Arroganz II

Wärme breitete sich in Lloyds Körper aus. Nach und nach vertrieb sie die Kälte aus seinen Knochen. Er war nicht gestorben, obwohl Murasaki ihn erst in den Schnee gebracht und dann zum Sterben zurückgelassen hatte. Zögerlich öffnete er die Augen. Seine Sicht war noch verschwommen, aber nach und nach klärte sich sein Blick auf. Aus gekipptem Blickwinkel sah er den zugezogenen Eingang eines Zeltes.

Er richtete sich auf. In seinem Kopf dröhnte Schmerz. Die violette Robe hatte er immer noch über die Schultern gelegt und nun schlüpfte er in die weiten Ärmel. Lila hatte er noch nie besonders gemocht und je mehr Zeit er mit Murasaki verbrachte, desto größer wurde seine Abneigung gegen diese Farbe.

Mit einem Kopfschütteln vertrieb er den Erzähler aus seinen Gedanken. Zunächst musste er herausfinden, wo er war und wie er zum Berg der Drachen zurückkam. Er erhob sich vorsichtig, schlang sich die violette Robe um den Körper und bewegte sich auf wackeligen Beinen zum Eingang des Zeltes.

Vielleicht war Murasaki doch zurückgekehrt, um ihn zu retten. Denn wer sollte sich sonst in das Gebirge gewagt haben. Elliot hätte ihn sicherlich sofort zurück in den Berg und nicht erst in ein Zelt gebracht.

Noch ehe er den Ausgang erreichte, wurde die Plane, die den Blick nach außen versperrte, hochgehoben. Grelles Licht blendete ihn. Ein Schatten schob sich in sein Sichtfeld und betrat das Zelt.

Lloyds Herz zog sich zusammen. Wer auch immer das war, er war groß. Größer noch als Kematian. Er wich zurück. Nur weg von diesem riesenhaften Schatten. Der Elf war nicht gefesselt, aber zweifelte, ob sein Gegenüber ein Freund war oder ihn einfach nur nicht als Gefahr ansah.

Der Fremde schnaubte. „Seine Majestät ist also erwacht." Der Ton trug keine Demut, sondern Spott. Und so wurde die Vermutung bestätigt. Kein Freund.

„Wer seid Ihr?", fragte Lloyd. Die Stimme versuchte er möglichst fest klingen zu lassen. Er richtete die violette Robe und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der Fremde stieß ein kurzes Lachen aus. Lloyds Augen gewöhnten sich langsam wieder an die Dunkelheit. Und bei dem Anblick kroch ihm die Angst weiter über den Rücken. Nicht nur war der Fremde riesig, auf seinem Haupt prangten auch noch Hörner wie die eines Stieres. Eines von ihnen war abgebrochen und nur noch durch einen Stumpf zu erahnen.

Vor Schreck wich Lloyd noch einige Schritte zurück. Er hatte ein solches Wesen noch nie gesehen, aber Elliot hatte ihn ja bereits vorgewarnt, dass die Drachen dieses Reich mit anderen Kreaturen teilten.

„Ich bin Dordaron, Stammesführer der Quarak", stellte sich der Fremde vor. „Und Ihr seid wohl derjenige, den man den ‚Dunklen König' nennt?"

„Das ist das erste Mal, dass ich diesen Titel höre", gab Lloyd zurück. „Ich bin der König der Drachen, falls das Eure Frage ist. Und ich schlage vor, dass Ihr mich wieder zu ihnen zurückbringt."

Wieder lachte Dordaron kurz. „Ihr habt keine Ahnung, wo Ihr hineingeraten seid, oh König. Wie alt seid Ihr? Keine dreißig, oder?"

„Fünfundzwanzig", murmelte Lloyd.

„Und so jung wollt Ihr ein Königreich führen?" Dordaron schien nun doch ein wenig überrascht von der Antwort, aber er fing sich schnell wieder. „Wir werden Euch gewiss nicht zu den Drachen zurückbringen. Lord Sindak hat nämlich ein hübsches Sümmchen auf Euren Kopf aufgesetzt."

Lloyd presste die Lippen zusammen. Er wusste nicht, wer dieser Lord Sindak war, doch das wollte er nicht zugeben. „Lasst mich gehen", sagte er stattdessen.

„Sicherlich nicht", antwortete Dordaron trocken. Er wandte sich wieder zum Gehen. „Und versucht nicht einmal dieses Zelt zu verlassen. Die Kälte draußen würde Euch in wenigen Minuten umbringen." Mit diesen Worten verabschiedete er sich und ließ den Elfen allein.

