29. Schatten der Vergangenheit
“Und du bist dir absolut sicher, dass die Verletzungen nicht zu schwer sind und du das in diesem Zustand schaffen kannst?”, fragte Chuuya skeptisch und musterte sie dabei.
“Ich wurde hier schon viel schwerer verletzt und habe dennoch nicht aufgegeben, das durfte und konnte ich auch nicht. Es ging immer um Leben oder Tod, so wie jetzt auch. Solange ich noch atme, kann und muss ich kämpfen - daran hat sich nichts geändert. Der einzige Unterschied ist, dass ich nun nicht mehr alleine bin. Mit eurer Hilfe kann ich alles schaffen, das weiß ich!”, antwortete Misaki voller Überzeugung und mit einem Lächeln auf den Lippen.
“Na schön, aber ohne unsere Hilfe wärst du jetzt vermutlich tot... also gibt es keine Alleingänge mehr. Du bleibst ab jetzt immer in meiner Nähe und zwar so, dass ich dich sehe! Das ist ein direkter Befehl, verstanden?!”, erwiderte er ernst.
Chuuya stand auf und reichte ihr eine seiner Hände, welche Misaki nickend ergriff und sich auf die Beine helfen ließ. Sie wusste, dass der Rothaarige bloß so streng war, weil er sich um sie sorgte. Außerdem war er immer noch ihr Vorgesetzter und sie musste seinen Befehlen Folge leisten, ob sie das nun wollte oder nicht. Doch in dieser Situation und weil er jemand ganz besonderes für Misaki war, störte es sie nicht im Geringsten. Sie war sogar froh darüber, dass Chuuya – auf seine Art und Weise – offen zeigte, dass er sich Sorgen machte und bloß auf sie aufpassen wolle. Abgesehen davon hatte er auch recht, denn wenn die Drei nicht gerade noch rechtzeitig aufgetaucht wären, dann wäre sie definitiv gestorben und das nicht zum ersten Mal. Seit Misakis Flucht aus dem Labor war es schon das dritte Mal gewesen, dass ihr Leben beinahe ein jähes Ende gefunden hätte. Es war zwar jedes Mal knapp gewesen, aber dennoch hatten sie sie immer wieder in letzter Sekunde gerettet. Ob nun vor dem Ertrinken, Arahabaki, diesen Straftätern; ganz egal, was sonst noch kommen würde, Misaki wusste, dass sie sich auf diese drei Männer immer verlassen und ihr Leben in deren Hände legen konnte. Ohne Zweifel, Angst oder Hintergedanken; sie vertraute ihnen bedingungslos und würde alles für sie tun. Doch vor allem war Misaki unbeschreiblich froh und dankbar.
“Ich danke euch, dass ihr mein Leben erneut gerettet habt... aber wie konntet ihr mich so schnell finden? Der unterirdische Laborkomplex ist doch riesig und die Gänge so verwinkelt, beinahe wie ein Labyrinth.”
“Tatsächlich hat es länger gedauert, als du denkst. Wir haben die ersten drei Ebenen durchsucht und als wir endlich auf ein paar Wachen gestoßen sind, hat uns einer von ihnen freundlicherweise erzählt, dass du dich auf der untersten befindest. Danach mussten wir nur noch den richtigen Raum finden, was für Atsushi-kun ein Kinderspiel war, da der Geruchssinn des Tigers außerordentlich gut ist und er den Geruch des Blutes überdeutlich wahrgenommen hat. Unser Chibi hatte dennoch keine Geduld und musste unbedingt ein paar Türen und Wände zerstören, also finden wir den Weg zurück zum Fahrstuhl auch ganz leicht”, antwortete Dazai gelassen.
“Und das war auch gut so, andernfalls wären wir zu spät gewesen! Dein Schützling ist wesentlich nützlicher und pragmatischer als du, du Bastard!”, zischte Chuuya vorwurfsvoll.
