Kapitel 4

Liana

Mein Zimmer war kleiner, als ich es von einem Privatinternat angenommen hatte. Erschütternd, wenn man bedachte, dass das Internat von einem Haufen versnobter Kinder mit zu viel Geld besucht wurde. Doch wenigstens hatte ich das Glück, ein eigenes Badezimmer zu besitzen. Genauso vorteilhaft war mein Schreibtisch, den ich bereits zur Erstellung meines Lernplans eingerichtet hatte. Alle notwendigen Materialien lagen bereit zur Verwendung.

Eher ungünstig war die Feststellung, dass ich meine Nachbarin im Zimmer nebenan hören konnte. Sie schien unglücklicherweise nicht die leiseste zu sein, wenn sie sich aufregte. Für den ersten Tag ignorierte ich diese Störung und hoffte, dass meine Nachbarin nicht weiter ausfallend sein würde.

Ich zog meinen Zopf fester und strich einige verirrte Strähnen hinter mein Ohr. Egal, wie ich mich bemühte, sie zu bändigen, schafften sie es, sich aus meiner Ordnung zu kämpfen.

Ich zupfte an dem Saum meiner Schuluniform. Das Kleid war zum meinem Körper passend angeschneidert worden. Der obere Teil war wie eine einfache Bandage und schloss sich seitlich unter meiner Brust. Der Rock des Kleides fiel mir bis zu den Knien. Ich hatte mich beim Schneider gegen eine Kürzung entschieden, obwohl die Schülerinnen vorwiegend kürzere Modelle trugen. Das Hemd, das ich darunter trug, hatte eine kleine Riffelung an den Schultern und gehörte zum Kleid. Ein praktisches Set.

Meine Absicht war es nicht, meine Zeit länger als nötig bei einem Schneider zu verschwenden. Es war schon genug Aufwand, eine Auswahl an Schuluniformen für mich zu treffen. Die Cardell Academy bot tatsächlich verschiedene Ausstattungen an, um nicht täglich dasselbe zu tragen, aber dennoch einheitlich zu erscheinen.

Grundsätzlich war das trotz der anfänglichen Mühe immer noch eine effiziente Möglichkeit, das Herrichten zu verkürzen. Ich erkannte darin durchaus eine Logik und eine praktikable Umsetzung, da ich mir dadurch nur weniger Gedanken darüber machen müsste, was ich am Morgen anziehen würde.

Ich stecke die Stecknadel mit dem Wappen der Cardell Academy an meine schwarze Krawatte. Mit meinem Daumen fuhr ich vorsichtig darüber. Das gewundene Silber fühlte sich kühl unter meinem Finger an. Meine Fingerkuppen hielten an den Rillen des Metalls an, wartend, als ob es mir sagen könnte, dass ich nicht mehr allzu lang warten musste, bis ich alles hatte, wofür ich gearbeitet hatte.

Jetzt bin ich offiziell Teil dieser Welt. Wie sonderbar, dass ich mich nicht anders fühle.

Wahrscheinlich war es ein dummer Gedanke, aber ich konnte die innere Frage nicht vollkommen aus meinem Kopf stechen.

Es war noch früh am Morgen und es herrschte hörbare Stille. Die Schülerinnen der Cardell Academy schienen es nicht zu bevorzugen, früh wach zu sein. Ich wich dieser Entscheidung nur allzu gerne ab, denn der frühe Vogel fängt den Wurm.

Ich folgte dieser Richtlinie, und tatsächlich erwies sich dies als profitable Denkweise. In der Zeit, in der weniger Menschen anwesend waren, hatte ich genug Zeit, um mich auf den Tag vorzubereiten. Es hatte etwas Meditatives an sich.

Einfach auszuschlafen war für mich eine Form von Faulheit. Ich wollte mir selbst keine Disziplinlosigkeit aneignen.

Um etwas zu erreichen, muss man Opfer bringen.

Ich nahm tief Luft und wandte den Blick von meinem Spiegelbild ab. Es war Zeit, sich wieder dem zuzuwenden, meinem Zeitplan und damit dem, was dafür sorgte, dass ich für die nächsten Stunden funktionierte: das Frühstück, die wichtigste Mahlzeit des Tages.