Lloyd schnaubte. Er wartete wenige Minuten, bis er sich sicher war, dass Dordaron nicht zurückkehren würde, dann hob er die Plane des Zeltes an und schlüpfte hinaus. Der Schnee stach ihm in die nackten Fußsohlen, aber er ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Nur weg, dachte er und rannte los, ohne darauf zu achten, wohin er lief. Er wusste nicht, ob er tiefer in das Gebirge gelangte oder es verließ.

Doch schon nach wenigen Minuten, spürte er erneut, wie seine Fingerspitzen und seine Füße taub wurden. Wieder wurden sie gläsern. Er konnte nicht entkommen.

Aber er versuchte es weiter, kämpfte sich weiter durch den Schnee, der ihm bis zu den Knien reichte. Mühsam machte er jeden Schritt. Und dann fiel er. Mitten in den Schnee. Die Taubheit breitete sich in ihm aus, nahm ihn ganz in Besitz.

Er wollte aufstehen, wollte sich bewegen und weiter fliehen, aber es gelang ihm nicht. Selbst als er die Hände in den Schnee stemmte, fiel er wieder.

Kraftlos drehte er sich auf den Rücken und hauchte nur ein Wort, rief eine Person. „Murasaki."


Die Tasse fiel aus Murasakis Hand und fiel auf den lila Teppich. Sie zerschellte nicht, aber ihr Inhalt ergoss sich auf dem Boden.

Kyrat, der seine Hand gerade nach der Tasse ausgestreckt hatte, runzelte die Stirn.

„Ich glaube, ich wurde gerade gerufen", sagte Murasaki. „Er hat mich tatsächlich gerufen, kannst du das glauben?"

Kyrat verdrehte nur wortlos die Augen.

„Ich habe ihn im Gebirge ausgesetzt, frierend und halb tot, und er ruft nach mir." Murasaki stieß ein leises Lachen aus und schüttelte seinen Kopf. „Irgendwas muss Leandras in seiner Erziehung falsch gemacht haben. Jeder hat ihm gesagt, dass er mir nicht trauen soll. Selbst ich habe es ihm gesagt... und er wendet sich trotzdem an mich. Er läuft doch wirklich selbst ins Messer. Ach was, er stürzt sich bereitwillig und freudig hinein." Er seufzte leise. „Aber du wolltest etwas von mir."

Kyrat legte seinen Kopf schief.

„Schau mich nicht so an", erwiderte Murasaki. „Wenn Lloyd bis jetzt überlebt hat, dann wird er das schon ohne mich schaffen. Außerdem warst du doch derjenige, der nicht wollte, dass ich ihm helfe. Hattest du etwa einen Sinneswandel?"

Kyrat presste die Lippen zusammen. Er würde kein Wort dazu sagen. Stumm stand er auf und ging auf die Tür zu.

„Warte, warte", sagte Murasaki und hüpfte in seinen Weg. „Du bist doch gerade erst hergekommen. Ich kann dir einen neuen Tee machen." Er blickte wehleidig auf den dunklen Fleck im Teppich.

Kyrat schüttelte den Kopf und schob sich an dem Erzähler vorbei.

„Aber ohne dich ist mir so langweilig~" Kurz stockte Murasaki, ehe er zu lachen begann. „In Ordnung, das war gelogen. Auf Wiedersehen, Kyrat. Grüß Laurent von mir, wenn du ihm begegnest. Er sucht dich doch wieder, nicht wahr?"

Kyrats Blick verdunkelte sich. Die Hand, die er schon an die Klinke gelegt hatte, ließ er nun sinken und er drehte sich um. Mit einem Ausdruck in dem Gesicht, als hätte er gerade seine persönliche Hölle betreten, ging er wieder zu dem Sessel und setzte sich, während Murasaki ihm neuen Tee eingoss.


Als Lloyd die Augen aufschlug, sah er wieder das Zelt vor sich. Er war zurück hier. Dordaron muss ihn irgendwie gefunden haben.

Er richtete sich auf und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. Wenigstens war er noch lebendig.

Er presste die Lippen zusammen. Murasaki war nicht zurückgekehrt, hatte ihn nicht gerettet, obwohl er ihn gerufen hatte. Diese Erkenntnis stach ihm tief ins Herz, tiefer als er zugeben wollte und schmerzhafter als er erwartet hatte. Der Erzähler war kein Retter und Lloyd ein Narr, sein Vertrauen in ihn zu setzen.

Er schlang sich die Robe wieder um den Körper und strich an dem violetten Stoff entlang. Seidig weich und am Kragen und Saum mit Goldfäden bestickt. Er ließ seine Hand in einem der weiten Ärmel verschwinden. Schon öfter hatte er bemerkt, wie Murasaki Gegenstände aus ihm hervorgezogen hatte. Vielleicht verbarg sich dort etwas Hilfreiches.

