Der Feinde Freundschaft II
Wieder in seine Kleidung eingehüllt und mit seinem Umhang über den Arm gelegt, trat er aus der Tür. Nun musste er sich nur noch daran erinnern, wie Tavaren den Weg beschrieben hatte. Irgendeinen dieser Flure sollte er entlanggehen und dann irgendeine Tür auf der rechten Seite öffnen... oder war es die linke Seite? Sollte er vielleicht erst durch die Tür am Ende des Korridors?
Er seufzte. Gerade als er den ersten Schritt machen wollte, entzündete sich ein kleiner Funke neben ihm. Kleine Flämmchen reihten sich aneinander, bis ein kleines Vögelchen aus ihnen entstand. Er strahlte Licht aus, feuerrot mit gelb und orange. Der Fink setzte sich auf Lloyds Schulter und schmiegte sich an dessen Wange. Dabei hinterließ das Vögelchen keineswegs flammende Hitze auf der weißen Haut oder verbrannte sie gar – wie man es durch die feurige Gestalt erwägen könnte – sondern schickte eine angenehme Wärme in die Wangen, als würde man sich in einer kalten Nacht vor ein Kaminfeuer setzen.
Der Fink hüpfte wieder von der Schulter und flatterte fröhlich vor ihm durch den Korridor. Auf den Boden rieselten einige Funken, die jedoch den Teppich nicht in Brand steckten.
Lloyd folgte ihm. Schnell ließ er den Korridor hinter sich, trat dann durch eine Tür und ließ sich den Weg durch eine weitere Tür weisen, dann einen weiteren Gang entlang, eine Treppe hinunter. Nun stand er wieder in der Eingangshalle mit den unzähligen Wächter-Gemälden.
Diese Gelegenheit nutzte er, um etwas zu überprüfen. Er schlich zu einem der Bilder heran und kratzte vorsichtig mit seinem Daumennagel an dem Rahmen. Fast erwartete er, dass sich das Gold abblättern ließ, und Holz darunter zum Vorschein kam. Doch diesen Gefallen tat das Gemälde ihm nicht. Es war massives Gold.
Leises Zwitschern riss ihn von dem Bilderrahmen los und er sah zu dem Vögelchen. Es zog singend seine Kreise vor einer Tür. Mit einem Seufzen ging Lloyd dorthin. Ihm war es wohl nicht vergönnt, sich in dem Herrenhaus weiter umzusehen.
Er öffnete die Tür. In dem Raum dahinter ragten Regale voll mit Büchern bis zur Decke. Die Bibliothek.
Der Fink, der nun seine Aufgabe erfüllt hatte, setzte sich wieder auf seine Schulter und schmuste mit ihm.
Lloyd ging durch die Regale. An den Buchrücken konnte er erkennen, dass es nicht nur Bücher waren, die in der gemeinen Sprache – der Sprache, die man hier im Norden sprach – verfasst wurden. Er sah Titel in den Sprachen des Südens, des Imperiums und einige wenige auch auf Elfisch.
Er wollte sich gerade von dem Regal abwenden, da stach ihm ein Buch ins Auge. Leise zog er es aus dem Regal und schlug es auf. Seine erste Vermutung bewahrheitete sich. Es war ein Buch über Kastolat. Mit nur ein wenig Glück würde er finden, was er hier erhoffte. Nach wenigem Blättern sah er eine Karte von dem Grundriss der Herzogsresidenz. Vor etwa einem Jahrhundert hatte man für den Bau einen Architekten aus Benela herbeikommen lassen, damit er die Residenz nach Vorbild des Schlosses in der Hauptstadt nachbauen konnte. Doch nachdem die Residenz vollendet war, wurde der Architekt hingerichtet, damit er kein weiteres Gebäude dieser Art erbauen konnte.
Dessen Sohn allerdings hatte das Handwerk seines Vaters gelernt und als Rache für die Hinrichtung den Grundriss der Residenz mit allen Geheimnissen, die sie barg, veröffentlicht.
