Alte Gewohnheiten I

„Einladung?", schnarrte der Dunkelelf und beäugte Lloyd und Kyrat argwöhnisch. Stumm reichte Kyrat ihm das Stück Papier, das Murasaki ihm zuvor gegeben hatte, und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Dadurch entlarvte er sich nicht mit seinen Reimen und wirkte viel eher wie ein zurückhaltendes Mädchen. Er hatte seine Drohung nämlich wahr gemacht und trug ein Kleid. Ein bodenlanges tiefrotes Kleid, auf das in feiner Handarbeit schwarze Rosen gestickt waren und dessen Korsett mit winzigen glitzernden Rubinen verziert war. Dazu trug er noch eine Perücke, durch die ihm lange dunkelbraune Haare in Wellen über die Schultern fielen.

Lloyd war sehr darauf bedacht gewesen, sich passend zu ihm zu kleiden. Er trug einen schwarzen Gehrock, der mit feinen roten Fäden durchzogen war und dessen Revers mit Rubinen bestickt war. Die Krone hatte er im Berg der Drachen gelassen. Er machte sich zwar keine Hoffnungen, dass er in einem Meer aus Dunkelelfen unentdeckt bliebe, aber er wollte es zumindest versuchen.

Der Dunkelelf, der sich Kyrats Einladung durchgelesen hatte, sah nun ungläubig auf, aber in seiner Position konnte er nichts anderes tun, als den beiden Einlass zu gewähren. Aber Lloyd war sich sicher, dass der Diener auf direktem Wege, jemandem Bescheid geben würde, damit die beiden Ankömmlinge genauestens beobachtet wurden.

„Wie fühlt Ihr Euch", fragte Lloyd den Jungen leise. Sie waren eine Weile per Kutsche gereist und Kyrat war während der Fahrt immer blasser geworden. Der Junge winkte aber nur ab.

Sie waren kaum zwei Schritte in die Residenz getreten, da kam ein Dunkelelf herbei. „Darf dieser Diener Euch den Weg weisen, Mylord, Mylady?", fragte er mit gesenktem Haupt.

„Sehr gerne", antwortete Lloyd mit samtiger Stimme und schenkte dem Diener das Lächeln, das er schon vielfach bei höfischen Festen aufgesetzt hatte, um seine Abneigung gegen diese Festlichkeiten zu verbergen. Und dieser Ball sollte drei Tage lang gehen. Drei Tage lang musste er diese Tortur über sich ergehen lassen.

Kyrat nickte nur wortlos. Was hätte auch großartig reimen sollen?

„Dann folgt bitte, diesem einfachen Diener", sprach der Dunkelelf. Lloyd bot Kyrat seinen Arm an. Der Junge ergriff ihn sogleich und beide folgten dem Diener durch den dunkel verkleideten Korridor tiefer in das Innere des Anwesens.

Am Ende des Ganges öffnete der Dunkelelf eine Tür für die anderen beiden und verabschiedete sich daraufhin mit den Worten: „Dieser Diener wünscht Euch einen angenehmen Abend."

Lloyd nickte ihm höflich zu, während Kyrat ihn kaum beachtete. Mittlerweile war er leichenblass geworden und starrte mit einem Hauch von Angst in den gut besuchten Ballsaal.

Die Wände strahlten ihnen golden entgegen. Große Fenster, durch die das Licht der Sterne und der Zwillingsmonde schien, waren mit Edelsteinen umrahmt. Ungeachtet wie düster oder verderbt diese Elfen hier waren, in ihrem Empfinden für Luxus standen sie ihren lichten Verwandten auf der anderen Seite des Gebirges in Nichts nach. Auf der Seite, die den Fenstern gegenüber lag, war ein Bankett aufgebaut und auf einer Erhöhung spielte ein kleines Orchester, dessen Musik den gesamten Saal füllte.

Viel interessanter als die Einrichtung fand Lloyd jedoch die Gäste. Viele Dunkelelfen waren anwesend. Auch vom Äußeren unterschieden sie sich kaum von Leandras' Volk. Hochgewachsen und schlank. Lange Haare umspielten die fein geschnittenen Gesichter und die Elfen besaßen auch die charakteristischen spitzen Ohren. Doch statt der hellen Haut war die ihre dunkel. Statt der weißblonden Haare waren ihre zumeist schwarz.

