Kapitel 9

Ethan

Eins muss ich ihr lassen, sie ist zäher, als sie auf den ersten Blick aussieht.

Mein Blick weicht zu dem Mittelfinger, der stark vor mir aufgerichtet ist. Er wirkt selbstbewusst, trotz des schmalen Fingers, und konnte genau das auszusagen, was er meinte: ›Verschwinde Arschloch‹.

Das wird eine nette Herausforderung sein, die ich sicherlich nicht auf mir beruhen lassen werde. Sie ist ganz schön dreist, aber durchaus amüsant.

Bedachtsam näherten sich Schritte, und ich schielte zur Seite, um die Clubleiterin des Debattierclubs neben Liana und mir stehen zu sehen. Sie wollte einschreiten, stand aber gleichzeitig einige Schritte von uns entfernt. Es schien, als wüsste sie nicht, ob sie eingreifen sollte.

Nein, solltest du nicht, ich habe doch gerade so viel Spaß.

Ayli starrte auf den Mittelfinger, den Liana mir zeigte. Sie tat, was die Aufgabe war, lehnte sich aber gleichzeitig auch auf, da sie sicherlich nicht freundlich genug für den Debattierclub reagierte.

Da gibt es wohl etwas, woran wir arbeiten müssen, kleine Sirene.

»Ich würde es bevorzugen, wenn du eine andere Form des Abschieds wählen könntest. Mir ist bewusst, dass dir...«, begann Ayli und schaute zögernd zu mir, »die Übung nicht gefällt. Das kann passieren, man erhält nicht immer, was man sich wünscht.« Sie richtet sich an Liana, weil ihr mehr als bewusst ist, dass sie mir das nicht direkt sagen kann. »Mir persönlich gefällt es auch nicht, wenn Situationen eskalieren, aber nun bin ich hier und fühle den Debattierclub, wo nichts zwingend im Reinen sein muss.«

Ayli wendet sich von Liana ab, und bevor sie sich von uns entfernt, tritt sie an mich heran und flüstert mir zu, dass ich ihr etwas schulde. Ich knirsche mit den Zähnen und zeige ihr, dass wir dieses Anliegen später besprechen müssten.

Ich hasse es, in der Schuld eines anderen zu stehen.

Ohne es sich anmerken zu lassen, geht sie ihren Weg, zumal sie bemerkt hat, dass sie mir meine Laune verderben möchte, indem sie mich daran erinnert, dass ich nur so lange im Debattierclub bin, bis ich mit meinem Anliegen fertig bin.

Im Grunde bedeutete das, dass Liana nicht Unrecht mit ihrer Vermutung hatte. Mir war bewusst, dass jeder an der Cardell Academy eine außerschulische Aktivität wählen müsste und dass Liana nicht davon verschont werden würde.

Der Beobachtung nach wirkte sie sehr zielstrebig, da sie selbst in der Pause, während sie ihr Mittag aß, ein Buch las. Sie wirkte zielstrebig und richtete sich strikt nach dem Stundenplan. Folgend würde sie sich rechtzeitig um einen Club kümmern. Ergo... informierte ich alle Clubleiter, dass sie keine neuen Mitglieder aufnehmen sollten, zumindest bis auf den Debattierclub, der offenbleiben sollte, da man dort so schön diskutieren konnte.

So war zumindest mein erster Gedanke, nur stellte Ayli sich mit ihrer Aufgabe quer zu meinem Plan, mehr aus Liana herauszukitzeln ...und sie zu quälen.

Meine fehlende Reaktion machte Liana misstrauisch, also ließ ich sie ganz nachsichtig länger zappeln, bis ich ihr meinen Mittelfinger entgegenstreckte. Ohne dass ich es wollte, zuckte mein Mundwinkel, sodass ich mich beherrschen musste, um mich nicht lächerlich zu machen.

Doch die Bemühung war zwecklos, denn Lianas Schnauben verriet mir, dass sie meine Belustigung anmerken konnte und dass ihr das nicht gefiel.

»Hey Arschloch, wenn du deinen Finger nicht runternehmst, tue ich das auch nicht«, brummte Liana mit stürmischen grauen Augen. Sie tobte innerlich, ließ sich dies aber nicht äußerlich anmerken. Darin war sie besser als ich. Sie konnte auf eine abstoßende Weise stumpf aussehen und das für einen ganzen Tag.

Ich ging ihrer Aufforderung nicht nach, wieso auch. Es hatte etwas an sich, ihre zierlichen Finger dabei zu beobachten, wie sie jedes Mal mit ihren Augen zuckten, wenn ich einen Nerv traf. Natürlich unterstützt von den lieben Worten, die sie mit einem teilte.

»Wieso sollte ich das tun? Mein Finger ist doch entzückend anzusehen«, rechtfertigte ich mich und fügte kokett hinzu: »Der passt doch perfekt zu deinem.«

Liana verzog angewidert den Mund. In ihren dich verdunkelnden grauen Augen spürte man den aufkeimenden Sturm. Selbst wenn sie sich stur stellte, provozierte ich sie, und das gefiel mir.

