1. KAPITEL

❝ DARIELLE ❞


Meine Zähne klappern so laut, dass mich einer der vielen Wächter innerhalb weniger Sekunden finden wird. Obwohl ich es mir auf diesem Baum einigermaßen gemütlich gemacht habe und mich die dicken Äste und Blätter vom pfeifenden Wind schützen, sitzt die Kälte so tief in meinen Knochen, dass ich meine Beine kaum noch spüren kann. Das ist gar keine gute Voraussetzung, wenn man bedenkt, dass mein Zielort ungefähr siebenhundert Meilen von meiner Heimat entfernt ist und ich mich erst dorthin begeben kann, wenn das Licht in den Schlafzimmern meiner Eltern endlich ausgeht.

Langsam strecke ich den Rücken durch, sodass meine tiefschwarzen Flügel zuerst aufklappen und mich dann umarmen, um mich wenigstens ein bisschen vor der Kälte zu schützen. Eine gute Sache haben die dunklen Federn: Man sieht sie nachts nicht. Ich kann mich also unbemerkt davonschleichen.

Es ist nicht so, dass ich überhaupt eine Wahl hätte. Morgen werde ich achtzehn Jahre alt und damit haben Mutter und Vater keinen Grund mehr, mich im Schloss zu behalten. Ich konnte bereits an ihren Gesichtern ablesen, dass sie sich auf meine baldige Volljährigkeit freuten, als sie mich ins Bett geschickt haben. Ich erledige das Herauswerfen für sie also einfach, indem ich mich selbst aus Andros fortschicke.

»Habt Ihr eine Befugnis, um sich vor den Toren des Schlosses aufzuhalten, Sir?«

»Sehe ich echt aus wie ein Sir?«, will ich schon irritiert fragen, als ich bemerke, dass der Wächter überhaupt nicht mich meint. Ich wäre aber auch enttäuscht von mir gewesen, wenn er mich in meinem guten Versteck auf dem Baum gesehen hätte.

Der Wächter spricht jedoch zu einer weitaus größeren und breiteren Gestalt als ich. Ich erkenne das Gesicht des jungen Mannes nicht, aber seine Haltung sagt mir, dass er adelig ist. Er kommt nicht aus Andros und ein König ist er auch nicht, dafür wirkt er zu jung. Vielleicht ist er ein Prinz?

»Ich habe mir die Befugnis selbst erteilt«, entgegnet er dem Wächter. Ich höre das selbstgefällige Grinsen aus seiner Stimme bis hier oben und verdrehe die Augen. Er ist definitiv adelig, hochnäsig und nervig bis zum Himmel. Was will er überhaupt so spät noch vor unserem Schloss?

Ich ermahne mich, dass es mich nichts mehr angeht, aber trotzdem kommt Sorge in mir auf. Zurecht. Denn als der Wächter nichts mehr entgegnet und grimmig sein Schwert zieht, hebt der Idiot doch glatt unschuldig die Hände und gibt ein leises, tiefes Lachen von sich. »Schon gut, ich zeige Euch meine Befugnis.«

Er greift in seine Manteltasche und ich kneife alarmiert die Augen zusammen. Seine Hand kommt weiß leuchtend wieder hervor und will den Lichtbündel auf die Wächter werfen, als ich blitzschnell reagiere, einen Apfel vom Baum pflücke und ihn gezielt auf den jungen Mann werfe. Er fliegt mit einer unnatürlichen Kraft auf ihn zu und trotzdem fängt er ihn mühelos auf und wirft ihn noch einmal spielerisch in die Luft.

Ich bin so beeindruckt, dass ich fast vom Baum gefallen wäre.

Spätestens jetzt weiß er, dass ich direkt über ihm sitze. Meine Theorie ist jedoch, dass er schon das Pflücken des Apfels gehört hat. Vielleicht wusste er aber auch schon von meiner Anwesenheit, bevor ich ihn überhaupt bemerkt habe.

Wütend knirsche ich mit den Zähnen. Er ist also nicht nur nervig, sondern auch verdammt aufmerksam. Von der Sorte habe ich bereits genug in meiner Familie.

»Wie wäre es, wenn du von diesem Baum endlich herunterkommen würdest?« Wieder grinst er selbstgefällig. »Oder wartest du darauf, dass ich dich hole?«

Ich antworte nichts, sondern ziehe meine Flügel ein und lande mit einem großen Sprung vor ihm, ohne dass meine Beine einknicken. Das kann ich anders als meine Brüder erst seit ein paar Monaten, was mich trotz meiner Spätzügigkeit ziemlich stolz macht.