Leise riss er die Seite aus dem Buch und verstaute sie in seiner Tasche. Dann schob er das Buch wieder an seinen Platz. Den Stich in seinem Herzen blendete er aus.
Nach einigen weiteren Schritten fand er Tavaren auf einem der zwei Sessel, die vor einem Kamin standen. Ein kleines Feuerchen erhellte den Raum und spendete Wärme.
Der Wächter war in ein Buch vertieft und hatte Lloyd noch nicht bemerkt. Neben ihm schwebte eine kleine Flamme, die ihm das Lesen erleichterte. Seine Haare waren noch nass, da auch er ein Bad genommen hatte. Hin und wieder tropfte Wasser von den Strähnen und hinterließ einen verdunkelten Fleck auf seiner Kleidung.
Neben ihm lag Dasan und döste. Seine Ohren zuckten zwar kurz in die Richtung des Elfen, aber er machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen oder gar den Kopf von seinen Pfoten zu heben.
„Tavaren?", fragte Lloyd vorsichtig.
Der Wächter zuckte zusammen und sah auf. Als er erkannte, wer ihn erschreckt hatte, begann er zu lächeln. Er klappte das Buch zu und legte es auf einen Beistelltisch neben dem Sessel.
„Ihr habt meinen Wegweiser gefunden?" Tavaren deutete auf das kleine Vögelchen. „Ich hoffe, er ist Euch nicht zu sehr auf die Nerven gegangen. Von Zeit zu Zeit ist er ein bisschen aufdringlich."
„Ach." Lloyd winkte ab. „Das ist mir gar nicht aufgefallen", sagte er, während der Fink an seiner Wange klebte und sein Gefieder an ihn schmiegte. „Was geschieht jetzt mit ihm?"
„Eigentlich sollte er sich auflösen, sobald er seine Aufgabe erfüllt", sagte Tavaren. „Ich bin mir sicher, dass das bald passieren wird, aber bis dahin müsst Ihr ihn wohl noch eine Weile ertragen."
Gerade als er dies gesagt hatte, erhob sich der Vogel von Lloyds Schulter. Er flatterte noch einmal um den Elfen herum und zerfiel dann in tausende Funken, die verglühten, noch ehe sie den Boden erreichten.
„Ich hatte mich gerade an ihn gewöhnt", sagte Lloyd, als er den Funken beim Fallen zusah.
„Vielleicht beschwöre ich ihn noch einmal. Spätestens wenn wieder die Gefahr besteht, dass Ihr Euch in meinem Anwesen verlauft." Einen Augenblick schwieg Tavaren, ehe er zögerlich fragte: „Wollt Ihr Euch noch kurz setzen?" Er deutete auf den zweiten Sessel vor dem Kamin.
Lloyd war sich unsicher. Mit seinem Feind gemeinsam einen gemütlichen Abend verbringen und plaudern, das klang nach keiner guten Idee. Aber trotzdem ging er zu dem Sessel, legte seinen Umhang über die Lehne und setzte sich.
„Was ist mit Eurem Umhang passiert?", fragte Tavaren. Die Risse und Löcher waren kaum zu übersehen.
„Dornengestrüpp", sagte Lloyd. „Und Ratten und ein Feuer."
„Falls Ihr wollt, kann ich Euch einen neuen Umhang geben...", bot Tavaren an. Eine gewisse Anspannung lag zwischen den beiden. Zwei Feinde in einem Raum, denen das Schicksal nun die Möglichkeit gab, über die Entscheidung deren Völker hinwegzusehen.
Lloyd schüttelte den Kopf. „Aber falls Ihr darüber verfügt, würde ich Nadel und Faden nehmen."
„In Ordnung." Tavaren stand auf. „Ich bin gleich zurück." Mit diesen Worten ging er.
Dasan hob seinen Kopf und sah seinem Herrchen nach. Einige Augenblicke später hörte Lloyd eine Tür.