Den Weg zum Speisesaal zu finden, war nicht allzu schwer. Die Karte für das Innengebäude, die ich in meinen Händen hielt, erleichterte mir, den Speisesaal zu finden. Im Erdgeschoss dauerte es nicht lang, bis ich einen süßlichen Geruch von warmem Brot vernahm.

Es war etwas Interessantes am Geruchssinn, besonders, wenn die Nerven des Gehirns sich Erinnerungen zusammenspannen. Vor meinen Augen erschienen meine Eltern. Das Bild war hell. Ich saß hinten im Auto, mein Vater fuhr, während sich meine Mutter lächelnd zu mir drehte und mir ein Croissant reichte. Mein Vater riskierte einen verstohlenen Blick, bevor er sich wieder der Straße zuwandte.

Die Erinnerung verfloss vor meinen Augen und ich bemerkte, wie ich benommen meine Augen aufschlug. Vor mir lag das buttrige Gebäck. Der warme Geruch füllte meine Nase und beflügelte wieder die Bilder meiner Kindheit. Das Lächeln meiner Eltern verblasste.

Ich hasse Croissants.

Ich riss meinen Blick von dem Gebäck und schritt weiter entlang der Speisemöglichkeiten, die mir zur Verfügung standen. Langsam begutachtete ich die reichhaltigen Frühstücksangebote. Die Auswahl an Eiergerichten war so überwältigend, dass ich schnurstracks an ihnen vorbeilief.

Für den Morgen konnte ich mich nicht damit befassen, wie lange meine Eier gekocht sein sollten. Deswegen entschied ich mich, Grießbrei mit Pfirsichkompott zu essen.

An sich hörte sich das Essen nicht spektakulär an, doch die künstlerische Anrichtung und das lange Kärtchen mit der Beschreibung des Gerichts verrieten mir, dass keine Speise, die ich hier finden würde, einfach war. Meine Augen wanderten zur Uhr, die über dem einzigen Schülereingang hing. Ich war noch innerhalb meiner vorgegebenen Zeit.

Zufrieden mit meiner Frühstückswahl machte ich mich auf die Suche nach einem Sitzplatz.

Der Speisesaal war mit Abstand einer der größten Räume des Gebäudes und bot genügend Sitzmöglichkeiten. Es gab mehrere Tische, die in Abständen aneinandergereiht waren. Ich entschied mich für einen Tisch in der hintersten Reihe, der im mittleren Bereich angesiedelt war. So hätte ich einen schnellen Weg zur Tablettrückgabe und zum Ausgang, der gleichzeitig als Eingang diente.

Sobald ich mich gesetzt hatte, zog ich aus meiner Tasche meinen Planer hervor.

Ich wollte während des Essens meine Agenda anschauen, um mir vor Augen zu führen, was ich noch erledigen musste. Ganz fett unterstrichen war, dass ich mich noch für eine außerschulische Aktivität entscheiden musste.

Ich hatte mir bereits einige Aktivitäten in ausgewählten Broschüren angeschaut, nur konnte ich mich noch nicht dazu entscheiden, welche davon mir mehr Vorteile auf dem Zeugnis brachte.

Eine schulische Aktivität war nicht unbedingt etwas, das für mich Spaß bedeutete. Eher war es etwas, das nachwies, ob jemand seine Zeit sinnvoll nutzte oder mehr Freizeit dadurch genoss. Der Erfolg einer Person hängt von der Zielstrebigkeit ab, und ich wollte dies bei mir hervorheben.

Mir schwebte vor, den Technikclub, die Wissenschafts-AG oder den Debattierclub zu besuchen. Letzterer war eher weniger in meinem Sinn, jedoch brauchte ich Ausweichmöglichkeiten, und debattieren war eine gesellschaftlich angesehene Option. Wer sich artikulieren konnte, wusste sich im Leben zu behaupten. So meine Theorie.

Ich nahm einen Löffel von meinem Frühstück. Die Süße verbreitete sich auf meiner Zunge. Etwas Rauchiges lag tief im Geschmack des Pfirsichs. Ein Hauch von Vanille und etwas, das ein Knuspern in meinem Mund verursachte, gaben dem Brei nicht nur eine weiche Konsistenz. Die Nahrung war ausgewogen und sättigend.

