Wiedersehen

Was tat er hier? Seit Jahren hatte Amira ihn nicht mehr gesehen und nun stand er hier vor ihr. Milan. Er war älter geworden. Damals war er ein kleiner, rothaariger Junge mit viel zu vielen Sommersprossen. Er war dürr und Amira hatte ihn immer beschützt, doch jetzt... er war mindestens 1.80 groß und viel muskulöser. Er war nicht mehr so blass wie früher und wirkte viel stärker und kräftiger. Was war passiert?

"Hallo mein Schmetterling" begrüßte Milan sie. Diesen Spitznamen hatte sie ewig nicht gehört. Er hatte begonnen sie so zu nennen, nachdem die beiden auf einer Wiese gespielt hatten und Amira wie begeistert von einem kleinen Schmetterling war. Sie hatte gesagt er sei wunderschön und deshalb nannte Milan sie so. Das er sich das gemerkt hatte...

"Nenn mich nicht so" knurrte Amira, die sich mittlerweile ganz von Castile gelöst hatte. Dieser keuchte noch immer, doch langsam schien er sich zu beruhigen. Er stand hinter der jungen Diebin und schien dem Gespräch aufmerksam zu lauschen.

"Aber du hast diesen Spitznamen immer geliebt" erwiderte der rothaarige Mann und kam einen Schritt auf Amira zu. Instinktiv griff sie nach ihrer Waffe, doch... Mist. Sie hatte sie zuhause gelassen, da man an dem Kleid keine Möglichkeit zur Befestigung hatte. Ohne Messer und Dolche fühlte sie sich so nackt und verletzlich. Das war nicht gut.

"Bis du mich verraten hast Milan" antwortete Amira und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun hatte wohl auch Castile verstanden, wer der man ihnen gegenüber war. Er versteifte sich etwas und sie konnte spüren, wie seine Aura dunkler und bedrohlicher wurde. Nicht wie die eines normalen Menschen, sondern... übermenschlicher.

"Kleiner Schmetterling..." begann Milan und seufzte kurz. "Ich will dir das alles erklären. Können wir reden?" fragte er sie und einige Sekunden wurden Amiras Augen doch etwas größer. Er wollte einfach mit ihr reden, nachdem er ihr so etwas angetan hatte? Ernsthaft?

Empört und offensichtlich wütend, kam sie auf ihn zu. Wie konnte er es wagen so etwas zu tun? Amira sah ihn eiskalt an und es war ihr anzusehen, dass sich über die Jahre eine Menge Wut aufgestaut hatte. Milan war es gewesen, der ihr das Herz gebrochen hatte. Er hatte ihr den Boden unter den Füßen weggerissen...

"Du willst mir das erklären? Wieso du mich verraten hast wie eine kleine Ratte? Wie du mich denen einfach ausgeliefert hast? Weißt du was die mir angetan haben? Ich wäre beinahe gestorben an dem Tag!" warf sie ihm vor und in ihren Augen brannte die bloße Rachsucht. Ja. Sie hatte sich immer Rache gewünscht. Nein. Nicht Rache... Er sollte nur wissen, was er ihr damit angetan hatte. Er sollte es auch fühlen.

"Ich weiß, dass das falsch war, doch es gab einen Grund für all das. Können wir bitte alleine darüber reden?" bei diesem Satz ließ er den Blick kurz über Castile schweifen. Dieser hatte sich nicht bewegt, doch wenn Blicke töten könnten, würde sich Milan jetzt wohl vor Schmerzen auf dem Boden winden.

Alleine mit ihm reden? Amira hatte zwar keine Angst davor, denn sie wusste, dass sie eine gute Kämpferin war, doch falls das wieder eine Falle war... Sie war unbewaffnet und gegen eine ganze Gang hatte sie keine Chance. Doch vielleicht hatte er tatsächlich etwas wichtiges zu sagen... Ihr inneres Kind verlangte immer noch nach einer Erklärung für das, was er ihr angetan hatte. Nie hatte sie verstanden, wieso er das damals getan hatte, doch vielleicht könnte sie es jetzt endlich verstehen.

"Gib mir dein Messer Castile" meinte Amira und drehte sich zu ihm um. Sofort verdunkelte sich sein Blick. Er schien ganz und gar nicht begeistert von der Idee. Einige Sekunden musterte er die beiden einfach nur, doch dann seufzte er. Er trat einen Schritt auf Amira zu und holte ein Messer unter seinem Hemd hervor.

"Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann werde ich dich finden und glaub mir, ich kenne Wege dir weh zu tun, die sich ein dummer Mensch, wie du nicht einmal vorstellen kann" knurrte Castile, während er Amira das Messer in die Hand gab. Dabei strich sein Daumen kurz über ihren Handrücken. Selbst so eine kleine Berührung löste bei ihr noch ein Kribbeln aus.

