Milan

Nun waren die beiden also gemeinsam in diesem doch eher kleinen Zimmer. Es war eine komische Situation und Amira wusste nicht, wie sie auf das ganze reagieren sollte. Natürlich hatten die beiden schon öfter zusammen geschlafen aber jedes mal mit mindestens einem Meter Abstand. Hier konnten sie höchstens 30 Zentimeter zwischen sich bringen.

Langsam lief Amira zur rechten Seite des Bettes, wo sie sich hinsetzte. Kurz schaute sie noch einmal nach Castile, bevor sie dann ihre Waffen abstreifte. Die meisten legte sie einfach auf den Boden, damit sie in der Nacht schnell dran kam, doch ein Messer wanderte unter ihr Kissen. Es war das einzige, was sie von ihren Eltern noch hatte, weshalb sie es immer nah bei sich brauchte. Nur für den Fall.

Zugegeben, alleine der Gedanke an ein richtiges, warmes Bett sorgte bei ihr für Vorfreude. Die junge Diebin war harten und kalten Boden gewöhnt, doch noch nie hatte sie in einem gemütlichen Bett geschlafen. Wie sich das wohl anfühlte?

Mittlerweile hatte Amira auch ihre Schuhe und ihre Jacke ausgezogen. Mit einem Mal sah sie gar nicht mehr so tough aus, wenn man nicht wusste, was eigentlich in ihr steckte. Ob das gut war? Nun, die Zeit würde es zeigen aber lieber wurde sie unterschätzt, als überschätzt.

Dann endlich wagte sie es. Langsam ließ Amira sich in die Laken sinken und sofort spürte sie, wie ihre Muskeln sich entspannten und sie konnte ein wohliges Seufzen nicht unterdrücken. Prompt kam ein amüsiertes Schmunzeln von Castile, der sich nun auch auf das Bett gesetzt hatte.

"Hast du jemals auf einem Bett geschlafen?" fragte er und die Antwort schien ihn tatsächlich zu interessieren. Natürlich, er war ein Engel gewesen. Deren Betten waren sicherlich himmlisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Woher sollte so jemand auch wissen, wie es sich anfühlte zum ersten Mal ein gemütliches Bett zu haben.

"Problem damit?" gab sie zurück. "Nicht jeder hat das Privileg in einem Himmelsbett zu schlafen" murrte Amira mit noch immer geschlossenen Augen. Sie wollte sich diesen Moment nun wirklich nicht von dem gefallenen Engel kaputt machen lassen. Dafür war dieses Bett viel zu gut.

"Oh ja, die Betten im Himmel sind göttlich, dass stimmt. Allerdings sind sie die Launen des alten Herrn wirklich nicht wert" brummte er und ließ sich dann neben ihr auf das Bett sinken. "Dennoch ist es verräterisch, dass du dieses harte Brett als gemütlich empfindest" meinte Castile dann amüsiert. Arsch.

Endlich machte sie die Augen auf und drehte ihren Kopf zur Seite. Sofort erschien ein Ausdruck von leichtem Schock auf ihrem Gesicht. Castile hatte sein Shirt ausgezogen. Wahrscheinlich damit er seine Flügel ausbreiten konnte oder so, dennoch hatte sie nicht im geringsten gerechnet. Womit sie jedoch noch viel weniger gerechnet hatte, waren seine Bauchmuskeln. Doch nicht nur die. Sein ganzer Oberkörper war so muskulös, dass man ihm spätestens jetzt ansah, dass er vieles war aber sicherlich nicht menschlich.

"Starren gehört sich nicht ti vòlè" grinste er belustigt. Natürlich hatte er es bemerkt. Das war wohl die erste Situation in der Amira ihre Gesichtszüge kein bisschen unter Kontrolle hatte. Stattdessen spürte sie eine sanfte Röte auf ihren Wangen und sie sah weg. War ihr das gerade wirklich peinlich? Wieso fühlte sie sich bei dieser Situation so ertappt? Eigentlich hatte sie ihn doch nur gemustert.

"Ich hab nicht gestarrt" gab Amira zurück, jedoch hatte ihre Stimme nicht annähernd so viel Schärfe, wie sie es gerne gehabt hätte. Im Gegenteil. Sie klang, wie ein dummes Mädchen, dass versuchte mit ihrem Schwarm zu reden und sich dabei blamierte. Doch so war Amira doch gar nicht. Nein, definitiv nicht.

"Ach du hast nicht gestarrt? Es scheint aber als würde dir gefallen was du siehst" machte Castile weiter. Musste er sie jetzt auch noch aufziehen? Mistkerl. Plötzlich setzte er sich dann auf und blickte auf sie hinunter. Was sollte der Mist?

"Bild dir bloß nicht zu viel darauf ein" schnaubte Amira und versuchte einen ernsteren Blick aufzusetzen. Gut, vielleicht hatte er sie eiskalt erwischt, doch so leicht ließ sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Nicht von einem Mann und ganz sicher nicht von Castile. Niemals.

"Dein Blick sagte etwas anderes. Weißt du im Himmel war-" begann er, doch Amira schnitt ihm das Wort ab. "Ich habe dich nicht angestarrt und du rufst sicher keine Gelüste in mir hervor, falls sich das dein hübsches Köpfchen gerade zusammenreimt" knurrte sie kalt. Sie mochte es nicht, wenn man sie so in Bedrängnis brachte, weshalb sie dann so schnell wie möglich alle ihre Mauern hochfuhr. Sie musste sich einfach schützen.

