4 - Four
Avery ist spät, was mich unruhig werden lässt. Vor fünf Minuten wollte sie mich abholen, aber noch stehe ich in der Küche und warte auf ihre Nachricht. Ich kann Dalvin und Wesley im Wohnzimmer hören, die eine ihrer Serien gucken und laut lachen. Sienna ist nicht da. Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist, aber ich froh, dass sie weg ist. Die Aufgaben, die sie mir aufgetischt hat, habe ich lange fertig und das Essen für die Zwillinge steht bereit. Jetzt fehlt nur Avery, die mich abholt, aber sie lässt sich Zeit. Zu viel Zeit. Wenn ich Avery erreichen würde, wäre ich längst losgegangen, aber sie hat keine meiner Nachrichten beantwortet.
Ein Werbejingle ertönt und ich versteife mich. Werbung bedeutet, dass die Zwillinge in die Küche kommen, um Getränke und Snacks aufzufüllen. Ich kann ihre Schritte hören, aber wage es nicht, mich zu bewegen.
„Du bist noch hier", sagt Dalvin. Er geht zum Kühlschrank und zieht eine Dose Limonade raus. „Wurdest du versetzt?"
Wesley grunzt leise. „Wahrscheinlich von seiner Freundin. Wie heißt sie noch?" Er lehnt im Türrahmen, eine leere Limo-Dose in der einen Hand und ein paar zerknitterte Schokoriegelverpackungen in der anderen. Obwohl er sich wahrscheinlich schon den ganzen Tag nur von Junkfood ernährt hat, spannen sich seine muskulösen Oberarme gegen den Stoff seines T-Shirts.
„Avery kommt mich jeden Moment holen, keine Sorge", bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Essen steht im Ofen."
Mich übergehend sagt Wesley zu seinem Bruder: „Dann hat selbst die erkannt, dass es besser ist, einsam zu sein, als was mit dem zu tun zu haben." Er grinst. „Wahrscheinlich lachen sie und ihre Eishockey-Freundin sich gerade über ihn kaputt."
Ich beiße mir auf die Zunge, um nichts zu sagen. Mir schwebt das Wintermaskenballplakat vor Augen, wie es spottend außer Reichweite hängt und mir etwas geben möchte, was ich nicht nehmen kann. Ich will nicht in Unmut versinken, weil ich nicht gehen werde, aber kann nicht anders, als trotzdem eine schmerzende Brust zu bekommen. Als würde ein maskierter Unbekannter auf meinem Herz tanzen. Es ist ein schreckliches Gefühl.
Meine Finger verkrampfen sich um mein Handy in der Hosentasche. Ich gucke zur Uhr an der Wand. Avery ist zehn Minuten zu spät.
„Du hast hier was übersehen", sagt Wesley und deutet auf einen offensichtlich frischen Cola-Fleck auf der Küchenanrichte. Ich habe nicht mitbekommen, wie er weiter in die Küche gegangen ist, oder wann er die neue Dose aus dem Kühlschrank gezogen hat. Er zieht eine Augenbraue hoch, die fast in seinen unordentlichen Haaren versinkt. „Mach es lieber weg, bevor Mum wiederkommt."
Dalvin guckt mich unbeteiligt an. „Du bist ziemlich kindisch", meint er an seinen Zwilling gewandt.
„Schnauze", knirscht Wesley. „Na los. Mach es weg."
Ich weiß, dass er die Dose über den Boden kippen wird, wenn ich nichts tue. Mit langsamen Schritten und ohne den Blick von meinem idiotischen Stiefbruder zu nehmen, gehe ich zur Spüle, die im Tageslicht silbern glänzt. Ich will den Lappen nicht zur Hand nehmen, weil ich ihm damit einen weiteren Sieg schenke, aber tue es trotzdem.
Wesley grinst gewinnend und geht einen Schritt zur Seite. „Schnell", sagt er fordernd, aber leise. „Bevor es klebt."
Wieder antworte ich nicht. Ich wische den Cola-Fleck weg und wende mich von seinem Grinsen ab. Dalvin lächelt nicht, sondern betrachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen, während er langsam seine Hand in der Chipstüte versenkt.
„Es wäre eine Schande, wenn Dalvin die Chips auf dem Teppich fallen lassen würde", sagt Wesley. Seine Stimme ist gefährlich leise. Er hat ein schiefes Grinsen aufgesetzt. „Und hoffentlich stoße ich nicht aus Versehen meine Cola um, damit der teure Holztisch klebrig wird."