Während Dazai und Chuuya weiterhin diskutierten, schüttelte Misaki bloß ihren Kopf darüber. Sie konnte gut nachvollziehen, weshalb die beiden damals Partner gewesen waren. Denn nicht nur ihre Fähigkeiten ergänzten sich, sondern auch sie im Allgemeinen. Selbst wenn sie immer wieder stritten und sich gegenseitig beleidigten, hatten sie dennoch eine Verbindung, welche auf tiefem Vertrauen basierte. Und Misaki hatte – da sie die beiden vor ein paar Tagen erwischt hatte – auch eine ungefähre Ahnung, wie tiefgehend ihre Beziehung zueinander damals gewesen sein musste und es teilweise heute noch war. Sie fragte sich, wie alles wohl verlaufen wäre, wenn Dazai die Port Mafia und Chuuya nie verlassen hätte.
Misaki wendete sich von den beiden ab und ging auf Atsushi zu, der etwas abseits von ihnen stand. Der Weißhaarige hatte das Theater ebenfalls beobachtet und seufzend den Kopf geschüttelt, während sein Blick auch immer wieder auf ihr verharrt hatte. Sie konnte ihm deutlich ansehen, dass er ziemlich besorgt war und sie konnte es ihm auch nicht verübeln. Immerhin wusste Misaki, dass sie einige unschöne Verletzungen hatte und bestimmt ziemlich angeschlagen aussah. Sie hatte auf Chuuyas Frage zuvor auch absichtlich etwas ausweichend geantwortet, damit dieser nicht weiter nachfragen würde. Denn die Wahrheit war, dass ihr die Wunden sehr wohl zusetzten und sie etwas beeinträchtigen würden. Es wurden zwar keine wichtigen Organe oder Arterien verletzt, aber ganz so harmlos, wie sie es den anderen geschildert hatte, waren sie dennoch nicht. Doch mit dieser Art von Schmerzen konnte Misaki umgehen. Solange sie ihre Fähigkeit hatte und nicht bewusstlos wurde, würde es ihr auch keine allzu großen Probleme bereiten. Denn wenn sie nicht die aktive Kontrolle über ihr Blut hätte, dann würden die inneren Blutungen und der Blutverlust durch all die Wunden definitiv ihr Ende bedeuten. Allerdings bereitete ihr das keine Sorgen, da ohnehin nur Dazai dazu imstande wäre, ihre Fähigkeit zu neutralisieren. Und Misaki wusste, dass der Braunhaarige ihren Zustand ganz sicher durchschaut hatte und aus diesem Grund nichts dergleichen tun würde. Deshalb musste sie sich darüber keinerlei Gedanken machen und konnte sich ganz auf ihre Rache an dem Laborleiter konzentrieren. Denn dieser Mann musste sterben, damit sie und vor allem auch Chuuya endlich und endgültig frei sein konnten. Andernfalls würden sie wohl ewig gejagt werden und wer wusste schon, was dann alles passieren könnte?
Atsushi musterte Misaki besorgt, als sie sich vor ihn stellte und einfach nur lächelte. Doch als sie den Weißhaarigen dann einfach in eine Umarmung zog und fest an sich drückte, vergaß er alles andere für einen kurzen Moment. Er war so unfassbar besorgt um sie gewesen, dass er einfach nur froh war, sie nun im Arm halten zu können. Auch wenn dies nicht lange anhielt, da Misaki sich kurz darauf wieder von Atsushi löste. Sie legte eine ihrer Hände auf seine Wange, ehe sie zu sprechen begann.
“Mach dir keine Sorgen, Atsushi-kun. Die Wunden sind an keinen gefährlichen Stellen, also halte ich das aus”, sagte sie mit einem sanften Lächeln.
Atsushi erwiderte das Lächeln und nickte bloß knapp. Auch wenn Misaki es überzeugend rübergebracht hatte, beruhigte es ihn dennoch nur minimal. Denn sein Instinkt verriet ihm, dass sie nicht ganz ehrlich war. Jedoch wusste der Weißhaarige auch, dass sie es nicht zugeben und höchstwahrscheinlich bloß wütend werden würde. Deshalb sagte Atsushi nichts weiter dazu und beschloss, dass er sie immer im Auge behalten und auf sie aufpassen würde - so wie Chuuya. Solange sie zusammen waren, sollte Misaki also nichts weiter passieren können. Zumindest hoffte er das.