Aber Lloyd sah nicht nur Dunkelelfen. Auch Gehörnte aus Dordarons Stamm befanden sich unter den Gästen. Als er zum zweiten Mal mit seinem Blick über die Menge schweifte, sah er auch Dordaron selbst.

Nur... wer unter den hier Anwesenden war der Engel?

Obwohl Lloyd und Kyrat erst recht spät auf dem Ball angekommen waren und sich auf dem Parkett schon viele Gäste tummelten, so blieben sie trotzdem nicht unbemerkt. Bevor sie auch nur einen weiteren Schritt in den Saal hineinsetzen konnte, eilte ein Dunkelelf herbei. Seine Augen weiteten sich leicht, als er das Paar sah, aber er ließ sich durch sein Erstaunen nicht von seiner Aufgabe abbringen.

Mit einem langen Stock klopfte er zweimal auf den Boden und stellte die Neuankömmlinge vor: „Prinzessin Kyra aus Rededge in Nevras und an ihrer Seite der Dunkle König, Thronerbe von Everas, Befreier der Drachen, Retter der Abtrünnigen, Fürst des Ostens und Drachenreiter."

Lloyd versuchte sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Er konnte sich nicht erinnern, all diese Titel angenommen zu haben, und er wusste auch nicht, was die Hälfte von ihnen zu bedeuten hatten.

Sofort nachdem der Dunkelelf die Verkündung der Namen beendet hatte, wurde es still im Saal. Jeder hörte auf zu tanzen, zu lachen und zu reden. Selbst die Musik verstummte. Alle Augen ruhten auf den Neuankömmlingen. Hatte Lloyd zuvor noch Hoffnung gehabt, dass sie unentdeckt bleiben würden, so wurde diese Hoffnung nun von all den tausenden von Blicken aufgespießt, durchbohrt und auseinandergerissen.

Sekunden in völliger Stille verstrichen, ehe eine fremde Stimme durch den Saal hallte: „Kyra, meine liebste Nichte."

Lloyd spürte, wie sich Kyrats Finger um seinen Ärmel krampften und auch der Elf selbst spannte sich an.

Diese wenigen Worte durchbrachen ihre Verkleidung.

Ein blonder Haarschopf tauchte in der Menge auf und schlängelte sich zu ihnen hindurch. Ein Mann völlig in weiß kam zum Vorschein. Obwohl seine Worte freundlich waren, sah Lloyd diese Herzlichkeit nicht in den grünen Augen. Jedoch war das wohl Interessanteste an ihm: Er sah menschlich aus.

Der Blick des Fremden ruhte auf Kyrat, den Elfen ließ er gänzlich unbeachtet, als er sagte: „Ich habe schon so lange darauf gewartet, dich endlich einmal zu treffen."

Kyrat blieb stumm, immer noch entgeistert von dem Auftreten des Fremden, obwohl Murasaki ihn doch gewarnt hatte.

Lloyd hingegen ließ ein wenig Anspannung von sich abfallen. Der Blonde wusste nicht, wie seine Nichte aussah und konnte dementsprechend Kyrats Maskerade nicht durchschauen.

Als der Fremde keine Antwort von ‚seiner Nichte' erhielt schweifte sein Blick zu Lloyd. Er rümpfte die Nase, als er erkannte, dass sein Gegenüber größer als er selbst war. Lloyd nahm es sich heraus sein Kinn ein Stück anzuheben, um besser auf den Fremden herabblicken zu können.

Der Blonde musterte ihn eindringlich. Lloyd selbst erwartete, dass er etwas sagen wollte, aber der Fremde blieb stumm. Einige Momente vergingen in völliger Stille, während die beiden Männer sich nur beobachteten. Lloyd durch seine stählernen grauen Augen und der Fremde mit stechend grünem Blick.

Nach einer Weile schnalzte der Blonde unwirsch mit der Zunge und klatschte in die Hände. „Musik!", rief er. „Warum spielt niemand?"

Die Orchesterspieler sahen sich verdutzt an, aber sie setzten wieder zum Musizieren an. Kurz darauf begannen auch die Gäste sich wieder auf ihre Gespräche zu konzentrieren. Doch Lloyd spürte weiterhin Blicke in seinem Rücken. Feinde, die nur warteten, ihn zu erdolchen.

Der Fremde sprach nun mit dem König: „Wenn Ihr erlaubt, entführe ich Eure Begleitung, meine Nichte, nun zu einem Tanz." Er fragte nicht, sondern streckte wie selbstverständlich seine Hand Kyrat entgegen.