„Wes, lass den Scheiß", sagt Dalvin leise.
„Mum würde ausflippen, wenn sie das sieht", übergeht Wesley seinen Bruder, indem er lauter redet. Sein Blick verlässt meinen die ganze Zeit nicht. „Mir tut ja derjenige leid, der dafür bestraft wird." Seine grauen Augen glänzen im Licht. Den Mund verzieht er weiter zur Grimasse. „Du weißt nicht zufällig, wie man das verhindern kann, oder, Quinny?"
Wesley weiß, wie sehr ich diesen Spitznamen hasse, deswegen benutzt er ihn, wenn er irgendwas von mir will. Er weiß genau, dass ich mich nicht wehren werde und dass ihn niemand aufhalten wird. Dalvin wird ihm keine Paroli bieten, selbst wenn er wollte.
„Wes, komm schon", sagt Dalvin halbherzig, aber er hätte genauso auch still bleiben können, so wenig beachten weder Wesley noch ich ihn.
„Hat man dir nicht beigebracht, dass man jemandem antwortet, wenn er eine Frage stellt?", fährt Wesley mich an. Seine Stimme wird wieder lauter, während er einen aggressiven Seitenblick in Richtung seines Bruders wirft. Sein Grinsen wird fies, als er hinzufügt: „Oder hast du deine Zunge verschluckt? Das wäre sicherlich nicht das erste Mal, dass du was im Hals hast, oder?"
Meine Gesichtshaut fängt Feuer und Wesley lacht. Leise frage ich: „Was willst du?"
„Du kannst reden", erwidert er.
Dalvin fängt meinen Blick auf. Er zieht die Augenbrauen zusammen, runzelt die Stirn, aber hält den Mund dicht. Die Chipstüte knistert, aber er holt die Finger nicht hervor. Beinahe bilde ich mir ein, dass er eine Hand zur Faust formt und kaum merklich den Kopf schüttelt.
„Was willst du?", frage ich Wesley erneut.
„Weißt du, witzige Geschichte, ich schaffe es leider nicht meinen Aufsatz fertig zu bekommen, aber der muss echt lang und ausführlich sein." Er lächelt diesmal gewinnend. Er ist wie ein Löwe, der seine Beute in die Ecke getrieben hat und nur noch auf den Moment wartet, zuzuschlagen. „Kennst du zufällig jemanden, der mir da helfen könnte, Quinny?"
„Was ist mit deinem?" Ich wende mich an Dalvin, der nur überrascht eine Braue hochzieht.
„Schon fertig." Sein Bruder räuspert sich vernehmlich. „Aber ich komm drauf zurück."
Das glaube ich ihm, erwidere aber nichts. Ich beiße mir auf die Zunge, bevor ich mich wieder an Wesley wende. „Bis wann?"
„Morgen ist Abgabe, also müsstest du es heute erledigen. Sonst würde Mum angerufen werden und dann hätten wir beide ziemlichen Ärger. Und das wollen wir vermeiden, oder?" Wesleys Grinsen wird ein Stück breiter.
„Ich kümmere mich drum. Du hast ihn morgen früh."
„Ich hatte nichts anderes erwartet." Wesley nickt Dalvin zu und dieser stößt sich von der Anrichte ab.
„Viel Spaß beim Spiel." Dalvin lächelt nicht, als er das sagt. Ich weiß, dass er es nicht meint. Die beiden verlassen die Küche und gehen wieder ins Wohnzimmer. Erst, als ich den lauter werdenden Ton des Fernsehers hören kann, atme ich auf. Es sticht in der Lunge.
Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich geglaubt, Dalvin würde sich auf meine Seite und sich gegen seinen Bruder stellen. Ich habe gedacht, ein Stück Vergangenheit würde zurückkehren und die Küche würde sich mit dem Lachen von drei Teenagern füllen, die sich gerade in Witzen verloren hatten. Aber es kam nicht. Ganz am Anfang, als es so wirkte, als würde alles gut werden, da hat Dalvin seinen Bruder manchmal zurückgehalten, aber jetzt tut er es nicht. Er hält ihn nicht auf, aber stachelt ihn auch nicht an. Neutralität hilft mir nicht, aber ich kann annehmen, dass er mir nicht ebenfalls eine Klinge in die Brust rammt. Es ist ein winziger Sieg, aber ein Sieg nichtsdestotrotz.