Seine Fingerspitzen ertasteten eine Tasche. Er ließ die Hand darin verschwinden. Und tatsächlich. Irgendetwas war darin. Etwas, das er zuvor nicht bemerkt hatte. Er griff nach dem Gegenstand und holte ihn hervor.

Ein Apfel. In dem Ärmel hatte sich ein Apfel verborgen. Lloyd schnaubte. Es war kein Stück hilfreich.

Mit dem Apfel in seiner Hand, begann sein Magen leise zu rumoren. Er schnalzte verärgert mit der Zunge. Selbst jetzt, wo der Erzähler ihn doch schon verlassen hatte, wurde er weiterhin von ihm verhöhnt.

Frustriert biss er in den Apfel. Er schmeckte besser als jede Frucht, die er bisher gegessen hatte, besser als man von Obst, das – wer weiß, wie lange – in einem Ärmel gesteckt hatte, erwarten könnte. Doch Lloyds Brauen blieben zusammengeschoben, die Mundwinkel nach unten gerichtet.

Er hasste den Erzähler mit jeder Faser seines Körpers. Und jetzt war er wieder zurück bei Dordaron – was auch immer er war – und sollte an Lord Sindak übergeben werden – wer auch immer das war. Sein Blick fiel auf die Stelle in der Plane, wo er das letzte Mal hindurchgeschlüpft war. Vielleicht sollte er einfach nochmal die Flucht wagen und hoffen, dass er diesmal dabei sterben würde.

Er nahm einen weiteren Bissen von dem Apfel. Sindak... wenn er es geschafft hatte, zurück in den Drachenberg zu gelangen, würde er Elliot nach dem Lord fragen. Und nach Dordaron würde er ihn auch fragen.

Er knabberte weiter an dem Apfel, biss kaum mehr vernünftig ab, sondern schabte nur mit den Zähnen an ihm. Und dann hätte er ein ernstes Wörtchen mit Murasaki zu reden. Lloyd schluckte schwer. Seine Kehle schnürte sich bei dem Gedanken an den Erzähler zu. Er hatte Murasaki gerufen, aber er der Erzähler hatte ihn zurückgelassen. Einfach so.

Lloyd ließ seine Hand in dem anderen Ärmel verschwinden. Auch hier fand er wieder eine Tasche, doch diesmal war sie leer. Er presste die Lippen zusammen. Eigentlich hatte er gehofft, ein Messer zu finden, mit dem er Murasaki bei der nächsten Gelegenheit erdolchen könnte.

Er schnaubte und schob seine Brauen noch weiter zusammen, bis nicht nur eine Furche, sondern sogar ein Tal zwischen ihnen entstand. Aber dann stockte er und sein Blick hellte sich wieder auf. Vielleicht hatte Murasaki ihn nicht gehört. Sein Ruf war nur ein Hauchen gewesen, die Worte zu leise. Sicherlich wird es daran liegen.

Er schlug die weiten Ärmel zurück und erhob sich. Die Reste des Apfels ließ er achtlos auf den Boden fallen. In der Mitte des Zeltes drehte er sich einmal und rief aus voller Seele: „MURASAKI!" Mit seinen Händen formte er einen Trichter um seinen Mund herum. „MURASAKI, VERDAMMT, HOLT MICH ENDLICH FORT VON HIER!"

Nichts. Keine Antwort. Kein Klirren von Ketten und kein flatternder lila Stoff.

Lloyd schnaubte. Was hatte er erwartet? Dass Murasaki einfach auftauchen und ihn retten würde? Schmollend ließ sich Lloyd wieder im Schneidersitz auf den Boden plumpsen. Ja, genau das hatte er erwartet. Nur einmal wollte er Murasaki sehen, aber das war ihm nicht vergönnt.

Die Plane des Zeltes erhob sich, aber anstelle des Erzählers trat Dordaron ein. „Was schreit Ihr so? Es ist mitten in der Nacht", fragte er.

Lloyd verschränkte die Arme vor der Brust und antwortete: „Nichts. Ich werde nicht mehr weiter rufen."

Dordaron brummte nur, dann drehte er sich wieder um und verließ das Zelt. Lloyd blieb auf dem Boden sitzen, aber die Verschränkung seiner Arme löste er auf und er sank ein Stück in sich zusammen.

Ein Schrei erklang außerhalb des Zeltes, dann erzitterte der Boden, als etwas Schweres ihn erreichte. Lloyd sprang auf die Beine. Er hastete zum Eingang und schlüpfte hinaus.