Für einige Sekunden senkte er den Kopf an ihr Ohr. "Sei vorsichtig ti vólé und wenn du mich brauchst, dann brauchst du nur meinen Namen zu rufen. Ich komme so schnell ich kann" flüsterte Castile und Amira nickte. Sie wusste, dass er sie nicht alleine lassen würde.

"Gut, du willst reden? Dann reden wir aber ich warne dich, wenn das eine Falle ist, schlitzte ich dir höchstpersönlich deine Kehle auf" meinte Amira in eiskaltem Ton an Milan gewandt, bevor sie los lief. Sie wollte die Kontrolle über die Situation behalten, also würde sie den Weg bestimmen. 

Als die beiden weit genug weg waren von Castile, begann Milan plötzlich mit ihr zu sprechen. "Du siehst hübsch aus heute Abend. Früher hättest du nie ein Kleid getragen" lächelte er, als wäre zwischen den beiden alles in Ordnung. Das kotzte sie an.

"Früher hätte ich in deiner Gegenwart auch kein Messer gebraucht um mich sicher zu fühlen" erwiderte Amira bissig. Sie wollte ihn keinesfalls vergessen lassen, was er ihr angetan hatte und dass mit einer einfachen Entschuldigung sicher nicht alles getan war.

Auf einmal blieb Milan stehen und sah sie einen Moment an. Dann nickte er Richtung eines Hauses, welches ein niedriges Dach hatte. Früher hatten die beiden sich oft auf irgendwelchen Dächern versteckt und die ganze Nacht geredet. Das wollte er nun tun? Hinterlistig. So wollte er sie also von sich überzeugen.

"Na komm schon, ich will es dir erklären, also rauf mit dir kleiner Schmetterling. Der alten Zeiten willen" forderte Milan und Amira verdrehte einen Moment die Augen. "Nenn mich nicht so aber von mir aus" brummte sie und musterte ihn kurz. Was tat er hier eigentlich? Warum hatte er sie plötzlich aufgesucht und wollte nun mit ihr reden? Nach all diesen Jahren, in denen sie in Zinambra gewesen war.

Nachdem sie ihn einige Sekunden lang angesehen hatte, kletterte Amira geschickt auf das Dach hinauf. Zugegeben, in dem Kleid war es doch etwas schwierig und sie fühlte sich um längen unbeweglicher, dennoch schaffte sie es halbwegs elegant auf das Dach. Was nun? Was für eine große Erkenntnis würde er ihr nun mitteilen? Vielleicht sogar eine von diesen vorgeheuchelten Entschuldigungen?

"Dann lass mal hören Milan" knurrte Amira leise und lehnte sich an die Wand. Sie wollte endlich wissen, was er all die Jahre vor ihr geheim gehalten hatte. Was war die Erklärung für all das? All den Schmerz, den er ihr zugefügt hatte und den Verrat, der bei ihr immer noch tief saß.

"Versprich mir, dass du es dir bis zum Ende anhörst, bevor du etwas sagst Amira" meinte er und sah sie einige Sekunden bittend an. War die Wahrheit so schlimm? Zögerlich nickte sie, bevor er begann zu erzählen.

"Nach dem wir diesen Händler überfallen hatten, dachte ich alles wäre in Ordnung. Ich hatte meiner Mutter das Geld gezeigt und sie war besorgt, doch ich ignorierte das. Ich dachte es wäre so einfach gewesen, doch dann, zwei Tage später..." er schien einen Moment zu zögern. Seine Erzählungen klangen so dramatisch und übertrieben. Steckte wirklich so eine schlimme Geschichte dahinter?

"Ich kam vom spielen nach Hause und dort waren sie. Sie standen in unserem Wohnzimmer, einer hielt meine Mutter fest, die anderen grinsten bloß böse. Sie hatte bereits ein blaues Auge und blutete aus der Nase... sie hatten sie verprügelt. Eine unschuldige, wehrlose Frau. Meine eigene Mutter." erklärte er. Diese Worte trafen doch etwas in Amira. Sicher, sie war verletzt, doch das war die Erklärung. Das war der Grund, warum er sie so hatte leiden müssen?

"Sie boten mir Geld an, wenn ich dich verrate. Laut ihnen waren wohl die Schmerzen meiner Mutter genug Strafe. Ich... ich konnte es nicht mit ansehen. Ich konnte nicht zuschauen, wie meine Mutter weinte vor Angst, was die Männer ihr noch antuen würden. Ich musste es tun. Das Geld hab ich für Medizin und essen benutzt..." beendete er seine Ausführungen. Milan hatte sie also gar nicht so verraten, wie sie es gedacht hatte. Er hatte das nicht freiwillig getan. Sie hatten ihn dazu gezwungen.