Rettung kommt zu spät, als mein Handy endlich mit der Nachricht von Avery vibriert. Bin da, sorry für die verspätung!
Ich antworte nicht, sondern gehe direkt in den Flur, ziehe Schuhe und Jacke an und treffe sie draußen. Averys Wagen ist eigentlich der ihrer Mutter, den sie sich nehmen kann, wann immer sie nicht arbeiten muss. Es ist ein altes Modell, der vertraute Geruch nach Leder und Benzin ist wie eine Erinnerung an eine bessere Kindheit, als Avery und ich auf den Rücksitzen saßen und ihre Mutter uns in die Stadt gefahren hat, damit wir Eis essen können.
„Hey", sagt sie, als ich einsteige. „Tut mir leid."
„Schon gut", erwidere ich. „Was war denn?"
„Mum hat heute so eine komische Kirchenveranstaltung und sie hat darauf bestanden, dass ich mitkomme, obwohl ich ihr erzählt habe, dass ich zum Spiel fahre und dann war sie erstmal sauer und wollte mir den Wagen nicht geben, aber sie hat sich eingekriegt als eine Kirchenfreundin sie abgeholt hat und ich das Auto haben konnte." Sie tätschelt das Lenkrad mit den dunkelblauen Fingernägeln, dann lächelt sie. „Bereit?"
„Für Eishockey immer", sage ich und sie verdreht die Augen.
„Ein bisschen Vorfreude vortäuschen wäre ja nicht verkehrt gewesen. Aber egal", sie winkt mit der Hand ab und startet den Motor. „Du kommst ja eh nicht wegen des Spiels."
„Richtig", antworte ich. „Das Spiel könnte mir nicht gleichgültiger sein."
„Du kommst aus Solidarität für deine gute Schulfreundin Brielle, die zufälligerweise meine heiße Freundin ist." Sie grinst mich von der Seite an. „Und bestimmt wirst du einen ganz bestimmten Torhüter auch nicht aus den Augen lassen." Die Reifen schießen über den Asphalt, als Avery Gas gibt.
Ich schnalle mich an, ehe ich sage: „Falls du Finnley meinst –"
„Wen denn sonst?", unterbricht sie mich. „Er scheint es dir ja ziemlich angetan zu haben."
„Ich habe in den letzten Tagen ganze zwei Mal mit ihm geredet und keines dieser Gespräche war besonders lang oder persönlich. Da hat es niemand niemandem angetan."
Avery seufzt leise. „Die vergangenen Monate und Jahre kann man eure Interaktionen an einer Hand abzählen, Quincy. Ich sage dir, wenn du schon nicht an ihm interessiert bist, dann wenigstens er an dir."
„Oder", sage ich mit durchdringender Stimme und greife nach dem Radioknopf, „er hat einfach nur höflichen Smalltalk mit mir geführt, so, wie er es mit allen tut. Hast du Finnley denn jemals nicht mit jemandem reden sehen? So ist er nun mal. Immer nett, immer höflich, von allen gemocht. Der beliebte Eishockey-Spieler." Ich starte das Radioprogramm und erkläre das Gespräch für mich damit beendet.
„Warum wehrst du dich eigentlich so sehr gegen die Idee, dass sich jemand tatsächlich mal für dich interessieren könnte?", fragt Avery über die Musik. „Ist es so abwegig?"
Ich seufze lautlos. Diese Unterhaltung will ich nicht schon wieder führen müssen. „Ich hab es dir schon erklärt", sage ich.
„Dann erkläre es noch einmal", verlangt sie. Ihre schwarzen Locken fallen ihr über die Schulter, als sie den Kopf für einen Augenblick in meine Richtung dreht, um mich aus dunklen, herausfordernden Augen anzublicken. „Denn ich verstehe es nicht. Es ergibt einfach keinen Sinn, Quinn."
