Kapitel 6

Liana

In meinen Vorstellungen erschien der Unterricht schwerer, als er tatsächlich war. Eventuell hatte meine Eigeninitiative dabei geholfen, mein fehlendes Wissen auszubessern.

Doch nicht alles, was ich in der Lehrstunde durchleben musste, konnte man aus Büchern lernen. Eines der Dinge, das mir ungewohnt erschien, war der Umgang mit meinen Mitschülern.

Ich konnte es nicht nachvollziehen, warum meine Mitschülerinnen und Mitschüler gafften. Ich konnte regelrecht ihre Blicke in meinen Nacken spüren. Dieses Gefühl bereitete mir bereits seit der ersten Unterrichtsstunde Unbehagen.

Aus irgendeinem Grund hatte ich einen kalten Schauer, als ein Schüler im Matheunterricht mich mit seinem eisigen Blick durchbohrte. Es war, als hätte ich ihn bespuckt und er würde mich auf absurde Weise bestrafen.

Ich hatte niemandem meine Aufmerksamkeit geschenkt und hatte dies nicht vor. Deswegen konnte ich seine Reaktion nicht nachvollziehen.

Bevor ich zum Mittagessen ging, tauschte ich meine Unterlagen für die zweite Hälfte des Schultages. Dabei konnte man durch die Flure des Internats jegliches Gespräch der Schülerinnen und Schüler aufschnappen. Mir schienen die meisten Dinge mit Banalitäten in Verbindung zu stehen, weswegen ich mich entschied, die Unterhaltungen auszublenden.

Unglücklicherweise war die Lautstärke der Wortaustäusche im Speisesaal zu meinem Leid unüberhörbar. Die Lautstärke bereitete mir Kopfschmerzen, und ich bemerkte das wachsende Unwohlsein in meinem Ohr.

So ungern ich den großen Raum betrat, musste ich mein Gehirn mit genügend Nährstoffen füttern, um konzentriert weiterarbeiten zu können. Ich entschied mich für ein Pilzrisotto und einen Apfel. Es war eine schnelle Entscheidung, um mir rasch einen Sitzplatz zu suchen.

Im Unterschied zum Morgen war kein Platz frei, jedoch erwiesen sich die wenigen stillen Schüler in den hinteren Ecken als plausibelste Sitzpartner. Ich konnte somit beim Essen mein Buch zur Geschäftsführung weiterlesen. Es war eine Leseempfehlung, die ich nur gerne entgegennahm; was blieb mir denn anderes übrig, wenn ich sonst keine Unterstützung dazu bekam?

Ein Tippen auf meine Schulter ließ mich den Satz, den ich zu lesen begonnen hatte, abbrechen. Die Störung kam mir nicht gelegen, jedoch schaute ich reflexartig auf, um zu erkennen, wer mich belästigte. Es war Daniel Johnson, der mich mit einem freundlichen Lächeln in den Augen ansah.

»Ich hoffe, du konntest dich bisher einfinden, Liana. Es ist schön zu sehen, dass du in Gesellschaft zu Mittag isst«, grüßte der blonde Junge höflich.

Ich konnte nichts mit seiner netten Art anfangen, da ich nicht abschätzen konnte, ob dies vorgespielt war. Man musste sich in Acht nehmen; Verräter gibt es überall. Eine Lektion, mit der ich nach dem Tod meiner Eltern bekannt geworden bin.

Mein Blick schweifte über Daniels Schuluniform, die steif an ihm lag. Er wirkte so gezwungen und gleichzeitig auch so, als wäre diese Form des Musterschüler-Gehabers ein Teil seiner Selbst.

Ich nickte einfach und wollte mich wieder meinem Buch widmen. Eine Bestätigung reichte für mich aus. Meiner Meinung nach sollte er glauben, dass ich Gesellschaft gefunden hatte, selbst wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Mir war nicht danach, mich erklären zu müssen, oder, Gott bewahre, dass er sich aus einer Form von Mitleid zu mir setzte, um meine Pause mit unfruchtbaren Gesprächen zu füllen.

Ganz plötzlich fröstelte es mich und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufstellten. Ein Schnauben erklang irgendwo hinter mir. Anfangs wollte ich mich nicht davon ablenken lassen, doch ich wurde in das Geschehen eingebunden, ob ich wollte oder nicht.

Eine dunkle und rauchige Stimme erfasste das Wort: »Es scheint, als wären deine Nettigkeiten hier ungewünscht, Johnson.«

Die Worte galten nicht mir, und dennoch fühlte ich mich teilweise angesprochen.

Mich durchzuckte es, als ich hinter mir jemanden spüren konnte. Erst erkannte ich nicht, wer es war, bis ich einige Merkmale des Gesichts erkannte.

Das erste, was in mein Sichtfeld fiel, war ein markantes Kinn und ein teuflisches Grinsen auf den Lippen, das nichts Gutes verhieß.

Mein Blick schweifte zu Daniel, der hörbar knirschte und meine Aufmerksamkeit zurückgewann, noch bevor ich seinen Gesprächspartner richtig betrachten konnte.

»Die Neue hat zu deinem Bedauern kein Interesse an einem Gespräch mit dir, also solltest du andere verzweifelte Seelen mit deiner Langeweile begnügen. Außerdem hältst du den ganzen Verkehr mit deiner Anwesenheit auf«, knurrte die Person hinter mir fast so, als wollte er meine Aufmerksamkeit auf sich richten.

