Auf manche Nacht folgt kein Tag III

Lloyd zuckte mit den Schultern. „In Ordnung." Seine Faust fuhr auf Tavarens Gesicht nieder, noch ehe dieser sich auf den Schlag einstellen konnte.

Er flog durch den Raum gegen die Wand. Ein leises „Verdammt" kam von ihm. Er richtete sich auf, blieb aber gegen die Wand gelehnt sitzen.

„Ihr habt keinen Moment gezögert!", klagte er den Elfen an. Blut tropfte aus seiner Nase. Mit einer Hand wischte er es weg.

Lloyd kniete sich zu ihm. Die Hände stützte er links und rechts von ihm an der Wand ab und begrub ihn gewissermaßen unter sich, darauf bedacht, ein wenig Platz zwischen den beiden Körpern zu lassen. Tavaren sackte ein Stück in sich zusammen und machte sich unter Lloyds Blick noch kleiner.

„Habt Ihr gehört, was in der Residenz vor sich gegangen ist?", fragte Lloyd und betrachtete ihn eindringlich. Sein Atem traf beim Sprechen Tavarens Wangen, die sich langsam zartrosa färbten.

Der Wächter öffnete den Mund, war aber unfähig einen Ton von sich zu geben, sodass er ihn wieder schloss und nur mit dem Kopf schüttelte.

„Dann möchte ich, dass Ihr eines wisst," sagte Lloyd. „Auch wenn diese Tat mir angehängt wird, das Blut klebt nicht an meinen Händen."

Tavaren verstand kein Wort. Er wusste nichts von dem Tod des Herzogspaares. Nichts von dem Blutbad, das sich des Nachts in der Residenz abgespielt hatte.

Lloyds Blick floss kurz abwärts, blieb für einen Wimpernschlag an Tavarens Lippen hängen, ehe er wieder in die düsteren Augen sah. In diesem Moment wurde ihm eines bewusst: Dies könnte seine letzte Chance sein. Er beugte sich weiter zu Tavaren herunter.

„Lloyd?", fragte der Wächter, aber der Elf achtete kaum auf die Stimme. Sein Blick hing wieder an den Lippen. Sie waren leicht geöffnet und durch den trockenen Staub im Kerker an den Rändern eingerissen.

„Hey... Ähm...", stammelte Tavaren, aber was genau er sagen sollte, wusste er nicht.

Lloyd strich mit seinem Daumen an Tavarens Mundwinkel entlang. Und zog ihn schließlich die letzten Zentimeter zu sich.

Doch Lloyd hatte seine Kraft nicht unter Kontrolle. Mit den Zähnen krachten sie aneinander. Ungeschickt!, fluchte er in sich hinein. Zu gewaltsam! Zu viel Wucht!

Seine Lippen schmerzten und er vermutete, dass es Tavaren genauso ging, aber er wollte nicht zurückweichen.

Tavaren starrte ihn mit vor Entgeisterung geweiteten Augen an. Von dem Prinzen, eine solche Tat. Das hatte er nicht erwartet.

Lloyd neigte seinen Kopf leicht und schloss die Augen. Er drückte sich weiter gegen Tavaren und Tavaren gegen den kalten Stein. Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab, damit er ihn nicht zerquetschte, doch allein dieser wenige Freiraum war für ihn kaum zu erdulden.

Tavaren schlang seine Arme um Lloyds Hals und zog ihn näher an sich heran. Die Hände vergrub er in den langen weichen Haaren. Leicht öffnete er seine Lippen.

Das musste er kein zweites Mal sagen. Sofort vertiefte Lloyd den Kuss. Den Körper unter ihm durchzog ein Zittern, aber er entließ ihn nicht aus seinen Armen, machte keine Anstalten ihn von sich zu stoßen.

Lloyd bedauerte, dies nicht schon früher gemacht zu haben. In den wenigen Tagen, die er in Kastolat war, hätten sie so vieles machen können. Er wollte bleiben.

Doch gleichzeitig wusste er, dass dieser Wunsch ihm nicht gewährt wurde. Er musste gehen. So sehr er auch wollte, er konnte keinen weiteren Tag hier verbringen. Jede Sekunde, die verstrich, wartete Cahlia auf ihn, um endlich wieder nach Hause aufzubrechen.

