Kapitel 11
Liana
Ich hätte mir denken müssen, dass auf niemanden außer mir selbst Verlass war. Auch der angebliche blonde Musterschüler Daniel, mit seinem aufgesetzten freundlichen Lächeln, war nichts als ein Trugbild, um zu täuschen.
Denn ob man es wahrhaben mag oder nicht, Daniel hatte mich mit dem kalten Schatten hinter mir zurückgelassen, wissend, dass Ethan ein mieser Drecksack war. Doch waren es letztendlich nicht alle von ihnen?
Ich spürte, wie sich kalte Finger um mein Handgelenk schlossen, als ich einen Schritt nach vorne machen wollte. Mein Essenstablett wurde binnen Sekunden aus meiner Hand gerissen und barsch auf die nächste Theke geworfen.
Meine Augen verfolgten, wie das Milchbrötchen aufsprang und in den Joghurt fiel. Die frischen Waldbeeren kugelten aus der flachen Schüssel und hinterließen eine Spur auf dem Tablett. Mein Frühstück lag zerstreut und wirkte nicht mehr appetitlich. Ich verzog angeekelt meinen Mund.
»Keiner hat gesagt, dass du gehen darfst, kleine Sirene«, stieß Ethan zwischen den Zähnen hervor. Sein Zischen kam aus der Brust heraus. Das Vibrieren seiner Stimme pochte tief und fest.
Ich blickte von der Seite unbekümmert zu Ethan, der mich mit seiner Geste zu sich drehte. Trotz dessen wollte ich ihm nicht meine Aufmerksamkeit schenken und wandte mich wieder von ihm ab.
»Lass los!«, forderte ich zähneknirschend und versuchte, meinen Arm in einem großzügigen Ruck freizugeben. Doch Ethan gab nicht nach, stattdessen hielt er mich fester, sodass ich das Gefühl hatte, seine kurzen Nägel würden sich in meine Haut bohren. Die empfindliche Stelle fühlte sich durch den darauf lastenden Druck langsam taub an, da die Durchblutung gestört war.
Ich blickte auf und bemerkte, dass Ethan mich mit seinen eisblauen Augen nicht losließ. Er durchbohrte mich regelrecht mit ihnen, sodass sich meine Nackenhärchen aufstellten. Dennoch verspürte ich keine Furcht, die ich eventuell aus Selbstschutz hätte empfinden sollen.
»Bist du schwer von Gehör? Lass mich los!«, wiederholte ich mehr als deutlich meine Aufforderung. Doch Ethan reagierte nicht. Er hielt mich weiterhin zu sich gerichtet, sodass ich mich bemühen musste, nicht in seine Richtung zu wenden.
Seine Augen verengten sich, und er musterte mich von oben bis unten. Noch immer wechselte er kein Wort. Mir war, als glotzte er direkt in meine Seele. Ich konnte nicht sagen, was er von mir wollte. »Was möchtest du?«, wollte ich kühl wissen. Es kam wie erwartet nichts zurück.
Ethan und ich starren uns an, seine Finger strichen über die Stelle an meinem Handgelenk, wo ich meinen Puls pochen spüren konnte.
Die blauen Augen blitzten auf und es war, als würde sich am Rand seiner Iris eine Frostschicht bilden. Wie ist das nur möglich?
Der Blick meines Gegenübers wanderte von seinem Arm hinunter zu seiner Hand, die mein Gelenk umschloss. Vorsichtig, fast schon zärtlich strich er mit dem Daumen über meine Haut. Ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht von dieser Geste einlullen zu lassen. Es passte einfach nicht zusammen, dass er so sanft und gleichzeitig hart sein konnte.
Ich zog nach Luft und legte meinen Kopf in den Nacken, um Ethan anzusehen. Er überragte mich um etwas mehr als einen Kopf, sodass ich nicht geradeaus schauen konnte. Wenn ich das tun würde, würde ich auf seine gespannte Brust blicken, die selbst durch die Schuluniform erkennbar war.
Mir kam es sogar so vor, dass seine dunkle Aura ihn weitere Zentimeter erschummelte.