Jetzt kann ich das Gesicht des Mannes endlich betrachten, obwohl es noch ein wenig dunkel ist. Das ist ebenfalls eine der Fähigkeiten, die ich nie lernen konnte: im Dunkeln zu sehen, als wäre es hell. Es ist nicht nötig zu erwähnen, dass alle im Schloss es können, sogar die Bediensteten, die nachts oft lange arbeiten müssen.

Neugierig wandern meine Augen über seine Statur, während er mich noch ein wenig dreister anstarrt. Seine Arroganz ist wenigstens nicht unbegründet. Ich betrachte seine nachtblauen Augen, die von langen Wimpern umrahmt sind und aufgeweckt und munter in meine blicken. Die Symmetrie seines Gesichts ist bewundernswert, aber nicht unüblich für adelige Engel. Trotzdem beeindrucken mich seine hohen Wangenknochen und der dazugehörige ausgeprägte Kiefer, während ich mir wünsche, er würde noch einmal tief Lachen, um mich sein Gesicht dann betrachten zu lassen.

An seinem Hals erkenne ich feine schwarze Linien, die sich in seine Haut gebrannt haben. Er trägt unter seinem Mantel keine Rüstung, was mich verwundert. Auch ist er ohne Waffen hierhergekommen, aber seine leuchtende Hand, die mit weißen Feuerbällen spucken kann, reicht ihm wahrscheinlich einfach aus. Tatsächlich sehe ich noch einen winzigen Funken in seiner Handfläche, doch er erlischt, als ich einen Blick darauf werfe.

»Ziemlich cool, nicht wahr?« Er lässt den weißen Feuerball erneut aufkommen und hält ihn mir hin, als könnte ich ihn einfach annehmen und selbst damit herumspielen.

Als hätte ich die Kraft dazu.

Ich reiße meine Augen von seiner Hand und starre für einen Moment auf die gewellte, dunkelbraune Haarsträhne, die ihm ins Gesicht fällt. Schnell zwinge ich mich dazu, ihm in die leuchtend blauen Augen zu sehen.

»Prinzessin, was tut Ihr noch zu so später Stunde hier draußen?«, fragt mich einer der Wächter verblüfft. Ihm scheint aufzufallen, dass ich entkommen wäre, wenn der Kerl vor mir nicht hier sein würde.

Ich seufze und schenke ihm dann ein gezwungenes Lächeln. »Ich musste mal für kleine Mädchen, sorry.«

Meine Worte bewirken ein erneutes Grinsen vom anonymen Idiot, dessen Gesicht nun viel weicher wirkt. »Wie edel von dir, Prinzessin

»Jeder hat eben seine Bedürfnisse«, entgegne ich nur, während ich mir die verstaubte Hose abklopfe. Ich muss für ihn wohl alles andere als königlich wirken, wenn man bemerkt, dass ich Hosen trage, ihn mit einem Apfel beworfen habe und von einem ungefähr sieben Meter hohen Baum gesprungen bin. Man muss nur zwei Minuten in meiner Nähe sein, um zu wissen, dass ich eine neue Stufe von sonderbar bin.

Ich will gerade an dem Kerl zurück ins Schloss vorbeilaufen und mir einen anderen Plan überlegen, um hier wegzukommen, als seine langen Finger meinen Unterarm umschließen. Ich drehe mich ruckartig um, während die Wächter ihre Schwerter ziehen und bereit sind, ihm damit die Kehle aufzuschlitzen, wenn es sein müsste. Und ich bin mir sicher, ich würde nicht einmal versuchen einzugreifen.