Viel zu schnell musste er sich von Tavaren lösen. Seine Ohren hatten sich erhitzt und dem Wächter ging es ebenso. Die Wangen glühten. Seine Haare waren leicht zerzaust und einige Strähnen hatte sich aus dem Knoten an seinen Hinterkopf gelöst. Der warme Atem ließ die Luft in dem Raum noch stickiger erscheinen.

„Falls ich noch einmal in der Gegend bin", sagte Lloyd, die Stimme ein wenig heiser. „Dann hoffe ich, macht es Euch nichts aus, wenn ich Euch besuchen komme." Er strich sanft an Tavarens Wange entlang und drückte ihm noch einen letzten Kuss auf die Lippen, ehe er sich erhob und zur Tür ging. „Bis zum nächsten Mal, Tavaren", verabschiedete er sich und trat auf den Flur. Sogleich sprintete er los, um seiner Schwester zu folgen. Doch diesen einen Gedanken konnte Lloyd nicht vertreiben: Er wollte nicht gehen.

Tavaren blieb währenddessen in der Zelle sitzen. Ihm war es noch nicht gelungen, seine Stimme wiederzufinden. Sein Rücken schmerzte, weil er in einer seltsamen halb liegenden Position gegen die Wand gedrückt worden war. Seine Lippen schmerzten, weil Lloyd sehr viel mehr Kraft besaß, als man auf den ersten Blick erahnen könnte. Und seine Zähne schmerzten, weil der Anfang des Kusses zu ungeschickt gewesen war.

Er sah zur Tür, aus der Lloyd verschwunden war und strich sich mit einer Hand an den Lippen entlang, aber so ganz konnte er nicht begreifen, was gerade geschehen war, oder ob er es sich nur eingebildet hatte.


Cahlia wartete in der Zelle auf Lloyd. Sobald er in der Tür auftauchte, erkannte sie, dass etwas vorgefallen war. „Hast du dich um den Wächter gekümmert?", fragte sie.

Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Hab ich", sagte er knapp.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „A-ha", sagte sie betont langsam. Einige Sekunden sahen sich die Geschwister schweigend an. Cahlia, weil sie überlegte, ob sie das Unausgesprochene aussprechen sollte und Lloyd, weil er genau dies von ihr erwartete.

Aber stattdessen schnaubte sein Schwester und sagte: „Hilfst du mir jetzt endlich aus den Fesseln?"

Wortlos zückte Lloyd seine Klinge und durchschnitt die Seile.

„Du hast also doch ein Messer", kommentierte Cahlia.

„Natürlich", antwortete der Prinz knapp und ging schon zu der Öffnung in der Wand, um Cahlia aus der Zelle zu helfen.

„Warum hast du denn vorhin nach einer Waffe bei dem Wächter gesucht?", hakte Cahlia nach.

Lloyd antwortete ihr nicht und sagte stattdessen: „Wir sollten von hier verschwinden. Lass mich dir hoch helfen und ziehe mich dann hier raus. Draußen musst du still sein. Es sind ziemlich viele Wachen unterwegs."

„Okay, okay", sagte sie und winkte ab. Sie stellte ihren Fuß in Lloyds Hände und ließ sich von ihm hochheben. Oben angekommen reichte sie ihm ihre Hand und half ihm aus der Zelle.

Einer der Monde hatte sich mittlerweile hinter einem dunklen Wolkenschleier verborgen, doch der andere ließ sein Licht deswegen nur umso heller strahlen.

Jetzt mussten sie schnell sein.

Lloyd gab Cahlia ein Handzeichen, dass sie hinter ihm bleiben sollte. Sie gehorchte ohne Widerworte. Er führte sie auf dem Weg zurück, den er genommen hatte, als er das Verlies betreten hatte. In den Schatten griffen sie Argon auf, der glücklicherweise nicht geschnappt worden war. An einer Stelle der Mauer, die uneinsichtig war, half Lloyd den beiden, sie zu überqueren und sprang schließlich als Letzter aus dem Kerkergelände.

Doch nun musste er doch noch ein letztes Mal in des Meisterdiebes Versteck. In der Hoffnung, dass Ejahl nicht wach sein würde, öffnete Lloyd die Tür. Innen war es dunkel und stickig, wie jedes Mal, wenn er das Haus betreten hatte.

Schnell und lautlos führte er seine Verbündeten durch den Raum. Er wollte Ejahl auf keinen Fall noch einmal begegnen. Nicht wenn Argon und Cahlia ihn begleiteten und vor allem nicht, seit er wusste, dass der Dieb einen Raben kannte.

