Der Verräter schläft nicht I
Als Lloyd das Gasthaus betrat, bemerkte er sofort, dass etwas anders war als zuvor. Er hörte keinen Lärm von lauten Gesprächen, keine klirrenden Gläser oder Lachen und Fluchen. Das Einzige, das die Stille durchbrach, war eine kraftvolle Stimme, von der die Menschen in den Bann gezogen wurden.
„Der König war ein guter – aber noch viel wichtiger – ein gerechter Mann", sprach der Erzähler. Als er die Schritte des Ankömmlings bemerkte, flackerte sein Blick kurz zu ihm. Lloyd konnte kaum in Worte fassen, von welch unglaublicher Schönheit der Erzähler gezeichnet war. ‚Engelsgleich' mochte man dieses Gesicht fast nennen. Seine Haut war hell und ohne einen einzigen Makel. Keine einzige Falte durchzog sein Gesicht, keine Narbe verunreinigte die Ästhetik. Das warme Gold in seiner Iris stach hervor, umrahmt von den dichten dunklen Wimpern.
Für einen Moment stockte Lloyd, atemlos von der Schönheit des Erzählers. Eine Schönheit, die er selten bei einem Menschen gesehen hatte. Sein Herz schlug schneller, wild begeistert von dieser anmutigen Gestalt, die er dort zu Gesi—"
Der Erzähler wurde durch ein lautes Räuspern unterbrochen. Er hatte doch gerade erst angefangen. Mindestens eine halbe Stunde hätte er noch an diesem Absatz verweilen können. Sein Blick löste sich von dem Buch und suchte die Person, die ihn so unhöflich unterbrochen hatte. Aber jeder seiner Zuhörer sah ebenso verdutzt aus.
Dann sah der Erzähler zu der Gestalt, die ein wenig abseits saß. Sein Schützling. Der Junge sah ihn vorwurfsvoll an.
Mit mehr Theatralik, als in der Situation notwendig war, rollte der Erzähler mit den Augen. „Wie du meinst", sagte er. „Das war vielleicht nicht ganz das, was sich Lloyd in diesem Moment gedacht hatte." Er sah zurück in das Buch. „Wo waren wir stehengeblieben... Ah, hier:
Als er die Schritte des Ankömmlings bemerkte, flackerte sein Blick kurz zu ihm. In diesem Bruchteil einer Sekunde sah Lloyd unzählige Emotionen in den bernsteinfarbenen Augen. Güte, aber auch Geiz. Euphorie und zugleich unendlich tiefe Trauer. Und Schuldgefühle, Angst und Einsamkeit.
Die Mundwinkel des Erzählers zogen sich nach oben, als er Lloyd sah und formten die Lippen zu einem fuchsähnlichen Lächeln.
„Und das Volk wuchs und gedieh unter seiner Herrschaft", fuhr er fort. Eine Strähne, die hartnäckig nicht an ihrem Platz bleiben wollte, fiel ihm ins Gesicht, obwohl er sie nur wenige Augenblicke zuvor hinter sein Ohr gestrichen hatte. Diese Haarsträhne war dunkel, sodass Lloyd sie auf den ersten Blick für schwarz gehalten hätte. Doch bei genauerem Hinsehen fiel ihm ein violetter Schimmer auf, der das Haar umhüllte.
Der Erzähler trug eine dunkle Robe mit ungewöhnlich weiten Ärmeln. Doch auch diese Robe war nicht schwarz, sondern aus dunkel-violettem Stoff. An den Ärmeln, am Kragen und am Saum war sie mit goldenem Muster verziert.
Fast alle Menschen in dem Gasthaus hatten sich um den Erzähler herum versammelt und lauschten gespannt seinen Worten. Nur der Wirt stand noch hinter dem Tresen, aber er hatte die Augen dennoch auf ihn gerichtet. Und auf einem Hocker vor dem Tresen saß ein Junge. Er war der Einzige, der ihm nicht zu lauschen schien.