»Mein Auftraggeber hat mir dich ganz genau beschrieben«, sagt er beiläufig, als würden gerade nicht fünf Schwerter auf ihn gerichtet sein. »Er meinte, du bist klein, flink und aufmüpfig.«

Empört mache ich mich von ihm los. »Hat er dir auch von meinem extrem guten rechten Haken erzählt?«

Er schüttelt grinsend den Kopf. »Nein, aber du kannst ihn mir bei Gelegenheit gerne zeigen.«

Ich war lange nicht mehr so verblüfft wie in diesem Augenblick. Mit mir hat tatsächlich noch nie jemand in diesem Ton geredet. »Das werde ich, glaub mir. Ich warte nur noch auf den Moment, in dem du dich wie ein Idiot verhältst, aber das ist in den letzten dreißig Sekunden schon zu oft passiert, um mitzählen zu können.«

Leise lachend sieht er zu den Wächtern. »Ist sie nicht niedlich?«

Ich antworte für meine Wächter und sammele die letzte Kraft, die ich nach meinem legendären Sprung vom Baum noch habe, um meine Hand blitzschnell auszustrecken. Für jedes andere Auge wäre meine Faust unsichtbar gewesen, aber natürlich nicht für Mr Ich-kann-Feuerbälle-werfen, der meinen Schlag mühelos abfängt und mich so dreht, dass mein Rücken an seine breite und stahlharte Brust gepresst ist.

Mist.

»War das schon der rechte Haken oder dein Aufwärmschlag?«, flüstern seine Lippen ganz nah an meinem Ohr.

Es sind jetzt weitaus über zehn Wächter, deren Augen allesamt auf uns gerichtet sind. Langsam kommen sie mit gezückten Schwertern auf uns zu, doch ich weiß, dass sie wohl kaum angreifen werden, wenn dieser Kerl an meinem Rücken klebt. Ich blicke in die furchtlosen Gesichter der Männer und wünsche mich plötzlich weit, weit weg von hier. Hätte ich nicht darauf gewartet, dass die Lichter in den Gemächern meiner Familie ausgehen, wäre ich bereits ein paar Meilen von hier weg. Ich würde in meine eigene Freiheit und Unabhängigkeit fliegen.

Hier stehe ich vor bewaffneten Männern, während es so aussieht, als hätte ich ein Rendezvous mit einem Verrückten.

»Das reicht.«

Alle drehen sich zu meinem Vater um, König Nerian Thornton, der in seinem riesigen Gewand im ersten Moment noch über uns fliegt und sich dann mit rasender Geschwindigkeit auf den Boden begibt und die schneeweißen Flügel einzieht. Sein Fall war so schnell und kraftvoll, dass der Boden unter ihm Risse bekommen hat und die Erde noch leicht nachbebt.

Enttäuscht sieht er mich an. »Was soll dieser Unfug, Darielle?«

Ich kann das Grinsen des Kerls hinter mir quasi spüren, weil er sich jetzt ganz sicher ist, dass ich scheinbar diejenige bin, nach der sein ›Auftraggeber‹ sucht. Ich reiße mich von ihm los und bin kurz davor loszufliegen und alles daran zu setzen, ob der König mich einholt oder nicht, aber das wäre dann endgültig lächerlich.

Einer der Wächter berichtet meinem Vater, was passiert ist, aber der Blick des Königs bleibt dabei auf mein Gesicht gerichtet. Ich weiß genau, was er denkt. Dass ich mich immer noch wie ein Kind aufführe, obwohl ich doch in wenigen Stunden volljährig und ein ausgewachsener Engel sein soll. Ich verspüre große Lust meine schwarzen Flügel auszufahren, einfach nur, um es Vater unter die Nase zu reiben, aber auch davon halte ich mich ab.

Es ist fast so, als würde ich mich von allem abhalten, was ich wirklich bin und was in meiner wahren Natur liegt.

»Ohne Euch hätten wir die Prinzessin nicht aufspüren können«, sagt Vater plötzlich zu dem verrückten Kerl neben mir, der mich die ganze Zeit über neugierig betrachtet. »Ich danke Euch, Aspen.«

Ich spitze die Ohren. Bekomme ich vielleicht noch irgendeinen Nachnamen? Oder den Ort seines Königshauses? Ich würde mich sogar mit der Farbe seiner Flügel zufriedengeben, obwohl ich mir die bereits denken kann.

»Die Prinzessin wollte nicht fliehen«, sagt Aspen auf einmal, als ich mich bereits auf die Schimpftirade meines Vaters gefasst machen will. »Sie wollte bloß ein bisschen frische Luft schnappen, weil sie nicht schlafen konnte.« Ohne die Miene zu verziehen, hebt er die Hand, in der er den Apfel hält, den ich auf ihn geworfen habe. »Und dann hatte sie plötzlich riesigen Hunger.«

Ich bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck, obwohl seine Erklärung nicht schlimmer hätte sein können.