Aber der Junge ergriff sie nicht, starrte sie nur an und schob sich ein Stück weiter an Lloyd heran, um sich vor dem Fremden zu verbergen.

„Ihr habt Euch mir noch nicht einmal vorgestellt und erwartet, dass ich Kyra an Euch übergebe?", fragte Lloyd.

Dem Fremden legte sich ein Lächeln auf das Gesicht, das falscher nicht sein könnte. Selbst Murasakis Lächeln war freundlich gegen das, was ihm nun entgegenblickte.

„Mein Name ist Sascha", stellte er sich vor. „Ich vermute, von meinem Bruder habt Ihr sicherlich schon gehört. Er sitzt auf dem Thron in Rededge."

Lloyd erstarrte. Er warf einen Blick auf Kyrat, der immer noch an seinem Arm hing und unsicher zurückblickte. Dann sah er wieder zu dem Fremden, Sascha. Der Engel.

„Wir sind gerade erst hier eingetroffen", sagte Lloyd. „Gebt uns einige Minuten. Ich bin mir sicher, später werden wir noch ausreichend Zeit haben, um uns zu unterhalten."

Sascha war sichtlich unzufrieden mit dieser Antwort, aber er nickte. „Dann sehen wir uns später", sagte er, wandte sich daraufhin Kyrat zu und verabschiedete sich mit sanftem Ton: „Auf Wiedersehen, Kyra."

Doch kaum war der Engel verschwunden, trat eine weitere Gestalt die beiden heran. Schon ehe Lloyd sich umgekehrt hatte, bemerkte er den hochgewachsenen Schatten, der sich hinter ihm aufgeragt hatte.

„So sieht man sich wieder", hörte er eine bekannte Stimme.

Lloyd schluckte und drehte sich langsam um. „Dordaron", begrüßte er den Gehörnten, der mit verschränkten Armen auf ihn herabblickte. „Ich würde ja sagen, dass es mir eine Freude ist, aber das wäre gelogen."

Diese Antwort brachte Dordaron dazu belustigt zu schnauben und lächelte den Elfen sogar an. Lloyds Nackenhaare stellten sich auf. Nicht weil das Lächeln unfreundlich oder falsch war, sondern weil er nicht wusste, was diese plötzliche Freundlichkeit hervorgerufen hatte.

Dordarons Blick wanderte zu Kyrat, der sich immer noch an Lloyds Arm festkrallte. Seine Augen weiteten sich leicht, als er erkannte, wer dort in dem Kleid steckte. Sein Lächeln wurde eine Spur breiter.

Er kam näher zu den beiden. Während der Elf zurückwich, blieb Kyrat stehen und ließ sich von Dordarons ausgebreiteten Armen umschließen und anheben. Lloyd starrte entgeistert auf das Bild, das sich ihm bot. Er war bereit einzuschreiten und Kyrat davor zu retten, von dem Gehörnten erwürgt zu werden, aber ehe er zum Schlag ausholte, erkannte er, dass es sich keineswegs um einen Angriff von Dordaron handelte. Nein, es war eine Umarmung.

„Wie lange ist es her, Kleiner?", fragte Dordaron und setzte den Jungen wieder auf den Boden. Kyrat zupfte sein Kleid zurecht.

„Ihr kennt Euch?", fragte Lloyd, ehe der Junge auch nur ansetzen konnte, Dordarons Frage zu beantworten.

Dordaron sah zurück zu dem König. Ein Stück des freundlichen Glitzerns verschwand aus seinen Augen. „Flüchtig", antwortete er.

„Flüchtig?", hakte Lloyd nach. Die Umarmung hatte auf ihn nicht wie eine ‚flüchtige Bekanntschaft' gewirkt.

Dordaron zuckte mit den Schultern. „Der Junge hat mir ein Horn abgebrochen", sagte er und deutete auf den Stumpf an seinem Kopf. „Es war also ein flüchtiges Kennenlernen."

Lloyds Brauen schoben sich leicht zusammen. So leicht, dass sich kaum eine Falte bildete. Er hatte andere Antworten erhofft, aber anstatt weiter nachzubohren, wechselte er das Thema. „Ich hörte, dass Ihr das Gebirge nie verlasst", sagte er. „Was macht Ihr nun hier?"

„Ich wurde eingeladen und eine solche Einladung lehne ich gewiss nicht ab", antwortete Dordaron.

