Doch offenbar nicht so bedeutsam, wie er gehofft hatte, denn sie holte den Ohrring aus ihrer Tasche und legte ihn zu dem Geldbeutel in seine Hand.
Er seufzte und verstaute beides. „Wer ist das Ziel?"
„Ihr sollt mich beschützen", sagte Camille. Sie wollte noch etwas ergänzen, aber Kematian unterbrach sie.
„Ich beschütze nicht, ich töte", sagte er. „Wendet Euch an die Templer, wenn Ihr Schutz sucht."
Er wollte sich schon wieder abwenden, aber sie hielt ihn auf. „Ich muss in den Großen Wald. Meine Freundin wurde von Elfen getötet und ich will Rache für diese Tat. Die Anführerin der Gruppe habe ich gefunden, aber sie wird gut bewacht. Ich brauche Eure Hilfe, um zu ihr zu gelangen, aber ich will ihr Leben nehmen."
Elfen. Das änderte die Situation. „Wer ist sie?", fragte er.
„Cahlia, die Tochter von Leandras. Die Elfenprinzessin."
Jetzt konnte Kematian sein kaltes Grinsen nicht länger zurückhalten. Dem Elfenprinzen, dem er Zuflucht bot, würde das sicherlich gar nicht gefallen.
„Eine Adelige?", meinte Kematian. „Das Gold würde eigentlich nicht für eine Adelige reichen. Und ganz besonders nicht für eine Prinzessin, aber für Euch mache ich eine Ausnahme. Ich werde Euch helfen. Wann wollt Ihr aufbrechen?"
Obwohl Camille sich freuen sollte, dass sie die Unterstützung des Raben hatte, verdunkelte sich ihr Blick. „So schnell Ihr könnt", sagte sie.
Kematian nickte. „Dann treffen wir uns in einer Stunde genau hier wieder." Ohne auf eine Antwort von ihr zu warten, drehte er sich um und ging Richtung Stadt.
Er hatte kaum die Hälfte des Weges hinter sich gelassen, da gesellte sich eine Gestalt zu ihm. Schon ehe er ihre roten Locken sah, wusste er, um wen es sich handelte. „Was willst du, Milan?", fragte er.
„Du wirst sie umbringen, oder?" Ihre Stimme war flüssig wie Honig. Würde Kematian sie nicht kennen, hätte er sie als freundlich eingeschätzt.
„Natürlich", antwortete er. Er blieb nicht stehen oder verlangsamte seine Geschwindigkeit. Milan musste fast neben ihm her laufen, damit sie mit ihm mithalten konnte.
„Wie schade. Sie hat ein hübsches Gesicht", sagte sie.
„Ich kann dir ihren Kopf bringen, wenn du möchtest."
Sie winkte ab. „Dann müsste ich mein Regal aufräumen. Du findest bestimmt noch andere hübsche Leute für mich. Da wir gerade bei dem Thema sind. Was hast du mit dem Elfen noch vor?"
Ehe sie eine weitere Bewegung machen konnte, wirbelte Kematian herum und packte sie an der Kehle. „Er gehört mir." Seine Stimme glich einem Knurren. Bedrohlich wie das eines Tieres. Ein flüchtiger Blick hinter die Maske. Er durfte sie nicht umbringen, das wussten beide, aber Kematian drückte trotzdem weiter zu. Bedacht darauf ihren Hals nicht zu zerquetschen oder das Genick zu brechen. Er löste seinen Griff erst, als sie gegen seinen Unterarm schlug, weil sie drohte zu ersticken. Kaum dass er sie losließ, sank sie auf die Knie und hielt sich ihren Hals. Die Abdrückte von seinen Fingern zeichneten sich leicht rötlich auf ihrer Haut ab.
„Ich..." Sie röchelte. „Ich will dir deinen Besitz nicht streitig machen. Aber... aber einige der anderen fangen an, Fragen zu stellen. Es ist ungewöhnlich, dich mit jemandem zu sehen, wo du doch immer predig—"
Ein Tritt in den Magen ließ sie verstummen. Kematian nutzte nur einen kleinen Teil seiner Kraft, aber es war trotzdem genug, dass sie einen Mundvoll Blut spuckte.