„Hör zu", sag ich mit einem genervten Unterton, für den ich mich schuldig fühle. „Ich kann es mir nicht erlauben. Du weißt nicht, was Sienna oder die Zwillinge machen würden, wenn ich mich mit jemandem verabreden würde. Ich kann fast froh sein, dass meine Beziehung zu Lucas geheim und kurz war, ansonsten hätten sie wahrscheinlich einen Weg gefunden, um mir auch das wegzunehmen." Ich drehe ungeduldig am Lautstärkeregler umher. Die Musik bleibt zu leise. „Ich habe auch nicht die Zeit dafür. Ich muss arbeiten, ich muss putzen, ich muss lernen." Ich drücke mir zwei Finger an die Schläfe und versuche mir den Druck zu nehmen, der hinter meinen Augen lastet. „Ich habe keine Zeit, mich zu verlieben. Nicht in Finnley, nicht in irgendjemand anderen. Selbst wenn es so sein sollte, dass er was von mir wollen würde, müsste ich ihn wegdrücken, weil ich nichts Gutes für mich haben kann, ohne dass meine Familie es mir kaputt machen würde."
Avery schweigt und blickt mit stoischem Blick auf die Straße. Es ist zwei Songs lang ruhig zwischen uns und mein Atem wird gleichmäßig, als ich mich entspanne. Ich trommle mit den Fingern auf meinen Knien, immer zum Takt der Musik, wie ein einheitlicher Rhythmus, der nicht durch Schlaglöcher unterbrochen wird. Die zur Hälfte geleerte Packung mit Zigaretten in meiner Jackentasche schreien nach mir, aber ich blende den Drang aus. Averys Blick, wenn ich jetzt eine rauchen würde, kann ich nicht gebrauchen.
Als sie schließlich den Mund öffnet, bin ich nicht einmal mehr aufgebracht. „Du kannst sie nicht dein Leben bestimmen lassen. Geh zur Polizei." Sie guckt zu mir, dieses Mal sind ihre Augenbrauen kraus gezogen, ihr Blick ist besorgt. „Ich meine es ernst. Du kannst das nicht mit dir machen lassen."
„Was soll ich denn den Bullen sagen?", seufze ich. „Hilfe, meine Stieffamilie behandelt mich schlecht, ich muss putzen und Dinge im Haushalt erledigen. Die lachen mich aus, Avery."
„Du weißt genau, was ich meine. Kindesmisshandlung ist keine Lachnummer. Wenn du erzählst, dass sie dir kein Abendessen gibt, oder wenn sie dich im Dachboden einsperrt, dann –"
Ich unterbreche sie und sage: „Ich habe keine Beweise, okay? Sienna muss nur ein bisschen auf die Tränendrüse drücken und denen die tragische Geschichte ihres Doppel-Witwen-Lebens erzählen und ich stehe dann als der Böse da. Du weißt, wie manipulativ sie ist, du weißt, dass sie die Cops sofort um den Finger wickeln würde. Was soll ich denn tun?" Ich vermisse den Takt mit meinen Fingern und kralle sie stattdessen in meine Jeans. „Es dauert nicht mehr lang, bis wir mit der Schule durch sind. Wenn ich Glück habe, bekomme ich die Vollzeitstelle im Diner und verdiene dann mehr. Dann kann ich ausziehen und muss nichts mehr mit ihnen zu tun haben, ja?" Um sie nicht auf dem Trockenen zu lassen, greife ich mit der linken Hand herüber und drücke ihren Arm. „Ich weiß ja, dass du dir nur Sorgen machst."
„Nicht nur ich", presst sie hervor. „Robin und ich reden immer darüber."
„Schön, dass ihr darüber hinter meinem Rücken redet."
„Mit dir kann man ja nicht reden", erwidert sie säuerlich und trommelt nun ihrerseits auf dem Lenkrad, als wir an einer roten Ampel stehen bleiben. „Ich will auch nicht mit dir streiten, aber du machst es mir nicht gerade leicht."
„Dann lassen wir das Thema einfach", sage ich resolut und verschränke die Arme. „Es bringt nichts." Schulterzuckend wende ich den Blick aus dem Fenster.
Avery seufzt, aber sie schweigt. Als wir wieder losfahren, fängt sie leise an zu dem spielenden Lied zu summen. Sie bringt uns zum Parkplatz vorm Sportcenter, lässt den Motor aber laufen. Das Radio dreht sie lauter und guckt mich dann grinsend an. Ihr Summen wird auch lauter. Das ist eine der Sachen, die ich an Avery liebe. Egal, wie sehr wir uns in den Haaren liegen können, wir können nicht lange böse aufeinander sein. Selbst der größte Streit ist nach wenigen Minuten vergessen und wir grinsen uns wieder an, als wären wir Kinder auf dem Spielplatz, denen ein Eis versprochen wurde.