»Du hast so nette... bestimmende Worte, kleine Sirene. Ich könnte fast stolz sein, da du so fordernd sprechen kannst. Sehe ich da etwa einen Einfluss von mir?«, raunte Ethan mir verwegen zu. Ein wölfisches Grinsen bildete sich auf seinem Mund, der mir nur ungern ins Blickfeld huschte.
Ist er mental... anders beschaffen? Wer würde stolz darauf sein?
»Ich nehme mir kein Beispiel an dir, im Gegenteil. Was muss man tun, damit du deinen eigenen Weg gehst und mich von deiner Anwesenheit befreist? Du wirst langsam zur reinsten Pest«, zog ich die Worte gedämpft durch meine Zähne.
Ethans Zeigefinger strich über die Innenseite meiner Hand und wollte der Lebenslinie folgen, verharrte aber noch am Beginn davon.
Mich durchfuhr ein Schauder und ich spannte mich an, wollte es mir jedoch nicht anmerken lassen.
»Du stellst die falsche Frage. Du solltest mich eher fragen, was du tun sollst, um an der Cardell Academy zu überleben. Du verstehst dieses Internat nicht und wirst es hier nicht leicht haben«, erinnerte er mich an die Tatsache, dass ich mit allem, was mich umgab, nicht vertraut war.
»Mir ist bewusst, dass ich das nicht tue. Dennoch bin ich nicht so verzweifelt, dich als Ansprechperson zu wählen. Ich müsste dich eher überleben, da kein anderer meiner Zukunft im Weg steht, nur DU«, brummte ich aus der Kehle heraus.
Ich hatte angenommen, dass meine feste Stimme ihn vielleicht zusammenschrecken lassen würde. Doch zu meinem Leid beugte sich Ethan zu mir vor und sah mir tief in die Augen.
»Wie süß, dass du glaubst, dass du es alleine schaffen würdest, ohne...«, begann Ethan, hielt aber an, als er mitten in seiner Ansprache mir gegenüber gestoppt wurde.
»Taysten, da gibt es etwas, was dich interessieren könnte«, unterbrach ein Junge, der für mich in der Menge unterging. Ich schenkte ihm kaum Beachtung. Interessanter war, dass Ethan auf seine Worte reagierte und sich knirschend erhob.
Warum erregt das seine Aufmerksamkeit?
»Was, O'Connor?«, brummte Ethan und schaute weiterhin zu mir. Seine blauen Augen suchten flink nach etwas in meinem Gesicht. Ich achte auf meine Reaktion auf seine vorherigen Worte, doch die schenkte ich ihm nicht.
»Es ist schon wieder passiert«, antwortete der Junge namens O'Connor. Die beiden schienen eine mir unbekannte Sprache zu sprechen, denn ich verstand nicht, wovon sie redeten.
Ethans Kiefer spannte sich an. Seine Finger strichen vorsichtig, wie in einem Abschied, über mein Handgelenk, und kurz danach verließ mich seine Berührung. Aus einem mir nicht erklärbaren Grund fühlte es sich so an, als würde etwas fehlen.
»Geh vor, O'Connor«, befahl der dunkelhaarige Eisblock emotionslos zu seinem Handlanger. Ethan richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich, seine Finger zuckten, und um sich dies nicht anmerken zu lassen, zupfte er an seinem Ärmel. Doch was ich nicht erwartete, war, dass er seine Hand hob und mir eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr strich. Es war nur ein kurzer Augenblick, doch er wirkte überaus intim.
»Du solltest etwas essen, kleine Sirene. Ich muss leider von deiner Seite weichen, weil ich mich wohl oder übel um einige Angelegenheiten kümmern muss. Vermiss mich nicht allzu lang«, flüsterte Ethan mir zu, und ein leichtes Kribbeln tauchte auf meinem Nacken auf, sodass ich zuckte.
Vermissen... der bildet sich aber mächtig etwas ein.
Ethan ließ von mir ab und drehte sich um, sofort bereit, von O'Connor die Information einzuholen, die scheinbar so wichtig war.
Doch ich wollte ihn nicht einfach gehen lassen, besonders nicht, weil es auf mich persönlich so wirkte, als hätte er mich für kurze Zeit dominiert.