“Wir sollten langsam von hier verschwinden und zurück zum Fahrstuhl, denkt ihr nicht? Ihr zwei könnt auch währenddessen noch weiterflirten”, trällerte Dazai vergnügt, während er an ihnen vorbeiging.
Chuuya stapfte dem Braunhaarigen wütend hinterher und warf ihm allerlei Beschimpfungen an den Kopf, weil dieser ihn einfach stehengelassen hatte. Atsushi und Misaki folgten den beiden eilig und mit hochroten Gesichtern durch das große Loch in der Wand, welches der Rothaarige zuvor verursacht hatte. Der Weg, auf dem sie sich nun befanden, war schmal und auch hier waren die Wände bloß in einem schrillen Weiß gehalten. Wenn man von dem Blut absah, welches an ihnen klebte, da Chuuya die Wachen, welche die Räume von außen bewacht hatten, ausgeschaltet hatte. Dabei hatte der Rothaarige nicht lange überlegt, sondern einfach gehandelt, im Gegensatz zu Atsushi, der versucht hatte mit den Männern zu sprechen. Ein zweckloser und naiver Versuch, aber so war der Weißhaarige nun mal. Er hatte schon oft versucht sogar seinen Feinden zu helfen, da er das Leben schätzte und sie nicht unbedingt töten wollte. Damit war er der Einzige von ihnen, der in dieser Hinsicht noch Skrupel besaß. Wobei sich Dazai ohnehin nur selten die Hände schmutzig machte und eher die Kopfarbeit übernahm, denn darin war er der Beste. Seine taktisch ausgefeilten Pläne waren meist immer ein Erfolg, selbst wenn es anfangs oft nicht danach aussah. Dahingegen war Chuuya jemand, der gerne seine Kampffähigkeiten zeigte, lieber handelte und die Feinde der Port Mafia bedenkenlos eliminierte – auch wenn ihm das Töten keine Freude bereitete. Und Misaki... sie konnte zwar kaltblütig sein, aber tötete ebenfalls nicht aus Spaß. Zudem ging sie im Kampf meist ziemlich taktisch vor, aber ließ sich ebenso oft zu sehr von ihren Gefühlen beeinflussen. Sie könnten eigentlich kaum unterschiedlicher sein und ergänzten sich wohl auch deswegen besonders gut. Denn die Schwächen des Einen, wurden durch die Stärken eines Anderen wieder ausgeglichen.
In einem raschen Tempo schritten sie die Gänge entlang und stiegen durch die Löcher in den Wänden, die sie auch durch einige Räume führten, bis Misaki schließlich in einem davon abrupt stehen blieb. Neben ihr war etwas auf den Boden gefallen, was nun zu ihren Füßen lag und sofort ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Stirnrunzelnd hockte sie sich hin und schlug einen dicken Ordner, auf dem > Projekt - Alpha < stand, auf. Darin befanden sich drei Akten, die mit der Aufschrift > FEHLGESCHLAGEN < gekennzeichnet waren, wovon sie eine entnahm und öffnete. Doch schon die erste Seite des Dokuments ließ Misaki geschockt ihre Augen weiten und ungläubig den Kopf schütteln. Es war eine Art Steckbrief, auf dem das Foto eines kleinen, brünetten Jungen abgebildet war. Er musste zu der Zeit, als dieses Bild aufgenommen worden war, ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein. Genau konnte sie es nicht sagen, da die meisten Informationen des Streckbriefes geschwärzt und somit unleserlich waren. Doch eines war noch deutlich zu erkennen: Subjekt - A3895. Misaki blätterte einige Seiten weiter und las den Inhalt, der nicht geschwärzt worden war. Dabei bemerkte sie nicht, dass ihre Begleiter unweit vor ihr standen und versuchten, mit ihr zu sprechen. Sie ließ die Akte einfach fallen und öffnete daraufhin die zwei verbliebenen, die sich noch in dem Ordner befanden. Auch hier sah sie Fotos von zwei weiteren Kindern, deren Steckbriefe unleserlich gemacht wurden. Misaki setzte sich auf den Boden und sah zu Chuuya auf, der sie fragend ansah.