Ich schüttle belustigt den Kopf und warte, bis das Lied vorbei ist. Erst dann stellt Avery den Motor aus und öffnet die Fahrertür. Sofort dring kalte Luft hinein und umfasst mein aufgewärmtes Gesicht mit eisigen Fingern. Meine Haut fängt an zu brennen.
„Viertelstunde noch", sagte Avery nach einem Blick auf ihr Handy. „Na los." Sie steigt aus und ich folge ihr. Der Parkplatz ist gut gefüllt und vor dem Eingang stehen Besucher, die sich bei Zigaretten und Getränken unterhalten. Avery und ich zeigen unsere Tickets am Empfang vor, die uns Brielle besorgt hat, und betreten dann das große Sportstadion. Drinnen ist es laut und stickig, es stinkt nach hunderten Menschen und meine Ohren klingeln mit den brummenden Stimmen der Sportbegeisterten.
„Wo wollte Brielle uns treffen?", frage ich, als Avery mich an den meisten Eingängen vorbeiführt. Durch die offenen Glastüren kann ich bereits das Eishockeyfeld und seine Tribünen sehen. Ein Schiedsrichter fährt ein paar Runden auf dem Eis, während sich die meisten Leute auf ihren Plätzen eingefunden haben. Snackverkäufer laufen durch die Gänge und wollen vor Beginn des ersten Drittels ihre Ware verkaufen. Der Geruch von frischem Popcorn und kaltem Bier dringt an meine Nase.
„Bei den Umkleiden", antwortet sie. „Gleich da vorn, komm schon."
Wir waren schon oft in diesem Sportcenter, aber ich kann mir den Weg nicht merken. Ich halte mich in Averys Windschatten. Sie umgeht die Leute und geht an den großen Schildern vorbei, auf denen der Spielplan sowie die Ankündigungen für die nächsten Wochen stehen. Die Umkleidekabinen für die Teams sind für die Spiele abgesperrt, aber Brielle wartet davor auf uns, damit sie uns begrüßen kann.
„Endlich", sagt sie. Sie steckt bereits im Großteil ihrer Uniform, die in dunkelblau und weiß gehalten sind. Auf ihrer Brust prangt ihre Teamnummer, die Vierzehn, und sie hat sich ihren Helm unter den Arm geklemmt. Im Neonlicht der Deckenbeleuchtung glänzt ihre dunkle Haut und ihre schwarzen Locken wirken ein wenig heller. „Ich dachte schon, ihr kommt zu spät."
„Ich wurde aufgehalten", erwidert Avery und lässt sich von ihrer Freundin auf die Wange küssen. „Wie siehts aus? Bist du bereit?"
„Aber sowas von", sagt Brielle mit einem breiten Grinsen. „Die machen wir fertig."
„Sehr schön", sagt Avery stolz und legt Brielle beide Hände auf die Schultern. „Nach dem Spiel gehen wir zu mir. Mum hat gesagt, ich soll dich zum Essen mitbringen."
„Hat sie das?", fragt ihre Freundin irritiert.
„Hat sie wirklich", erwidert Avery. „Ich glaube, sie gewöhnt sich langsam daran. Sie klang sogar ein wenig aufgeregt."
„Hm, na gut. Dann will ich ihr eine Chance geben. Aber sie soll mir nicht wieder mit ihrem Kirchenschwachsinn ankommen, dann –"
Avery unterbricht sie mit strenger Stimme. „Dann wirst du ihr brav zuhören. Meine Mum ist sehr leidenschaftlich, was die Kirche angeht und wir werden sie darin unterstützen, hörst du?"
Brielle ist größer und kräftiger, als jede andere Frau, die ich kenne, aber selbst sie lässt die Schultern ein wenig sinken, als sie Averys glänzendem, feurigen Blick begegnet. „Verstanden, Babe." Sie wendet sich an mich und lächelt fahrig. „Schön, dass du es auch geschafft hast."
„Das hätte ich nicht verpasst, keine Sorge", sage ich. „Sie hätte mich sowieso hergezerrt." Ich deute mit einem Grinsen auf Avery, die sofort nickt.
„Hätte ich, richtig. Der Junge muss mal rauskommen."
„Brielle?" Eine Stimme ertönt, die ich nicht sofort zuordnen kann.
„Bin gleich da!", ruft sie über die Schulter, ehe sie wieder zu Avery blickt. Brielle legt den Kopf kaum merklich schief. „Wünsch mir Glück?"