Wortlos wandte er sich ab und setzte seinen Weg fort. Von hinten rief ihm Milan noch zu: „Du müsstet Ava bis heute Abend abholen. Ich bin bald unterwegs."
Er schnaubte nur als Antwort, aber er drehte sich nicht noch einmal um.
Wie verabredet fand sich Kematian eine Stunde später am Wegesrand ein. Camille wartete schon auf ihn. Geistesabwesend strich sie an ihrem Ohr entlang. Schon jetzt vermisste sie ihren Ohrring.
„Seid Ihr bereit?", fragte Kematian. Er hatte sich ihr lautlos genähert. Camille sah erschrocken auf. Als sie sah, wer vor ihr stand, verdüsterte sich ihr Blick nur weiter.
„Bin ich", murmelte sie.
Mit Kematians Führung waren sie innerhalb einer Stunde am Rande des Großen Waldes. Nur ein einziger Weg war für die Menschen angelegt und führte direkt nach Benela, damit man das Imperium umgehen konnte. Dieser eine Pfad war genau markiert. Menschen, die es wagten, einen anderen zu nutzen, wurden in dem Labyrinth des Waldes verschlungen und gingen dort jämmerlich zu Grunde. Für Sterbliche barg der Wald viele Gefahren. Für Kematian nicht so sehr. Er hielt sich aus genau einem Grund von dem Wald fern: Er mochte keine Elfen.
Sein Herz schlug nicht mehr und daher sah der Wald ihn nicht. Dies war der Hauptgrund, weshalb Camille gerade ihn angeheuert hatte.
Er holte seine Maske unter seinem Umhang hervor und setzte sie auf. Camille neben ihm schauerte, aber er ignorierte sie. Die Raben hatten teilweise strikte Regeln, wenn es um die Ausführung der Aufträge ging. Das Tragen der Schnabelmaske war dabei Pflicht.
„Die Prinzessin wird sicherlich in der Hauptstadt sein", sagte Kematian, kurz nachdem sie den Wald betreten hatten. Zwar war es mitten am Tag, aber kaum ein Sonnenstrahl bahnte sich seinen Weg durch die Blätterdecke. Es war offensichtlich, dass der Wald nichts von den Eindringlingen hielt.
„Wart Ihr schon einmal dort?", fragte Camille.
„Nein", antwortete er. „Aber ich kann die Elfen riechen und ich kann ihre Herzen schlagen hören."
Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie seine Worte hörte. In diesem Augenblick war sie froh, den Raben auf ihrer Seite zu wissen.
In einer schnellen Bewegung holte Kematian ein Messer hervor und warf es in einen nahen Baum. Aufgeregt zwitschernd flogen Vögel in die Luft, aber er hatte getroffen, was er treffen wollte. Er ging zu dem Stamm und zog sein Messer aus der Rinde. Ein kleiner Schmetterling war in der Mitte durchteilt. Die Flügel, silbern glänzend, segelten zu Boden.
Ein gepresstes Stöhnen kam über seine Lippen. Er griff sich an die Brust und krallte sich in das seidene Gewand.
„Eure Majestät, seid Ihr wohlauf", hörte er die Stimme einer Wache.
Leandras hob stumm seine Hand, doch im nächsten Augenblick zuckte er wieder zusammen. Sein Blick verschwamm. Er schüttelte die Benommenheit von sich ab und erhob sich von seinem Thron. „Ist Cahlia schon zurück?", fragte er. Das Zittern in seiner Stimme blieb fremden Ohren verborgen.
„Nein."
Dieses eine Wort ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Dann..." Ein Gefühl stieg in ihm auf. Eine Regung, die er tief in seinem Innersten verborgen hatte. Angst.
Er schritt eine Stufe hinab, das Haupt hoch erhoben, doch plötzlicher Schmerz zwang ihn in die Knie. Die verbliebenen Stufen stürzte er hinab und krachte auf den harten Marmorboden.
„Eure Majestät!?" Die Wachen kamen zu ihm gelaufen, versuchten ihm aufzuhelfen, aber Leandras schickte sie fort.
„Holt Cahlia zurück!", befahl er. Seine Stimme erhoben, doch nicht schreiend. „Kümmert Euch nicht um mich, sondern um meine Tochter!"
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