Lloyd presste die Lippen zusammen. Ihm war das alles nicht geheuer. Es sollte ein Dunkelelfenfest sein und Dordaron war kein Dunkelelf. Das konnte selbst ein Blinder erkennen.

„Dordaron", ertönte nun eine weitere Stimme. Eine unbekannte Stimme. Am Rande von Lloyds Blickfeld nahm er eine Bewegung wahr. Dann trat eine Gestalt zu dem Gehörnten. Ihre langen weißblonden Haare hoben sich deutlich von ihrer dunklen Haut ab. Ihre Gesichtszüge waren fein und sie schien jung zu sein, aber ihre spitzen Ohren verrieten ihre Herkunft und daher wagte Lloyd es nicht, ihr Alter zu bestimmen. Ein dunkles Kleid mit weiter Schleppe floss an ihren Konturen herab.

„Wolltet Ihr mir nicht Gesellschaft leisten?", fragte die Frau Dordaron. „Wie könnt Ihr denn einfach fortlaufen?" Trotz der klagenden Worte war ihr Ton freundlich. Dann richtete sie ihren Blick auf Lloyd, musterte ihn von oben bis unten, ehe sie auch ihm ein Lächeln schenkte.

„Ihr seid wohl der Dunkle König?", fragte sie. „Ich habe schon viel von Euch gehört."

Lloyd machte sich kaum mehr Gedanken, woher sie was über ihn gehört hatte, und er nickte nur noch. „Und Ihr seid?"

„Lady Sindak", antwortete sie. „Sicherlich habt Ihr den Namen schon gehört."

Lloyd erstarrte. Er warf erst einen Blick auf Dordaron, dann einen auf Kyrat und schließlich sah er zurück zu der Lady. „Sindak, sagtet Ihr?", fragte er.

Die Lady nickte zur Bestätigung. Und in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, es war eine Falle. Nicht nur die Frau des Herrschers war hier, auch Dordaron, von dem Lloyd zuvor gefangen genommen wurde. Und Selbiges sollte hier erneut geschehen. Da war er sicher.

Sein Blick wanderte zu Kyrat, der nun nach seinem Arm gegriffen hatte, aber die Lady sprach erneut, sodass Lloyd seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete.

„Wenn wir beide schon hier versammelt sind", begann sie, „sollten wir doch die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, uns zu unterhalten. Wir sind schließlich auf neutralem Boden."

Lloyds Nackenhaare stellten sich auf. Sie nannte es zwar ‚neutralen Boden', aber es war dennoch Feindesgebiet. Und trotzdem fühlte er sich verpflichtet, sie anzuhören. Nicht nur weil sie zu den Feinden der Drachen zählte, sondern auch weil er vermutete, durch sie eine Spur zu der Rose aus Eis zu finden. Sie war schließlich eine Nachfahrin der Lichtelfen.

Das Gefühl, dass ihm jeden Moment ein Messer im Rücken stecken könnte, verdrängte er und antwortete: „Das klingt nach einer guten Idee." Dann wandte er sich an Kyrat und fragte: „Kann ich Euch kurz allein lassen?"

Der Junge nickte nur und löste seine Finger von Lloyds Ärmel. Zwar fühlte der Elf sich unwohl dabei, ihn allein zu lassen, aber er wollte sich unbedingt mit der Lady unterhalten. Und daher ließ er Kyrat mit Dordaron zurück, während er selbst der Lady quer durch den Ballsaal folgte und mit ihr zusammen durch eine gläserne Flügeltür auf den Balkon trat.

Die Luft war mild an diesem Abend. Weder warm und schwül noch kühl und frisch. Es waren genau diese Temperaturen, bei denen man mit Jacke überhitzen würde, ohne jedoch frieren. Lloyd entschied sich, seinen Gehrock zwar anzubehalten, aber den obersten Knopf seines Hemdes zu öffnen.

Laternen leuchteten das Plateau aus, aber bis auf die beiden Elfen war der Balkon leer. Die anderen Gäste hielten sich lieber im Inneren auf. Die Stimmen wurden nach und nach leiser, bis sie nur noch leichtes Gemurmel im Hintergrund waren.

Lloyd lehnte sich gegen die Brüstung, von der aus er auf einen gut gepflegten Garten blicken konnte. Aber der Schein der Monde und auch das Licht der Laternen reichten nicht aus, dass er mehr als grobe Umrisse erkennen konnte.

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