“Wir... Wir waren nicht die einzigen Kinder. Diese Akten, darin befinden sich Informationen zu drei weiteren, die offenbar vor uns hier gewesen sind. Sie- Chuuya, sie sind durch die Experimente gestorben und wer weiß, wie viele Kinder es vor uns noch gab”, sagte sie mit bebender Stimme.
Kurz darauf stand Misaki plötzlich auf und durchsuchte eine Kiste, die unweit von ihr auf dem Boden stand. Darin befanden sich noch drei weitere Ordner: Projekt – Beta, Projekt – Omega und Projekt - Phönix. Ihre Begleiter sahen sich die Akten an, die sie selbst zuvor angesehen hatte, während sie sich den ersten der Ordner ansah. In diesem befanden sich wieder drei Akten, die mit derselben Aufschrift gekennzeichnet waren. Erneut fand sie darin die geschwärzten Steckbriefe von drei weiteren Kindern, die durch die Experimente verstorben waren. Misaki biss sich wütend auf die Unterlippe, legte den Ordner zur Seite und nahm den nächsten zur Hand. In diesem waren erneut drei Akten, wovon diesmal allerdings zwei mit der Aufschrift > ERFOLGREICH < gekennzeichnet waren und eine unbeschriftet war. Sie schluckte und ihre Hände zitterten, denn sie hatte bereits eine Ahnung, wessen Dokumente sich darin befanden. Aufgewühlt setzte sie sich mit angewinkelten Beinen neben die Kiste und öffnete erst die unbeschriftete Akte, in welcher das Foto eines kleinen Jungen mit strahlend blauen Augen und kupferrotem Haar abgebildet war. Der Steckbrief war zwar ebenfalls größtenteils geschwärzt worden, doch der Inhalt interessierte Misaki auch nicht sonderlich. Immerhin wusste sie, dass er mit Arahabaki verschmolzen worden war und für sie zählte bloß, dass er noch lebte und bei ihr war. Behutsam legte sie Chuuyas Akte neben sich und ergriff dann die nächste. Sie schloss diese allerdings schnell wieder, nachdem sie das Foto des kleinen Mädchens mit smaragdgrünen Augen und schneeweißem Haar erblickt hatte. Misaki wusste nur zu gut, was ihr angetan worden war, weshalb sie es nicht auch noch lesen und sich dadurch deutlicher an alles erinnern wollte. Seufzend platzierte sie ihre Akte auf der von Chuuya, bevor sie die dritte und letzte in ihre zitternden Hände nahm. Sie umklammerte diese fest und atmete tief durch, ehe sie sie zögerlich öffnete. Ein schmerzhaftes, stechendes Gefühl zog sich durch ihre Brust, als sie das Foto des kleinen Jungen mit rehbraunen Augen und goldblondem Haar sah. Mit zittrigen Fingern strich sie über das Bild, während ihre Lippen bebten und sich einzelne Tränen über ihre Wangen bahnten. Sie sah erneut die Erinnerungsfetzen dieses einen Tages praktisch bildlich vor sich, als er blutend vor ihr gelegen hatte und gestorben war. Misaki presste die Akte fest gegen ihren Oberkörper und legte den Kopf auf ihren Knien ab, ehe sie laut schluchzend zu weinen begann.
Als ihre drei Begleiter das hörten, war Chuuya der erste, der sich eilig zu ihr begab. Atsushi hatte eigentlich auch sofort aufspringen wollen, jedoch hatte Dazai ihn an seinem Arm festgehalten und demonstrativ den Kopf geschüttelt. Er ahnte bereits, wessen Akte Misaki zuletzt gelesen hatte und war der Meinung, dass es besser war, wenn der Rothaarige sich alleine um sie kümmerte. Atsushi bat er stattdessen, ihm die übrigen Akten zu bringen, welche sich noch neben ihr und in der Kiste befanden. Schweigend nickte der Weißhaarige und tat, worum Dazai ihn gebeten hatte. Doch sein Blick hing dabei beinahe pausenlos an ihr, denn es schmerzte Atsushi sehr, sie so leiden zu sehen.