Seufzend sank der Elf in dem Polster zusammen. Was machte er überhaupt hier? Er hätte gar nicht annehmen, sondern Tavaren nach dem Brand einfach stehen lassen und verschwinden sollen. Doch nun saß er hier. Und vor morgen würde er auch nicht abhauen können. Denn den Eingang an der Elfenruine nehmen, um die Katakomben zu betreten, und dann durch den Ausgang in Ejahls Haus wieder in die Stadt zu gelangen, da wartete er dann doch lieber auf den Sonnenaufgang.
Dasans Blick bohrte sich in seine Seite. Nach wenigen Augenblicken konnte Lloyd ihn nicht länger ignorieren und sah zu dem Wolf.
„Na du", sagte er. Dasan legte seinen Kopf schief und über ihm schien sich ein Fragezeichen zu bilden. Doch dann erkannte er offenbar, weshalb der Elf mit ihm sprach. Er quietschte freudig auf und begann mit seinem Schwanz auf den Holzdielen zu klopfen.
Lloyd hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Darauf folgten Schritte bis Tavaren wieder bei ihm ankam. Dasan schenkte sofort seine gesamte Aufmerksamkeit seinem Herrchen. Schließlich fand er Tavaren um Längen interessanter als den Halbelfen, der gerade zum ersten Mal ein Wort mit ihm gewechselt hatte.
Der Wächter hielt Lloyd eine kleine Schatulle entgegen. „Verzeiht, dass es so lange gedauert hat. Meine Schwester ist aufgewacht und ich musste sie überzeugen, dass sie mich nicht begleiten und Euch kennenlernen sollte."
Lloyd nickte und nahm die Schatulle entgegen. In ihr waren, wie versprochen, Nadel und Faden.
Tavaren setzte sich in seinen Sessel und tätschelte Dasans Kopf, während der Elf sich an die Arbeit machte.
Das Feuer im Kamin prasselte leise vor sich hin. Im flackernden Schein der Flammen schimmerten die sonst weiße Haare golden. Den Ruß hatte er vollständig aus ihnen waschen können, sodass keine dunklen Spuren zurückgeblieben waren.
Ganz auf seine Arbeit konzentriert, fädelte Lloyd geschickt den Faden in die Nadel und begann die Löcher in seinem Umhang zu flicken. Seine Finger waren lang und feingliedrig und die Nägel kurz, aber gepflegt. Die Kälte und das Umherreisen hatten keinerlei Spuren auf seinen Händen hinterlassen. Keine Schwielen, keine rissige Haut. Kein Krümel Schmutz hatte sich unter die Fingernägel geschlichen.
„Hm?", kam von Lloyd. Ihm war nicht entgangen, dass der Wächter ihn anstarrte.
Hitze stieg in Tavarens Wangen. „Nichts, nichts", sagte er schnell. Er wandte sich ab und dem Feuer zu. Natürlich bemerkte dieser Elf es, wenn er gemustert wurde. Tavaren fühlte sich, als wäre er beim Apfelklauen erwischt worden. Das Zucken von Lloyds Mundwinkeln sah er nicht mehr.
„Wie lange wollt Ihr noch hierbleiben? In Kastolat, meine ich", fragte Tavaren, um von seinem wenig heimlichen Starren abzulenken.
„Eine Weile wohl noch", antwortete Lloyd, ohne von seinem Umhang aufzusehen oder das Nähen zu unterbrechen. „Ich weiß noch nicht, wie lange genau. Ein paar Tage vielleicht."
Ein paar Tage nur noch... Das zu hören, stimmte Tavaren trauriger, als er erwartet hatte.
„Eure Magie", ergriff nun Lloyd das Wort, da auch er nicht über seine Abreise sprechen wollte. „Sie ist ziemlich außergewöhnlich. Die Templer müssen Euch viele Schwierigkeiten bereiten."
„Kaum", antwortete Tavaren. „Ich habe einige Verbündete, die mir die Templer vom Hals halten, so gut es geht. Alle paar Jahre taucht hier mal ein Jäger des Ordens auf, aber bisher konnte man meine Magie nicht nachweisen." Kurz schwieg er und warf einen Blick auf Lloyd. Der Elf war immer noch in seine Arbeit vertieft. „Und wie ist es bei Euch? Bei Elfen ist Magie doch sehr verbreitet? Oder ist es bei Euch anders, weil Ihr ein Halbblut seid?"