„Natürlich."
Ich gucke demonstrativ an Brielles Schulter vorbei, als die beiden sich sehr innig und ausgiebig küssen. In der Tür zur Umkleidekabine klingt es so, als würde jemand eine laute Geschichte erzählen. Gelächter und Stimmen mischen sich mit dem Klackern von Eishockeyschlägern zusammen, ein Geräusch, welches ich mittlerweile gut kenne. Seit Brielle dem Team beigetreten ist, habe ich genug von ihren Spielen gesehen, um zu wissen, wie die Schläger klingen, wenn die Jungs sie gegeneinanderschlagen. Brielle sagt, sie machen das immer vor einem Spiel, um sich gegenseitig Mut zuzusprechen, ohne auch tatsächlich reden zu müssen.
„Brielle!", ruft wieder jemand und im nächsten Moment steckt Nate den Kopf aus der Tür. Er trägt ebenfalls seine Uniform minus Helm und guckt genervt drein. Nate ist das, was ich wäre, wenn ich jeden Tag für ein paar Stunden ins Fitnessstudio gehen würde; er hat die Statur von jemandem, der Gewichte zum Spaß hebt und erst dann mit dem Laufen aufhört, wenn seine Lungen kurz vor dem Aufgeben sind. Seine Haut hat den gleichen blassen Ton wie meine, seine braunen Haare sind kurz und strähnig und seine dunklen Augen wirken bedrohlich, wenn man ihn nicht kennt. Nates tiefe Stimme kann mehr als abschreckend wirken und wenn ich nicht wüsste, dass er in meinem Alter ist, würde ich glauben, er wäre ein paar Mal in der Schule sitzen geblieben. „Jetzt komm endlich, Coach will was sagen. Hey, cool, dass ihr da seid", sagt er an Avery und mich gewandt. Sein Lächeln hält nur einen Herzschlag, aber ist ehrlich. „Beeil dich." Er zieht sich wieder zurück.
Brielle seufzt, als sie sich von Avery löst. „Ich muss dann wohl", brummt sie. Trotzdem lächelt sie, als sie sich umdreht. „Feuert mich ja an, ihr beiden!"
„Darauf kannst du wetten", sage ich und sie hebt die Fäuste zur Bestätigung in die Luft, die bereits in schwarzen Handschuhen stecken.
Als Brielle mit der großen Nummer Vierzehn auf dem Rücken in der Umkleide verschwindet, dreht sich Avery zu mir um. „Sorry, dass ich dich vorhin so unter Druck gesetzt hab."
„Schon gut", meine ich abwinkend. „Hab eh wieder vergessen, worum es ging."
Avery lacht. „Dann ist ja gut. Na los, sonst klaut man uns die Sitze und wir müssen Brielle die ganzen drei Drittel im Stehen anfeuern."
„Was wirklich ein Weltuntergang wäre", sage ich.
Wir folgen der Masse ins Stadion. Die riesige, schwarze Anzeigetafel, die über dem Eis von der Decke hängt, lässt den letzten Werbespot spielen, bevor sie auf die Punktanzeige umschaltet. Kaum an unseren Sitzen angekommen, ertönt ein Signalton, der, wie ich mittlerweile gelernt habe, dafür steht, dass das Spiel in Kürze beginnen wird und alle Zuschauer sich auf ihre Plätze begeben sollen.
Averys Worte kommen mir wieder in den Sinn, als ich die rotlackierten Torstangen sehe, die an einem Ende des Eisfelds angebracht sind. Natürlich bin ich nur hier, um Brielle anzufeuern, aber unwillkürlich werde ich auch für Finnley jubeln, oder? Es kann mir egal sein, dass er hier ist und ebenfalls spielt. Er hat nichts in meinen Gedanken zu suchen und ich schiebe ihn in die hinterste Ecke zurück, wo seine dunklen, grünen Augen mich anzufunkeln scheinen. Ich bin mir nicht sicher, was ich mit diesem Bild anfangen soll und bin froh, als die Spieler das Feld betreten.
Die Euphorie der anderen Stadiongäste ist ansteckend, also juble und grinse ich ebenfalls, auch wenn ich einen raschen Blick auf Finnley Anderson nicht verhindern kann, der mit der Nummer Dreizehn auf dem Rücken zum Tor schlittert.
Ich klatsche ein wenig lauter, als das Spiel angepfiffen wird.
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