»Hey, Arschloch!«, rief ich nach Ethan, der einige Schritte vorausgegangen war und sich zu mir drehte. Es überraschte mich, dass er auf den Spitznamen hörte. Er sah mich an, als hätte er nicht erwartet, dass ich nach ihm rufen würde.
»Du schuldest mir ein neues Frühstück, eins, das nicht von deinem Ego zusammengeworfen wurde«, verlangte ich stumpf von ihm. Ethans Mundwinkel zuckte, und ich deutete es als Belustigung. Kurz wechselte er ein Wort mit O'Connor, der zu meinem Essenstablett ging, einen Blick darauf warf und verschwand. Kurz darauf tauchte er wieder mit meinem Frühstück auf, das im Großen und Ganzen alles enthielt, was ich ausgewählt hatte.
Ohne ein Wort reichte mir der durchschnittliche Junge das Tablet mit dem Essen. O'Connor stieß es mir nahezu in den Magen, weil ich es nicht von ihm entgegennehmen wollte. Aus Trotz blickte ich zu Ethan, der das Geschehen zu beobachten schien, sich aber nicht einmischte.
Ich weigerte mich, das Essen anzunehmen, selbst wenn es mir nahezu gewaltsam zugedrückt wurde. Ich erhob meine Hand und stieß das Tablett zu Boden. Das Geschirr schepperte und der Joghurt spritzte über den Boden.
In Ethans eisigen Blick leuchtete etwas auf und O'Connor seufzte. Er wollte sich umdrehen und mir erneut ein Frühstück bringen, doch ich erhob meine Hand und stoppte ihn. Meine Reaktion erregte Ethans Aufmerksamkeit. Er neigte interessiert den Kopf.
Ich konnte regelrecht seinen Blick auf mir spüren und erzitterte.
»Willst du das wirklich durchziehen, kleine Sirene?«, fragte Ethan mich amüsiert über meine Sturheit. Ich tat, als fürchte ich nichts, was von ihm kam. Voller Selbstsicherheit reckte ich ihm mein Kinn entgegen. »Ich hab dir gesagt, dass DU mir ein Frühstück schuldest, nicht einer deiner Laufhunde.«
Ethan betrachtete mich mit einem frechen Lächeln auf den Lippen. Seine Augen funkelten, sodass man es fast schon als Freude deuten könnte.
»Das wirst du noch bereuen, Liana«, surrte Ethan mir wie eine stechende Biene zu. Nur war das, was er vielleicht nicht wusste, dass die Bienenkönigin die eigentliche Gewinnerin ist. »Mein Frühstück, ich warte. Du hast schon genug von meiner Zeit vergeudet, oder ist es zu schwer für dich, etwas selbst zu erledigen?«
Ethans Augen wurden schmal, und er schnaubte belustigt auf, dann trat er zu mir heran. Mit jedem Schritt, den er näher kam, hatte ich das Gefühl, als würde ein kalter Schauer über meine Haut jagen. Es war wie im Winter, wenn jemand die Tür offen gelassen hatte und der Wind alles zum Erfrieren brachte.
Ich zwang mich dazu, standhaft zu bleiben und mich nicht zu schütteln.
Nicht einmal ein Zentimeter war zwischen uns, ich konnte sogar spüren, wie Ethans Schuhspitze gegen meine stieß. So penetrant nah war er, als müsste er unbedingt beweisen, dass er jeglichen Raum einnahm und seine Präsenz dafür nicht ausreichte.
Lässig beugte er sich zu mir herunter, seine Lippen dicht an meinem Ohr, sodass ich ihn atmen spüren konnte. Mein Blut schoss warm durch meinen Körper.
Ich erwartete, dass Ethan ein Wort sagte, mich wieder warnte, doch das tat er nicht. Im Gegenteil, er lehnte sich mit dem Gesicht zurück, sodass unser Blick sich seitlich traf und ich das Gefühl hatte, dass er mir damit mitteilte, dass er mir meine Bitte erfüllen würde.
Nur konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass meine Tat noch einen Preis haben würde.
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