Währenddessen hatte Chuuya sich neben Misaki gesetzt, einen Arm um sie gelegt und streichelte sanft über ihre Schulter. Er war zwar nicht besonders gut oder erfahren darin andere zu trösten, aber wollte sein Bestes versuchen, damit sie sich zumindest ein klein wenig besser fühlte. Und es schien Misaki tatsächlich, wenn auch nur minimal, zu beruhigen. Denn das Schluchzen klang langsam ab, aber Chuuya konnte deutlich fühlen, dass sie dennoch zitterte. Weshalb er sie näher an sich zog und seinen Kopf an ihren lehnte. Selbst wenn der Rothaarige sich nicht an ihre gemeinsame Zeit aus der Vergangenheit erinnern konnte, galt dies nicht für all die Wochen, die Misaki nun schon bei ihm war und die sie miteinander verbracht hatten. Denn davon wusste Chuuya selbst jedes noch so kleine Detail und er spürte ebenfalls, wie stark ihre Verbindung zueinander war. Sie hatte einmal gesagt, dass sie wie Geschwister wären und allmählich dachte er das auch. Denn selbst wenn der Kopf sich nicht erinnert, das Herz vergisst nie.
“Misaki... zeigst du mir, weshalb du so sehr geweint hast?”, fragte der Rothaarige behutsam.
Angesprochene hob ihren Kopf, wischte sich die Tränen mit einer Hand aus dem Gesicht und reichte Chuuya anschließend die Akte. Ihre Augen waren ziemlich gerötet und leicht geschwollen; ihr Atem noch etwas schnell und stockend. Der Rothaarige nahm das Dokument mit seiner freien Hand entgegen, ließ den anderen Arm aber dennoch um Misaki gelegt und lächelte schwach. Eigentlich war Chuuya nicht nach Lächeln zumute und sie sollten auch schnellstmöglich weitergehen, das wusste er, aber... bei ihrem traurigen und teilweise gebrochenen Anblick setzte seine Vernunft aus. Es belastete ihn auch, da sie so sehr unter all dem litt und er sich an rein gar nichts erinnerte. Misaki war zwar dennoch nicht allein damit, aber ohne seine Erinnerungen konnte Chuuya ihr womöglich nicht die Art von Beistand geben, den sie so dringend brauchte und das frustrierte ihn. Dennoch bemühte er sich und bemerkte, dass es ihr immerhin ein wenig zu helfen schien. Denn Misaki rückte näher zu ihm, legte ihren Kopf in seine Halsbeuge und flüsterte mit ihrer brüchigen Stimme ein leises > Danke <. Daraufhin legte sich ein kleines Grinsen auf Chuuyas Lippen, welches aber sofort wieder verschwand, als er sich die Akte in seiner Hand endlich ansah. Er erkannte den Jungen zwar nicht, wusste aber dennoch genau, wer er war. Nun verstand der Rothaarige auch, weshalb Misaki so am Boden zerstört war und auch sein Herz zog sich bei dem Anblick des Fotos schmerzhaft zusammen. Ob er sich wohl jemals an ihn erinnern könnte?
Dazai hatte Chuuya zwischendurch immer wieder schmunzelnd dabei beobachtet, wie dieser Misaki getröstet hatte. Er wusste zu gut, dass sein ehemaliger Partner auch eine sehr sanfte Seite hatte. Allerdings zeigte er sie sonst nie so offensichtlich vor anderen und vor allem nicht außerhalb seiner vier Wände, weshalb der Braunhaarige doch etwas überrascht war. Jedoch erregte schnell etwas anderes Dazais Aufmerksamkeit, als er die zwei Akten aus dem Ordner > Projekt - Phönix < öffnete und auch Atsushi schien einen der abgebildeten Männer sofort wiederzuerkennen.
“D-Das ist doch dieser Mann mit den Flügeln!”, rief er entgeistert.