Ungestört aß ich weiter und grübelte, welchen Club ich zuerst besuchen könnte. Ich wollte wenigstens einmal schnuppern, bevor ich mich endgültig entschied. Eine Entscheidung konnte nämlich alles für einen bedeuten. Manchmal sogar das Leben.

Ich wischte den schwachen, sich formenden Gedanken beiseite, um mich nicht von meinem eigentlichen Vorhaben ablenken zu lassen. Dann aß ich zügig weiter und räumte meinen Planer wieder in meine Tasche. Anschließend stand ich auf, nahm mein Essenstablett und drehte mich um, als ich mit jemandem zusammenstieß.

Ich wollte mich gerade aus reiner Höflichkeit entschuldigen, als ich zu den Jungen vor mir aufsah.

Was für Wachstumsmittel erhalten die Schüler hier?

Vor mir stand ein Schüler, der ungefähr so groß war wie Daniel, wenn nicht sogar größer. Der Junge vor mir hatte eine rosige Haut und Sommersprossen, die sich über seine Nase und die oberen Wangenhälften sprenkelten. Sein braunes Haar hatte einen Rotschimmer im Licht. Seine Augen waren grau-blau und schienen zu blitzen, als hätte er etwas geweckt, das sein Interesse erregte. Ich war es nicht, denn er ignorierte mich.

Der Fremde würdigte mich keines Blickes, sein Mund schien voll und er kaute nachdenklich, als hätte er sich auf dem Weg zum eigentlichen Frühstück etwas in den Mund gestopft. Er ging einfach an mir vorbei und ich konnte nicht anders, als ihm nachzusehen. Er hüpfte regelrecht vorfreudig zur Speiseausgabe. Ein Mädchen düste zu ihm und stieß ihm in die Seite, als sie bemerkte, dass er zu viel auf seinen Teller schaufelte.

Was für eine sonderbare Begegnung...

Mich von dem merkwürdigen Zusammentreffen abwendend und froh darüber, dass ich mir kein flüchtiges Geplänkel und Namensaustausch antun musste, setzte ich meinen ursprünglichen Weg fort. Es war nur ein kurzer Marsch zur Tablettausgabe. Ich musste mein Geschirr nur auf einem Wagen abstellen und dabei mit niemandem sprechen. Das war praktisch, da ich mich nur auf das Wesentliche konzentrieren konnte.

Aus dem Speisesaal tretend, folgte ich dem Flur in Richtung der Unterrichtsräume. Die Beschilderung innerhalb des Gebäudes erleichterte die Suche. Der Gebäudeplan, den ich hatte, war aber auch eine angenehme Stütze.

Im Bereich des Treppengeländes konnte ich einen wachsenden Tumult hören. Scheinbar werden die ersten Schülerinnen und Schüler der Cardell Academy ihren Tag antreten.

Ich nahm das als ein positives Zeichen hin und unterstrich mental in meiner Liste, dass ich täglich früh den Speisesaal aufsuchen konnte, um Begegnungen zu vermeiden. Das flüchtige Treffen mit dem sommersprossigen Jungen zählte ich nicht dazu.

Mich nicht von den Geräuschen hinter mir ablenkend, setzte ich meine Route fort und bemühte mich, die Räume vor mir zu merken. Ich wollte mich mit meiner Umgebung vertraut machen. Das würde mir das Aufsuchen von Räumlichkeiten nur erleichtern.

Die Beschilderungen neben den Türen verschwammen seitlich in meinen Augenwinkeln.

Irgendwann hielt ich vor dem Raum 16-C-1 und prüfte in meinem Stundenplan, ob dies der Raum für meine erste Schulstunde war. Tatsächlich war dem so, und ich trat ein.

Der Raum war komplett ausgestattet und schien, als hätte man ihn nie benutzt. Das Internat legte viel Wert darauf, dass die Räume ordentlich genutzt wurden. Es gab keine Kritzeleien auf den Tischen und keine eingekerbten Rillen an den Stühlen. Selbst die Tafel war sauber gewischt.

Ich steuerte auf den Tisch zu, der in der zweiten Reihe von der Fensterseite aus war. Natürlich lag der ausgewählte Tisch auch in der vordersten Reihe. Wahrscheinlich verriet mich das in meinen Absichten, doch mir konnte das nicht gleichgültiger sein.

Meine Aufmerksamkeit galt nur einer einzigen Sache: mir selbst.


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