Lloyd wandte sein Interesse von dem Erzähler ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Jungen. Seine Kleidung war weder nordisch noch sah sie so aus, als könnte sie ihn vor den kühlen Temperaturen hier bewahren. Er trug ein dunkles Hemd und darüber eine mit Silberfäden durchwobene Weste. Neben ihm auf der Oberfläche lag ein schwarzer Mantel und ein Zylinder. Lloyd entdeckte auch einen Gehstock, der gegen den Tresen gelehnt war. Sein silbrig glänzender Knauf war geformt wie ein Drachenkopf, das Maul weit geöffnet, als wolle er jeden Moment zuschnappen.
Hinter dem Ohr des Jungen war ein Schlangenkopf tätowiert. Ihr Körper zog sich unter der Kleidung des Fremden weiter, aber Lloyd konnte dem Verlauf des Schlangenkörpers nur bis zum Kragen folgen.
Die vollen Lippen des Jungen öffneten sich zu einem lautlosen Seufzer. Seine braunen Augen betrachteten den Elfen schon eine ganze Weile.
Lloyd registrierte erst jetzt, dass er starrte, aber er konnte noch immer seinen Blick nicht von dem Fremden nehmen. Nun doch nicht länger aus Faszination, sondern weil er viel zu beschäftigt damit war, innerlich zu sterben.
Eine Stupsnase richtete sich auf ihn und rümpfte sich vorwurfsvoll.
„Banne ich gar Euren Blick?", fragte der Junge.
„Oder versucht Ihr einen Trick?
Ihr scheint mir fremd
und auch nicht, wie jemand, den man kennt."
Lloyd stutzte und sah den Fremden verwirrt an. Hatte er es sich nur eingebildet oder sprach der Junge tatsächlich in Reimen? In teils sehr unreinen Reimen, aber nichtsdestoweniger in Reimen.
„Als er seine Augen wieder öffnete, waren sie von einem solch lodernden Hass erfüllt, dass alle Umstehenden erschauerten", erklang die Stimme des Erzählers und füllte die unangenehme Stille zwischen Lloyd und dem Fremden.
„I-ich wollte nicht unhöflich erscheinen", brachte der Elf hervor. In wenigen Bruchteilen einer Sekunde legte er sich eine Ausrede für sein Starren zurecht. „Euer Tattoo. Es scheint eine tiefere Bedeutung zu haben."
Die Augen des Jungen kniffen sich argwöhnisch zusammen.
„Diese Lippen sind versiegelt,
und meine Gedanken dazu verriegelt."
Er wollte sich schon wieder abwenden, aber der Elf sagte schnell: „Mein Name ist Lloyd", um seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen. „Wie nennt man Euch, Junge?"
Der Fremde schürzte die Lippen und überlegte genau, was er antworten sollte. Und ob er überhaupt antworten sollte.
„Ich bin ein Verräter vor dem Herrn", sagte er nach einigen Augenblicken.
„Auf mich leuchtet kein Stern.
ich bin ein Gott ohne Licht,
ein Gott, der niemandem etwas verspricht.
‚Schlange' werde ich genannt,
aber ich bin auch anders bekannt.
Einigen erscheine ich als Freund,
der hilft, wenn man ihn erträumt.
In dieser Welt bin ich alles.
Und trotzdem nur ein Vorbote des Verfalles."
Dies war zwar nicht ganz das, was Lloyd wissen wollte, aber er musste sich wohl oder übel mit dieser Antwort zufriedengeben. Er hielt es nicht für angemessen, den Jungen zu fragen, ob er auch normal sprechen konnte.
Wieder durchbrach der Erzähler die Stille. „Unaufhörlich hörte er die Stimmen von Gier und Rache."
Für einen Augenblick fragte sich Lloyd, was für eine Geschichte der Erzähler wohl erzählte, aber er wandte sich lieber wieder dem reimenden Fremden zu.
„Woher stammt Ihr?", fragte er.