Im Licht der Monde glänzten die goldenen Schuppen des Drachen, der nur wenige Augenblicke zuvor im Schnee gelandet war. Einer der Gehörnten war zu Boden gestürzt und kroch nun panisch von den messerlangen Krallen weg.

„Elliot", hauchte Lloyd und wollte schon zu dem Drachen eilen, aber Dordaron stellte sich ihm in den Weg.

„Elliot", begrüßte Dordaron nun den Drachen. „Habt Ihr auch endlich hierher gefunden?" Da war ein Hauch von Unsicherheit in seiner Stimme, der verkündete, dass er keineswegs mit dem Auftreten des Drachen gerechnet hatte.

Elliot antwortete mit einem dumpfen Grollen. Dunkler Rauch stieg aus seinen Nasenöffnungen auf. Sein Schwanz peitschte durch den Schnee und traf einen der Gehörnten, der mit einem leisen Jaulen aufsprang und aus dem Weg hüpfte.

Immer mehr der Gehörnten traten aus den Zelten und verteilten sich in einem Kreis um Elliot herum, der sie alle allein durch seine Präsenz auf Abstand hielt. Selbst Dordaron wich einen Schritt zurück, als der Drache ein Stück auf ihn zukam.

Lloyd witterte seine Gelegenheit. „Ich schätze, dann heißt es nun Abschied nehmen, mein Werter", sagte er und klopfte leicht auf Dordarons Schulter, ehe er zu Elliot eilte.

Dordaron ließ es zu. Lloyd wusste nicht, ob aus Angst vor dem Drachen oder ob es noch einen anderen Grund gab, aber er wurde nicht aufgehalten. Auch nicht als er in Elliots Nacken stieg und der Drache sich mit einem kräftigen Flügelschlag in die Luft erhob.

Erst als das Lager der Gehörnten schon einige hundert Meter entfernt war, ergriff Elliot das Wort. „Verzeiht, mein König", sagte er. „Ich hätte besser auf Euch achtgeben sollen. Ich hätte wissen müssen, dass Euch Gefahren drohen, mein König. Ich hätte Euch beschützen sollen."

Lloyd legte eine Hand an Elliots Hals und tätschelte ihn leicht. „Ihr hättet es nicht vorhersehen können", beruhigte er den Drachen. „Aber ich danke Euch, dass Ihr mich dort herausgeholt habt."

„Ich habe Euch zwei Tage lang gesucht, mein König." In Elliots Selbstgeißelung konnte Lloyd ihn nicht aufhalten. „Verzeiht, dass ich so lange gebraucht habe."

„Ist schon in Ordnung, Elliot", sagte Lloyd. „Ich bin nicht wütend auf Euch, sondern dankbar. Macht Euch nicht so viele Gedanken." Er strich weiter über die goldenen Schuppen.

Elliot stieß ein wohliges Schnauben aus. „Ich danke Euch für Eure Gnade, mein König."

Lloyd schüttelte seinen Kopf und seufzte. Was sollte er nur mit dieser Demut anfangen?

„Seid Ihr erschöpft, mein König?", fragte Elliot.

„Ein bisschen", antwortete Lloyd. „Aber es geht schon."

„Dann werde ich mich beeilen, damit Ihr Euch so schnell wie möglich ausruhen könnt."

Lloyd nickte. Einige Minuten schwieg er, betrachtete nur die Zwillingsmonde, die mit ihrem Licht die düstere Welt silbern färbten, aber dann er ergriff er wieder das Wort. „Darf ich Euch eine Frage stellen?"

„Selbstverständlich, mein König", antwortete Elliot.

„Wer war das?"

„Das war Dordaron, der Stammvater der Quarak", erklärte Elliot. „Sein Stamm lebt am Fuße des Gebirges, weil er dort die meiste Zeit ungestört ist. Nur selten kommt jemand zu ihm und er wagt es nur selten seine Lagerstätte zu verlassen."

Lloyd nickte. „Und wer ist Lord Sindak?"

Elliot erstarrte kurz und schwieg einige Sekunden, ehe er antwortete: „Der Herrscher der Dunkelelfen. Unser Feind."

Wieder nickte Lloyd. Dordaron hatte ihn an die Dunkelelfen ausliefern wollen. Seine Krönung muss sich schneller und vor allem weiter herumgesprochen haben, als er gedacht hatte. Wenn nicht nur Dordaron, sondern sogar der Lord davon erfahren hatte, dann muss etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Jemand hatte die Krönung verraten.

„Beschäftigt Euch etwas, mein König?", fragte Elliot.

Lloyd winkte ab. „Es ist nichts", sagte er. „Lasst uns nur so schnell wie möglich zum Berg zurückkehren, damit ich ein wenig Schlaf bekomme."

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