Ich wollte keinem der beiden Beachtung schenken, doch es gefiel mir nicht, wie Entscheidungen für mich getroffen wurden, selbst wenn der Unbekannte nicht ganz unrecht hatte. Dennoch wollte ich ihnen nicht meine volle Aufmerksamkeit für ihren kindischen Schwachsinn schenken und widmete erstmals meinen Blick wieder meinem Buch.

»Meiner Meinung nach, und das sollte ich als Neue klarstellen, gibt es genug Möglichkeiten, einander zu meiden, um derartige Belanglosigkeiten nicht vor anderen auszutauschen. Macht anderen das Leben nicht schwer und trägt eure... Beziehungskonflikte in Abwesenheit aller aus«, gab ich von mir und schlug das Kapitel wieder auf, wo ich vor der Unterbrechung stehengeblieben war.

Hinter mir wurde es still. Ich nahm an, dass die Jungen sich entschieden hatten, weiterzuziehen, nur hatte ich mich was das anging geirrt.

Rechts von mir wurde schroff ein Essenstablett fallen gelassen. Mein Buch wurde mit einem Zeigefinger heruntergedrückt, worauf mein Blick direkt auf einen Ring an dem besagten Finger fiel. Ein schwarzer Stein wurde von Silber und harten Verzierungen gehalten.

Ich sah nach rechts auf und starrte direkt in eisblaue Augen. Dasselbe Blau, das mich seit der ersten Schulstunde nicht in Ruhe ließ.

Die kalten Augen waren direkt auf mich gerichtet und glimmerten, als würden darin viele Fragen stecken. Die dunklen Augenbrauen waren interessiert zusammengefurcht.

Der Junge, der sein Gesicht dicht vor mir hatte, besaß eine erschreckende Schönheit, die einem das Blut gefrieren ließ. Seine Wangenknochen waren hoch, schnitten sich jedoch nicht durch. Er hatte einen pfirsichfarbenen Teint. Sein Haar war schwarz und hatte fast einen blauen Unterton.

Doch das, was ihn am einschüchternsten wirken ließ, waren seine stechenden Augen. Sie gaben nicht nach. »Und warum mischst du dich in die Angelegenheiten anderer ein? Warum liest du nicht einfach in deinem Buch weiter?«, fragte der mir Unbekannte.

Taysten...der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, die Situation, in der ich mich befand, abzuschätzen. Mir war nicht danach, mich herumschubsen zu lassen. Dies würde damit hinzielen, dass ich Gebrauch von meinen ersten Lektionen machte. Mehr Rückgrat zeigen.

Ich senkte mein Buch, sodass ich hörte, wie der Einband auf den Tisch fiel.

»Ich habe genug Recht, weil euer Gezicke, wie man offensichtlich sehen kann, mich stört. Nimm deinen Liebhaber und klärt euren Streit woanders«, warf ich bissig zurück.

Gut, vielleicht war meine Ausdrucksweise nicht frei von Fantasie und einen Hauch diskriminierend. Ich musste zugeben, dass ich mich von meinen Emotionen hatte leiten lassen, was eine Fehlentscheidung war. Das linke Auge des Schülers gegenüber von mir zuckte, als hätte ich einen Nerv getroffen. In seinen eisblauen Augen loderte etwas, was keinen Sinn ergab.

»Da ist aber jemand ganz schön vorlaut, nicht wahr? Du solltest besser aufpassen, wie du mit jemandem redest. Du bist hier nicht auf einer normalen Schule, wie du es vielleicht gewohnt bist«, raunte der dunkelhaarige mir zu.

Seine Worte hatten etwas Beleidigendes an sich. Zumindest wollte ich mich nicht von ihm einschüchtern lassen, deswegen entschied ich mich, mich nicht von seinem stechenden Blick abzuwenden. Der Fremde betrachtete mich nahezu mit forschendem Blick.

»Das muss ausgerechnet der sagen, der erstens andere Menschen belästigt und zweitens sich von jungen Frauen bedroht fühlt«, fauchte ich zurück, weil mich die Störung in meiner Pause langsam auf den Senkel ging.

Ein verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Durch seine schiefen Schneidezähne hatte er etwas von einem Raubtier, das auf der Jagd war.

Der Schüler mit den eisblauen Augen erhob sich aus seiner gebeugten Körperhaltung. In seinem Ausdruck erschien etwas Abweisendes. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass genau dieser Punkt nicht zutraf. Es war eher, als würde er Desinteresse vortäuschen.

Seine kühle und plötzliche Gleichgültigkeit verärgerte mich. Ich wollte mein Mittagessen in Ruhe zu mir nehmen, stattdessen wurde ich belästigt. Noch bevor ich mich jedoch versah, wurde es schlimmer.

Ein Krachen ertönte, und ich spürte innerhalb von Sekunden, wie sich etwas lauwarmes über meine Schulter ergoss und meinen Nacken hinunterglitt.

Ich schielte zu meiner Schulter und bemerkte das gemischte Gemüse auf mir. Es roch buttrig und gewürzt.

Das kann doch nicht wahr sein!

Mein Kopf riss hoch, und ich glotzte gereizt auf den Übeltäter mit dem schwarzen Haarschopf.

Das hat er mit Absicht getan... dieses Arschloch!

Wahrscheinlich war es keine Glanzidee, aber zu meiner Verteidigung: Meine Emotionen gingen mit mir. Ich stopfte mein Buch in meine Tasche, stand auf und tat das, was nötig war. Ich rempelte den Eisprinzen an und goss den Rest meines Risottos auf seine glänzenden Lederschuhe.


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