„Mein Vater kam vor einiger Zeit in das Land,
doch ich war auch hinter dem Rand."
„Ihr habt das Gebirge durchquert?" Lloyd fiel es schwer, diesen Worten zu glauben. Er wusste von niemandem, der auf diese Reise aufgebrochen und lebendig zurückgekehrt war.
Der Junge nickte. Doch plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Sein Blick trübte sich und starrte unfokussiert durch Lloyd hindurch.
Er ergriff dessen Ärmel.
„In naher Zukunft trefft Ihr
voll von Erstaunen ein edles Tier.
In seinen Augen glüht ein Feuer,
deshalb erscheint er Vielen als Ungeheuer."
Lloyd schob seine Brauen zusammen. Er wollte dem Jungen seinen Ärmel aus der Hand reißen, aber der Griff war zu fest.
„Ihr zieht ihn in Euren Bann,
nur deshalb tritt er an Euch heran.
Ich sehe, Ihr sollt ein König werden
und Eure Liebsten elendig sterben.
Schatten treten in Euer Leben.
Ihr werdet es willens übergeben."
Der Blick des Jungen wurde wieder klar. Er ließ Lloyds Ärmel los und fasste sich an die Schläfen, als würden ihn nun Kopfschmerzen plagen.
„Wie ich sehe, machst du neue Freunde, Kyrat~" Diese Stimme tauchte so unerwartet neben Lloyd auf, dass er einen Satz zur Seite machte.
Der Erzähler hatte seine Geschichte beendet und gesellte sich zu ihm und dem Jungen – Kyrat. Er trug ein Lächeln auf den Lippen von dem Lloyd nicht sagen konnte, ob es freundlich oder höhnisch war.
„Sie werden so schnell erwachsen", säuselte der Erzähler. Daraufhin verdunkelte sich Kyrats Blick.
Der Erzähler wandte sich zu Lloyd. „Aber nun muss ich Euch Kyrat leider entführen."
Der Junge rollte mit den Augen, stand auf und schlüpfte in seinen Mantel.
„Ich wünsche Euch viel Glück auf Euren Reisen,
denn Ihr müsst noch Einiges beweisen." Mit diesen Worten setzte er sich den Zylinder auf und hielt dem Elfen wie selbstverständlich den Gehstock hin. Seine Stirn runzelte sich, als dieser nicht nach ihm griff.
„Kyrat", der Erzähler flüsterte so leise, dass Lloyd ihn kaum verstehen konnte. Wie zuvor erstarrte Kyrat. Für einige Sekunden wurde sein Blick trüb, doch dann ließ er wortlos seine Hand sinken und verließ das Gasthaus.
Der Erzähler sah ihm einen Augenblick nach, ehe auch er sich verabschiedete. „Wir werden uns bald wiedersehen. Früher als Ihr Euch wünscht, Sweetie." Als er Kyrat folgte wurden seine Schritte begleitet mit einem leisen Klirren, das von feingliedrigen Ketten an seinen Stiefeln verursacht wurde.
Noch einige Augenblicke sah Lloyd ihnen nach, obwohl sie schon lange durch die Tür verschwunden waren.
Was für ein merkwürdiges Duo.
Er riss sich von seinen Gedanken los. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erfüllen und konnte nicht ewig tatenlos in der Gegend herumstehen.
Er ging in sein Zimmer und brachte die Karte der Katakomben auf den neuesten Stand. Die Sackgassen und zugeschütteten Ausgänge zeichnete er ein. Zu dem Eingang, durch den er in die Katakomben gelangt war, schrieb er: Nicht begehbar.
Nun musste er einen neuen Zugang suchen, dann die Katakomben erforschen... doch Zeit blieb ihm nicht mehr viel.
Zumindest einige Fortschritte hatte er zwar gemacht, denn einen Ausgang vor die Stadtmauern hatte er schon gefunden. Aber darauf wollte er sich nicht ausruhen. Er griff wieder seine Karte und machte sich erneut auf den Weg.
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