Diese kleinen Finger... wie fühlen die sich wohl auf der Haut an?

»Sowohl du als auch ich weiß, dass ich den Finger nicht runternehmen werde. Falls es deinem Dickschädel nicht aufgefallen ist, befindet sich niemand sonst im Raum. Tu dir selbst also einen Gefallen und gib nach«, zischte mein Gegenüber wie eine kleine Natter, die lernte, sich selbst zu verteidigen.

Bissig. Ganz herzallerliebst.

»Warum nimmst du nicht einfach deinen winzigen Finger runter? Für dich wäre es einfacher«, bleckte ich zurück und grinste ihr entgegen. »Wollen wir mal ernst sein? So wie es aussieht, wird keiner von uns nachgeben, also können wir es auch gleich interessanter machen. Wenn du zuerst nachgibst, musst du mir deinen Namen nennen.«

Liana runzelte nachdenklich die Stirn.

»Das macht keinen Sinn, da du es bereits wissen solltest. Wir haben Mathe zusammen und wenn du nicht so abgelenkt bist, solltest du bereits wissen, wie ich heiße«, konterte sie ohne jegliche Emotion in der Stimme.

Berechnend und aufmerksam.

»Dann bin ich dir da schon aufgefallen, man könnte meinen, du hattest nur Augen für mich. Vorsicht, sonst könnte ich deine Worte falsch verstehen.«

Lianas linkes Auge zuckte, was bewies, dass ich sie reizte. Ihre Handmuskeln spannten sich an, sodass mir langsam die Frage aufkam, wie lange ich sie noch anstacheln musste, bis ihr Geduldsfaden riss.

Ich lehnte mich vor und faltete meine Hände lässig über meinen Knien zusammen. Liana hingegen versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl mir das leichte Beben ihres zarten Körpers auffiel.

»Du hast als Person nichts, was bemerkenswert ist. Jemand, der im Unterricht einfach durch die Gegend schaut, ist hirnrissig, und derartige inkompetente Personen sortiere ich aus. Du gehörst zu denen«, warf Liana barsch zurück.

Furchtlos.

Meine Mundwinkel zuckten, wieder einmal.

Ich weiß nicht, ob ich sie bestrafen soll oder mehr von ihr erfahren möchte. Nur was davon ist schlimmer?

»Du hast keine Ahnung, wen du vor dir hast und wie die Cardell Academy funktioniert. Das wird dir noch zum Verhängnis werden, kleine Sirene«, gluckste ich zu meiner Überraschung erheitert. Ich musste mich räuspern, um meine Stimme wiederzufinden.

Liana kneift ihre stürmischen Augen zusammen, sodass sie ganz schmal werden. Ihr Körper lehnt sich vor, und einige ihrer Haare fallen wie ein durchlöcherter Vorhang nach dem Schusstraining vor ihr Gesicht. Meine Finger zucken, und mein Kopf sagt mir, dass ich die Strähnen aus ihrem Gesicht streichen soll. Nur tue ich das nicht.

Ein Durchzug entwischt durch die halbgeöffnete Klassentür und weht mir den Duft der mir gegenüber sitzenden Person zu. Liana riecht rein, wie Seife. Lavendel... nein... Jasmin. Es hat schon etwas Klinisches an sich. Allein die Auswahl ihres Duftes ließ mich spötteln. Wie kann jemand so monoton sein?

Liana schnalzt mit der Zunge, und etwas flammt in ihr auf, als sie sich vorschiebt und mir tief in die Augen schaut. Mir ist, als blicke ich direkt in einen Gewittersturm.

»Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit dem Schauspiel an dieser Schule zu befassen. In diesem Sinne ist es egal, ob es die anderen sind oder du. Es. Ist. Mir. Egal.«, betonte sie jede Silbe zischend und voller Abneigung. Ich konnte nicht anders, als auf ihre Lippen zu starren, die mir frech zugerichtet waren.

Aus einem mir nicht erklärbaren Grund war ich gebannt von ihr.

»Ich werde das nur ein einziges Mal sagen, also solltest du gefälligst zuhören, wenn es dir aus einem ach so kranken Grund wichtig ist«, bestimmte Liana mit einem Selbstvertrauen, das selbst mich erstarren ließ. Reizvoll.

»Ich, Liana Hellon, bin und werde nie dein Eigentum sein. Genauso werde ich nicht länger meine Zeit mit jemandem verschwenden, der es nicht wert ist, nicht dass es überhaupt jemanden gäbe«, spuckte sie mich regelrecht an und senkte ihren Mittelfinger.

Wir starren uns für einen Augenblick an, und für einen winzigen Moment, nachdem mein Herz in der Brust ausgesetzt hatte, gab er mir einen festen Stoß, der mich aus dem Konzept riss, während Liana von ihrem Hocker hopste und mich mit der Ungewissheit in mir zurückließ.

Liana...meine Hölle.


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