Trotzdem glaubt Vater ihm teilweise. »Ist das wahr, Darielle?«

»Ich konnte wirklich nicht schlafen«, gebe ich zu, was ja auch nicht ganz gelogen ist. »Du weißt schon, weil ich aufgeregt wegen morgen bin.«

»Wenn das so ist«, der König zeigt auf die Tore, was man als Einladung versteht, um das Schloss zu betreten, »dann kannst du jetzt nach dem ganzen Tumult bestimmt besser schlafen.«

Ich bete immer noch, dass ich nur eine einzige Information über Aspen aufschnappen kann, die das alles erklärt. Immerhin ist sein Verhalten fast sonderbarer als ich selbst. Warum sollte er mir helfen, wenn er sich doch mit Sicherheit zusammenreimen konnte, wohin ich gehen wollte?

Und woher kennt Vater ihn überhaupt? Aspen wurde laut der Wächter nicht im Schloss erwartet, also verheimlicht Vater diese Angelegenheit vor der Königin. Das ist eigentlich nichts Neues, aber trotzdem fühlt es sich anders an als sonst.

»Ich glaube nicht, dass ich schon schlafen kann. Stattdessen werde ich mich zu euch gesellen«, entscheide ich schnell und fordernd, als die Tore zum Schloss bereits geöffnet werden.

Aspen verbirgt deutlich ein Grinsen.

Natürlich schüttelt Vater den Kopf. »Geh schlafen, Darielle. Das ist keine Bitte.«

Sondern ein klarer Befehl, den ich zu hundert Prozent missachten werde.

Ich schenke dem König ein letztes gezwungenes Lächeln und Aspen werfe ich einen misstrauischen Blick zu. Dann gebe ich vor die Treppen hoch zu meinen Gemächern zu laufen, wobei ich deutlich spüre, wie sich zwei Augenpaare in meinen Rücken bohren.

Fast wären mir Tränen in die Augen getreten, weil ich wieder in diesem verdammten Schloss bin. Vor einer Stunde dachte ich noch, ich würde die langen Flure nie wieder betreten und die vielen Gemälde an den Wänden betrachten können. Was mich die Tränen schließlich wieder hinunterschlucken lässt, ist die Tatsache, dass ich noch lange nicht ins Bett gehen werde. Nicht, bevor ich nicht weiß, was es mit diesem Aspen auf sich hat.

Mir ist bewusst, dass ich meine Neugierde fast nur auf ihn projiziere, damit ich mich von meinem Elend hier ablenken kann. Trotzdem halte ich mich von meinem Vorhaben nicht ab. Leise schleiche ich mich in die Nähe meines Schlafzimmers, sehe mich nach irgendwelchen Bediensteten um und husche um die nächste Ecke.

Nicht viele Engel kennen die Geheimgänge dieses Schlosses. Lächelnd greife ich nach dem Gemälde hinter mir und schiebe es ein wenig nach links. Als ein knarzendes Geräusch ertönt, dass wie das Öffnen einer Tür klingt, halte ich jedoch geschockt inne.

»Geht's noch lauter, Jerrick?«

»Was kann ich dafür, dass so ziemlich alles hier uralt ist, Tis?«

Ich presse mich an die Wand hinter mir und mache mich bereit in den Geheimgang hinter dem Gemälde zu schlüpfen, sobald sie mich bemerken. Ich kenne keinen ›Jerrick‹ in diesem Schloss und auch die andere Mädchenstimme habe ich noch nie gehört.

Bedienstete können es nicht sein, da sie niemals mitten in der Nacht aus meinen Gemächern herauskommen und sich dabei so auffällig verhalten würden. Ich will die Gesichter der Eindringlinge sehen, gleichzeitig interessiert mich das Gespräch von Vater und Aspen aber auch.

So viel ist in diesem Schloss nie los. Ich bin fast froh, dass ich noch nicht um mein Leben geflogen bin.

»Wo ist diese verwöhnte Prinzessin hingegangen?«, zischt die Mädchenstimme.

»Vielleicht muss sie ihre Flügelfedern kämmen, Schwesterchen. Was weiß ich, was Leute wie sie mitten in der Nacht zu tun haben.«

»Du bist so verdammt nervig!«

Ich zucke bei ihrem strengen Ton ein wenig zurück. Egal wie nervig all meine Brüder sind, ich fahre sie selten so hasserfüllt an wie diese Tis. Außerdem tun Lenox und Caelan oft genug Dinge, bei denen ich ihnen den Kopf abreißen will, ohne hierbei zu übertreiben. Weston ist der Einzige meiner Brüder, der auch nur ein bisschen an mich glaubt. Manchmal jedenfalls.