"Deshalb hast du... aber warum hast du mir das nie erzählt? Ihr seid einfach verschwunden aus Zinambra. Du hättest mir das doch erklären können. Wieso hast du mich so leiden lassen? All die Jahre dachte ich, dass du mich bloß für das Geld verraten hättest" erwiderte Amira, noch immer wütend, doch... irgendwas in ihr wollte ihm verzeihen. Früher war er alles für sie gewesen und der Gedanke, dass er vielleicht gar kein schlechter Mensch war, dass sorgte bei ihr für ein Gefühl, was sie schon lange nicht mehr hatte.

"Ich habe mich geschämt kleiner Schmetterling. Meine Mutter war danach verängstigt und sagte es sei das beste, wenn wir niemals nach Zinambra zurückkehren würden. Sie wollte endlich weg von all dieser Gewalt und der Armut und mit dem Geld dieser Männer konnten wir das. Wir haben neu angefangen, hier in Veniza und dann habe ich dich auf diesem Straßenfest gesehen... ich musste dich einfach wiedersehen. Ich musste es dir erklären" sprach Milan weiter. Das waren so viele Informationen auf einmal. Das zu verarbeiten war schwierig. Ihr ganzes Leben war sie wütend gewesen und nun erfuhr sie, dass das alles eigentlich einen Grund gehabt hatte. Sie war nie verraten worden.

"Was machst du hier? Und wer ist dieser Mann, mit dem du getanzt hast? Ihr saht.... sehr vertraut aus" murmelte Milan und es klang fast, als würde es ihn schmerzen den letzten Satz auszusprechen. Doch wichtiger war ihr: war sie wirklich vertraut mit Castile? Amira hatte noch keine Zeit gehabt zu realisieren, was da zwischen den beiden passiert war.

"Er ist... ein Freund von mir. Sein Name ist Castile. Wir lernten uns in einer Burg kennen. Ich wollte einen Lord ausrauben und er ebenfalls. Anstatt mich zu töten, schlug er mir vor, dass wir zusammen einen Auftrag ausführen" begann Amira zu erzählen. Sicher, sie vertraute Milan durchaus wieder ein wenig aber trotzdem konnte sie ihm nicht die Wahrheit über den Auftrag sagen. Noch nicht.

"Es geht um einen Raub in einer Stadt ein paar Tage entfernt von hier. Nichts besonderes aber die Bezahlung ist gut. Veniza ist bloß... naja ein Zwischenstopp. Castile hat mir vom Lichterfest erzählt und ich wollte es mir unbedingt ansehen. Der Gedanke daran einfach mal unter Leuten zu sein, die völlig sorgenfrei sind und Spaß haben" erklärte sie Milan und begann zu lächeln. Oh ja, sie hatte heute Abend wirklich viel Spaß gehabt. Etwas, was ihr vorher so noch nie passiert war.

"Ein Raub also? Bist du etwa eine Söldnerin? Du warst immer eine gute Kämpferin" brummte Milan und musterte sie eine Weile. Er hatte diesen Blick von früher. Liebevoll und irgendwie bewundernd. Das hatte ihr gefehlt. Milan hatte sie immer mit Fürsorge behandelt und auch, wenn Amira das immer verdrängt hatte, sie hatte es vermisst.

"So in etwa. In Zinambra habe ich eben alles gemacht, was mir Geld eingebracht hat. Ich musste schließlich lernen alleine klarzukommen" erwiderte Amira. Sie musste ihm ja nicht gleich ganz verzeihen. Er schien jedoch nicht beeindruckt davon zu sein und seufzte grinsend.

"Du bist noch genauso taff wie früher, das mochte ich immer an dir" meinte er sanft. Dann setzte er sich auf. "Danke das du mir zugehört hast kleiner Schmetterling. Du solltest wohl zurück zu deinem Freund gehen" meinte Milan lächelnd. Es schien ihm schwerzufallen sie wieder gehen zu lassen und auch Amira wusste nicht, ob sie gehen wollte. In zwei Tagen wollten sie und Castile wieder abreisen. Würde das bedeuten, dass die beiden sich dann nie wieder sehen würden?

"Das sollte ich wohl" meinte Amira leise. "Castile und ich wollen bald wieder abreisen... Dann sehen wir uns nicht mehr" erzählte sie ihm und seufzte. Es fiel ihr schwer daran zu denken. Sie hatte ihn doch gerade erst wieder getroffen und nun...

"Dann lass mich dich morgen ausführen. Ich kenne einige nette Läden hier und wir könnten einen Spaziergang machen. Vorausgesetzt dein Freund hat nichts dagegen" meinte Milan und lächelte sie liebevoll an. Sollte sie das tun? Mit ihm einen Vormittag verbringen? Eigentlich war die Idee ja gar nicht so schlecht. Vielleicht tat ihr das gut.

"Wir sehen uns morgen um 11 am Festplatz" erklärte Amira und schenkte ihm ein freches Grinsen.

Damit war es beschlossen.

Sie würde Milan wiedersehen.

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