„Damit hat das relativ wenig zu tun", sagte Lloyd. „Meine Schwester hat ihre Magie schon im Alter von vier Jahren entdeckt und seitdem trainiert. Ich hingegen kann nicht einmal die klassische elfische Magie."
„Die da wäre?", hakte Tavaren nach. Doch er bemerkte, dass es so klang, als wollte er den Prinzen verhören, also ergänzte er: „Hier oben hören wir eher weniger von den Elfen aus dem Großen Wald. Und es ist schon einige Jahre her, seit ich Leandras zuletzt gesehen habe."
Bei dem Namen des Elfenkönigs zuckte Lloyd kurz zusammen. „Ihr habt ihn schon einmal getroffen?", fragte er. Er konnte sich nicht erinnern, Tavaren jemals in seinem Elternhaus gesehen zu haben.
„Damals als Frieden noch verhandelbar war", antwortete der Wächter.
Lloyd unterdrückte ein Schnauben. Tavaren konnte nicht ernsthaft glauben, dass Frieden zu irgendeinem Zeitpunkt eine Möglichkeit gewesen wäre. „Wenn Ihr Leandras kennt", fuhr er fort. „Dann habt Ihr sicherlich die Magie der Lichtelfen schon gesehen. Er kann das Licht für seine Zwecke gebrauchen."
„Die Schmetterlinge?"
Lloyd nickte. „Genau die. Jeden außer Leandras selbst töten sie sofort bei einer Berührung."
„Eine sehr mächtige Waffe", antwortete Tavaren. „Ich habe mich immer gefragt, woher er diese Magie hat. Von etwas Ähnlichem habe ich noch nie gehört."
„Er hat mi—" Lloyd räusperte sich kurz, dann fing er erneut an. „Er hat sie als Geschenk bekommen. Ich weiß nicht von wem, aber es war wohl eine Art Schuldbegleichung." Kurz sah er von dem Umhang auf und warf einen Blick auf den Wächter, der sich wieder dem Feuer zugewandt hat. Er schüttelte den Kopf und machte sich daran, den nächsten Riss zu nähen. „Ich habe bemerkt, was Ihr heute gemacht habt", sagte er. „Ihr habt es regnen lassen. Das ist hohe Magie."
„Naja..." Tavaren zuckte mit den Schultern. „Von Zeit zu Zeit versuche ich es mal, aber das Wetter kann ich trotzdem nicht kontrollieren. Die Wolken waren schon da. Sie brauchten nur einen kleinen Schubs, um sich zu entladen. Und allein das..." Er seufzte. „Meine Nase hat eine halbe Stunde nicht aufgehört zu bluten."
„Aber Ihr habt das Feuer gelöscht. So viel Hilfe für die Elfen hatte ich von einem Menschen nicht erwartet."
„Wir sind hier nicht alles Barbaren", antwortete Tavaren mit einem Lächeln, aber Lloyd sah nicht auf. Stumm machte er sich daran, den letzten Riss zuzunähen.
„Ich habe ohnehin nie verstanden, weshalb die Elfen von einigen Menschen so verabscheut werden", fuhr Tavaren fort. „Diejenigen aus dem Großen Wald, mit denen führen wir Krieg, aber die anderen? Sie unterscheiden sich doch kaum von uns Menschen, nur die Gesetzeslage ist anders."
Lloyd schwieg. Dass er viele Verbündete hinter den Reihen der Menschen hatte, die nur auf ein Zeichen warteten, um einen Aufstand loszubrechen... das erwähnte er nicht.
Er hob seinen Umhang an und kontrollierte, ob er alle Löcher gefunden hatte. „Ich bin fertig", sagte er dann und ließ das Stück Stoff wieder sinken. „Ich schlage vor, dass Ihr mir nun das Zimmer zeigt. Wir sollten unser Gespräch fortsetzen, wenn wir beide ein wenig ausgeruhter sind."
„In Ordnung." Tavaren erhob sich. „Dann folgt mir."
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