Von Jerrick und Tis hört man nicht mehr viel, weil sie glücklicherweise in die andere Richtung gehen. Bevor ich den Geheimgang einschlage, betrete ich kurz mein Schlafzimmer, das genauso aussieht wie vorhin, als ich es für immer verlassen wollte. Es ist riesig, beinhaltet aber nur ein gigantisches Bett und zwei Schränke. Eingerichtet habe ich hier nichts, weil Mutter jede Kleinigkeit in diesem Schloss genau beibehalten will, wie es seit Jahrhunderten aussieht.

Mit gemischten Gefühlen schließe ich meine Tür wieder, gehe um die Ecke und verschwinde hinter dem Gemälde. In diesen versteckten Gängen des Schlosses ist es eiskalt, weshalb ich wieder meine Flügel ausbreite und sie um meinen Körper schlinge, damit ich mich wärmen kann.

Während ich ruhig weiterlaufe und nur die Pfützen unter meinen Stiefeln Geräusche von sich geben, denke ich über die zwei sonderbaren Eindringlinge nach. Dass sie mein Schlafgemach unversehrt gelassen haben, bedeutet also nicht, dass sie nach materiellen Dingen gesucht haben. Warum sollten sie auch? Schließlich besitze ich nichts Wertvolles.

Meine Flügel und meine etwas zynische Art sind die einzigen Dinge, die mich von königlichen Engeln unterscheiden. Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es nicht schon eine Handvoll Engel gab, die bereits meinetwegen hierhergekommen sind. Um mich anzusehen, als wäre ich irgendeine Attraktion. Tis und Jerrick würden in diese Kategorie passen, weshalb ich eher weniger interessiert an ihnen bin.

Was Aspen von mir will, macht mich schon neugieriger. Dass er in der Lage war, die Mauern zu überqueren und heil hier anzukommen, ist außerdem ziemlich beeindruckend und ich wette, er weiß ebenfalls ganz genau, wie man aus Andros wieder herauskommt.

Ich tapse weiterhin durch die Pfützen in den Gängen, bis ich zu mehreren Verzweigungen komme. Es ist eine Art kreisförmiger Raum, in dem man sich befindet und genau sechs Wege einschlagen kann. Um zum König und zu Aspen zu gelangen, muss man den vierten Weg nehmen, weil sie sich mit Sicherheit in Vaters Rückzugszimmer befinden. Mit zu Schlitzen geformten Augen linse ich durch die Gitterstäbe am Ende des Ganges und visiere Aspens arrogante Gesichtszüge.

Dabei frage ich mich, ob der König überhaupt von Aspens ›Auftraggeber‹ weiß, der mich so dringend sucht. Andererseits ... wäre es so dringend gewesen, so hätte Aspen bereits vorhin die Chance gehabt mich mitzunehmen. Die Wächter haben ihm und seinen weißen Feuerbällen nichts ausgemacht.

»Was genau will Zenner von meiner Tochter, Aspen?« Vater lehnt erstaunlich locker an seinem Schreibtisch und macht den Eindruck, als würde er trotz Aspens starker Aura keine Ehrfurcht vor ihm haben. Damit kann Aspen doch gar kein König sein, oder?

»Zenner will vieles, von dem er oft nicht einmal weiß, wer oder was es eigentlich ist«, entgegnet Aspen mit einem leichten Kopfschütteln. »Er und seine Verlobte Vemery haben wahrscheinlich nicht einmal eine Ahnung, dass Darielle ... anders ist. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

Vater reibt sich unzufrieden das glatte Kinn. »Ihr habt ihre Flügel gesehen?«

»Ich durfte einen kurzen Blick auf sie werfen.«

»Dann werdet Ihr sie mitnehmen und zu Zenner bringen?«

Aspen wirkt auf den Kopf gestoßen, fängt sich aber wieder. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Zenner ist vieles, König Nerian, ein Heiler, ein Wahrsager und ein Sturkopf, aber Prinzessin Darielle ist nicht krank. Ich habe viele Engelarten gesehen, die Heilung gebraucht haben, aber sie ist keine davon. Eigentlich wirkt sie sogar extrem stabil.«

Ich verziehe das Gesicht. Stabil? Für wen hält er sich, dass er denkt, er wüsste irgendetwas über mich?