Doch dieser Wunsch war ihm nicht vergönnt. Schritte kamen die Treppe herunter. Das Holz knarzte leise unter den Stiefeln. Lloyd winkte schnell Cahlia und Argon hinter den Vorhang, der die Treppe in den Keller verbarg.

„Und ich dachte, dass wir uns schon verabschiedet hatten", ertönte Ejahls Stimme und kurz darauf erschien der Meisterdieb vor Lloyd. „Oder habt Ihr Euch entschieden, mein Angebot doch noch anzunehmen, ehe Ihr geht?"

Das Angebot? Lloyd musste einige Augenblicke überlegen, ehe er wusste, wovon Ejahl sprach. Als er heute auf das Sofa gedeutet hatte, hatte er etwas anderes im Sinn gehabt als nur einen Kuss.

Abwehrend hob Lloyd die Hände und sagte entschieden: „Nein."

Ejahl lachte leise, lehnte sich gegen die Wand und nahm einen Zug aus seiner Pfeife. „Weshalb seid Ihr dann zurück?"

„Es gab einige unvorhergesehene Schwierigkeiten", sagte Lloyd.

„Ja, ich habe davon gehört." Ejahl stieß sich wieder von der Wand ab und schlenderte zu Lloyd. „Ihr habt ihn gesehen, nicht wahr?", fragte er. „Ein Glück hatte er schon gegessen. Elfen kann er für gewöhnlich nicht widerstehen."

Lloyd schluckte. Die Erinnerung an den Raben kam in ihm wieder hoch. Das Blutbad in der Residenz, das er hatte sehen müssen.

„Immer wenn ich mit ihm zu tun habe, stellt sich mir eine Frage. Sind die Raben wirklich die Mörder oder nur die Waffen?"

Lloyd schüttelte den Kopf. Er wollte diese Bilder nicht in seinem Kopf haben.

„Aber ich will Euch nicht länger aufhalten", sagte Ejahl. „Schließlich seid Ihr und Eure Freunde schon auf dem Heimweg. Solltet Ihr aber mal wieder hier im Norden sein, dann schaut doch bei mir vorbei. Ich bin mir sicher, dass Ihr es nicht bereuen werdet."

Ohne auf eine Antwort  zu warten, drehte sich der Meisterdieb um und stieg wieder die Treppe herauf. Lloyd hinterfragte nicht, woher Ejahl auf einmal diesen Sinneswechsel hatte, schließlich hatte der Meisterdieb bei deren letztem Abschied noch ‚auf nimmer Wiedersehen' gesagt. Er schüttelte den Kopf und schob den Vorhang auf, um Argon und Cahlia zu folgen. Aber die beiden standen direkt hinter dem Vorhang und hatten jedes Wort mitangehört.

„Wer war das?", fragte Cahlia.

„Niemand." Lloyd ging an ihnen vorbei und führte sie in den Keller.

„Einer dieser Niemande?", hakte sie nach.

Der Prinz schnaubte nur. Für diese Diskussion hatte er keine Zeit. Er entzündete eines seiner Streichhölzer und betrat mit schnellen Schritten die Katakomben.

Cahlia schnalzte verärgert mit der Zunge, folgte ihm aber wortlos. Argon begleitete die Geschwister mit eingezogenem Kopf, damit Cahlias Zorn sich nicht auch gegen ihn richten konnte.


Es dauerte nicht lange, da hatten die Elfen Kastolat verlassen und waren auf dem Weg in ihre Heimat. Von dem Chaos, das sie im Norden verursacht hatten, bemerkten sie nichts.

Tavaren hatte so lange gewartet, wie er konnte, um das Verschwinden der Gefangenen zu melden. Er hatte vorgegeben, bewusstlos zu sein, bis die Wachen vor der Tür, wieder zu Bewusstsein gekommen waren und Alarm schlugen. Doch zu dem Zeitpunkt war es schon zu spät, um die Elfen noch aufspüren zu können.

Lloyd wurde für den Mord an dem Herzogspaar verantwortlich gemacht. Zwei Boten wurden in den Großen Wald geschickt, um von dem Elfenkönig Leandras die Auslieferung seines Sohnes zu verlangen. Doch weder die Boten noch etwaige Antworten kehrten in den Norden zurück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top