Castile schien von ihrer Reaktion kein bisschen überrascht zu sein. Es schien fast, als wäre es genau das, was er wollte. Als wollte er sie provozieren, um zu sehen, wo ihre Grenzen liegen. Dieser verdammte Arsch. Er hielt sich wirklich für etwas besseres. Nur weil er ein Engel war, hatte er kein Recht so mit ihr zu spielen.

"Spiel nicht mit mir Engelchen" warnte Amira ihn, setzte sich jedoch nicht auf. Vielleicht war sie gerade in der schwächeren Position, doch das würde sie nicht zugeben. Ihm gegenüber nicht. Mal sehen, was er als nächstes tat. Weiter provozieren? Dumme Sprüche? Oder erneut so etwas, wie im Wald vor einigen Tagen? Sie war auf alles vorbereitet.

"Das ist kein Kampf kleines" sagte er plötzlich, mit einer fast liebevollen Stimme. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Natürlich war das kein Kampf, das wusste sie doch... sie wollte doch nur... nun war sie doch ein wenig perplex. Etwas, was ihr nicht gefiel.

Plötzlich beugte Castile sich ein wenig zu ihr runter und automatisch hob sie die Hände. Er ließ sich davon jedoch nicht aufhalten und stoppte erst kurz vor ihrem Gesicht. "Ich bin nicht dein Feind Amira" raunte er ihr sanft zu. "Also wehr dich nicht immer gegen mich" flüsterte der Engel und sein warmer Atem strich über ihre Lippen. Er... er war nicht der Feind. Eigentlich hatte er doch recht. Oder?

"Weiß ich doch" gab Amira leise zurück und sah ihm in die Augen. Dann zog er sich ohne ein weiteres Wort zurück. Das musste sie erstmal verarbeiten. Dieser verdammte Engel. Er versuchte immer wieder sie durcheinander zu bringen.

Den Rest des Abends schwiegen sie und es dauerte auch nicht lange, da war Amira in den Schlaf gesunken. Schon lange hatte sie nicht mehr so ruhig geschlafen, doch plötzlich begann sie zu träumen.

Sie rannte durch die Straßen, lächelnd und fröhlich. "Du kriegst mich nicht!" rief sie dem jungen zu, der ihr hinterher rannte. Er war genau wie sie 7 Jahre alt. Milan. Ihr bester Freund, seit dem sie 5 Jahre alt war. Die beiden liebten es fangen zu spielen und auch jetzt fegten sie wieder durch die Gassen. Der Wind fuhr durch ihr langes blondes Haar und sie spürte das Adrenalin in jeder Zelle ihres Körpers. Ein tolles Gefühl.

Immer weiter rannten die beiden, bis sie nicht mehr konnten. Erschöpft ließen sie sich auf dem kalten Steinboden nieder. Wo genau sie waren, dass wusste Amira nicht, doch es war sowieso unwichtig. Milan passte immer auf sie auf, das wusste sie.

"Wie bist du nur so schnell?" keuchte er grinsend und brachte die kleine Amira damit zum lächeln. "Wieso bist du es nicht?" erwiderte sie frech und beide begannen zu lachen. Sie lachten immer. Egal ob die Situation wirklich lustig war oder ob sie nur den gleichen, dummen Gedankengang hatten.

"Weißt du noch dieser Händler gestern, dem wir die Zigaretten geklaut haben?" fragte Milan plötzlich. Natürlich wusste sie das noch. Die beiden hatten einen neuen Händler in der Stadt entdeckt und hatten ihm mit einem einfachen Trick einige Packungen Zigaretten abgeluchst. Natürlich rauchten sie nicht, allerdings konnten sie damit gut Geld verdienen. Milan hatte sie wohl irgendwem im Tausch gegen 50 Sankrische Taler gegeben.

"Natürlich" antwortete die kleine Amira grinsend und sah ihn an. Wieso erwähnte er das jetzt? "Was ist mit ihm?" fragte sie neugierig und wartete gespannt auf seine Antwort. Vielleicht hatte er neue Ware oder war er etwa dahintergekommen, wer sie waren? Selbst wenn, der Verkäufer war alles andere als angsteinflößend gewesen. Mit ihm wurden sie fertig.

"Nun, er gehörte zu einer Bande" und mit diesen Worten tauchten drei Männer hinter ihm auf. Sie begannen zu grinsen und einer nickte Milan zu. Was ging hier vor? Milan würde sie doch beschützten oder?

"Sie war es! Ich hab sie euch geliefert, jetzt will ich mein Geld" forderte er und in diesem Moment zerbrach Amiras kleines Herz in Tausend Teile. Er hatte sie verraten. Milan hatte sie einfach verraten, für ein wenig geld. Ihr bester Freund hatte sie einfach verraten.

Alles was die anderen sagten, bekam Amira nicht mit. Keine von den Drohungen, den fiesen Sprüchen und auch nicht, wie sie auf sie zukamen. Dann plötzlich der erste Schlag. Direkt ins Gesicht. Ein ekliges Knacken. Mist, das war sicherlich ihre Nase gewesen. Sie spürte das warme Blut, welches ihr Gesicht hinunterlief. Es dauerte nicht lange, da spürte sie bereits einen weiteren Tritt in den Magengrube. Einige Sekunden später spuckte sie bereits Blut, doch trotz der Prügel spürte sie nichts. Amira war wie taub. Ein einziger Satz war prägnant in ihrem Kopf.

"Er hat mich verraten".

Und mit diesem Gedanken wachte sie auf.

Milan hatte sie verraten.

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