Dass der König mich loshaben will, erschreckt mich nicht einmal halb so sehr wie Aspen. Vater hat im Laufe meiner Kindheit schon öfter versucht mich an jemanden wegzugeben, aber irgendwie war ihm kein Deal gut genug. Mich bringt diese Tatsache nicht einmal zum Weinen, sondern eher zum Schnauben.

Also schnaube ich laut und verächtlich und Aspens Mundwinkel heben sich kaum merklich. Natürlich hat dieser Idiot mich gehört, aber er macht keine Anstalten zu der Lücke in der Wand zu sehen, hinter der ich mich verstecke. Ich klammere mich an die Gitterstäbe fest und hoffe, diesem Gespräch noch mehr entnehmen zu können, obwohl Aspen mich entdeckt hat.

»Wie auch immer«, blafft der König, der wohl immer noch denkt, sie seien allein und ohne Zuhörerin. Tatsächlich frage ich mich immer noch, was Aspen ist, dass er stärker als mein Vater sein kann und trotzdem als ein normaler Engel behandelt wird.

Kein normaler Engel sieht oder hört so gut und wirft mit Feuerbällen.

»Wenn Zenner meine Tochter nicht will, stört mich das nicht«, redet König Nerian weiter. »Ich habe für Darielle sowieso längst eine Verlobung eingeleitet.«

Am liebsten wäre ich durch die Wand gesprungen und hätte mich auf Vater geworfen.

Ich bin verlobt?

Aspen schluckt kaum merklich. »Seit wann das?«

»Seit zwei Monaten«, antwortet der König.

Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, weil das das Schlimmste ist, was mir jemals hätte passieren könnte. Ich bin seit zwei Monaten verlobt und wusste nichts davon?

»Sie wird ihn morgen kennenlernen«, fügt Vater mit einem zufriedenen Lächeln hinzu, das nicht seine Augen erreicht. »Ihr solltet unbedingt bleiben, um dabei zu sein. Darielle kann sehr ... aufbrausend werden, wenn ihr etwas nicht gefällt. Aber Lord Barlow ist einer der wenigen, der sie mit achtzehn überhaupt nehmen wird. Er ist sozusagen ihre einzige Hoffnung.«

Ich brauche keinen Mann, den ich nicht kenne und der mir Hoffnung schenken soll. Ich sollte gerade über alle Berge verschwunden sein, wenn Aspen nicht aufgetaucht wäre. Dann hätte sich der König seine Verlobung in seinen Allerwertesten schieben können und ich wäre ahnungslos über die Mauern gekommen, die Andros eingrenzen. Dabei machen sie es fast unmöglich zu entkommen.

Mir wird schlecht, als ich die Hände von den Gitterstäben nehme und mich langsam von Vater und Aspen entferne. Ich hatte gedacht, mein ganzes Leben in diesem Schloss wäre grauenvoll gewesen. Aber der König will es tatsächlich noch auf die Spitze treiben, obwohl er genau weiß, dass ich mit einer Verlobung nicht einverstanden sein werde.

Tränen schießen mir in die Augen, als ich mir meine Hand auf den Mund presse. Ich halte mich vom Schluchzen ab, damit Aspen es nicht hört und ich vor ihm keine Schwäche zeige.

»Wie ich bereits gesagt habe, solltet Ihr unbedingt eine Weile bleiben, Aspen«, wirft Vater irgendwann ein. »Ich lasse Euch sofort ein Zimmer herrichten.«

Der König lässt nie einfach so ›sofort ein Zimmer herrichten‹. Ich gebe es nur ungern zu, aber wenn er jemanden zum Bleiben bewegt, dann ist derjenige am Ende der Woche nicht mehr am Leben. Entweder Aspen weiß das und er ist tatsächlich lebensmüde innerhalb der Mauern zu bleiben oder er hat keine Ahnung und lächelt deswegen kurz in meine Richtung.

Egal was es auch ist, bei seinen nächsten Worten überkommt mich eine Gänsehaut, die nichts mit der Kälte oder der vorherigen Totenstille zu tun hat.

»Tatsächlich würde ich liebend gern ein paar Tage hierbleiben und der Prinzessin Gesellschaft leisten, König Nerian.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top