Als Misaki das hörte, hob sie ruckartig ihren Kopf und eilte etwas wackelig an Dazais Seite. Chuuya war erst kurzzeitig perplex und gesellte sich dann ebenfalls kopfschüttelnd zu ihnen, während sie sich neben den Braunhaarigen setzte und dieser die aufgeschlagenen Akten vor sie legte. Stirnrunzelnd und etwas verwirrt betrachtete Misaki die beiden Steckbriefe, die ebenfalls größtenteils geschwärzt und unleserlich waren, ganz genau.
“Keigo Takami alias Hawks und Touya Todoroki alias Dabi...”, murmelte sie mit belegter Stimme konzentriert vor sich hin.
Misaki musterte die Fotos und ihr fiel auf, dass Dabis Haarfarbe auf diesem anders war. Mittlerweile waren sie zwar schwarz, aber offensichtlich waren sie damals feuerrot gewesen. Dahingegen sah Hawks, abgesehen von seinem Lächeln und dem Bart, genau gleich aus – unverkennbar eben.
Anschließend sah Misaki sich den Rest der beiden Akten an, wobei auch diese nicht sonderlich viele Informationen enthielten. Zumindest keine, die leserlich gewesen wären, aber das, was man lesen konnte, war aussagekräftig genug. Die beiden Männer waren ebenfalls in diesem Labor, seit sie Kinder gewesen waren. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und Misaki war, dass an ihnen keine Experimente durchgeführt worden waren, da sie schon immer eine Fähigkeit besessen hatten. Stattdessen waren sie von Anfang an individuell trainiert und auf ihre jeweilige Fähigkeit geschult worden, bis sie schließlich ein ähnliches Kampftraining wie Misaki durchlaufen hatten. Doch anders als bei ihr, mussten Keigo und Touya nicht gegen Erwachsene, sondern immer gegen andere Kinder, die so waren wie sie, auf Leben oder Tod kämpfen. Wie man es auch drehte und wendete, die beiden waren ebenfalls bloß Opfer dieses Labors und sie alle wurden für die Pläne dieses abscheulichen Monsters gequält und benutzt.
Zischend ballte Misaki ihre Fäuste und schlug wütend die Akten zur Seite, wodurch sich all die Papiere quer über den Boden verteilten. Sie wollte diese Männer - und vor allem Keigo – doch eigentlich hassen, wegen all dem, was sie getan hatten. Aber nun... nun erkannte sie, dass sie gar nicht so unterschiedlich waren und hatte sogar Mitleid mit ihnen. Dieser Fakt brachte Misaki in einen Zwiespalt und sie war sich nicht mehr sicher was sie tun sollte, wenn sie den beiden das nächste Mal begegnen würde. Bis jetzt war sie bloß von ihrem Hass getrieben worden und hatte jeden töten wollen, der irgendwie mit dem Labor zu tun hatte. Doch nun zweifelte sie daran, dass das richtig war und fasste dadurch einen neuen Entschluss.
“Die beiden... sie sind genau wie ich all die Zeit in diesem Labor gewesen und bloß Opfer des Leiters. Wir... Wir dürfen sie nicht einfach töten, zumindest nicht, solange sie uns nicht töten wollen und wir eine Wahl haben”, sagte sie ruhig und entschlossen, “Aber diesen Bastard... Sein Kopf gehört mir.”
Während Misaki sprach, erhob sie sich mit einem ernsten Blick und sah zu ihren Begleitern. Dazai schmunzelte bloß, während Atsushi und Chuuya sie etwas verwundert anblickten. Niemand außer dem Braunhaarigen hatte mit dieser Aussage gerechnet und dennoch sagte keiner von ihnen etwas dazu. Irgendwie waren sie sogar erleichtert, dass Misaki nicht länger ausschließlich an Rache dachte und sich davon leiten ließ. So war die Gefahr, dass sie erneut die Kontrolle über sich verlieren würde geringer – zumindest hofften sie das. Denn keiner von ihnen wollte, dass sie sich dadurch leichtfertig in Gefahr brachte. Misaki hatte ohnehin schon genug Verletzungen und sie wollten nicht riskieren, dass es noch mehr wurden. Auch wenn Atsushi und Chuuya sie immer im Augen behalten und beschützen würden, wusste keiner, was noch auf sie zukommen würde.
Freudig klatschte Dazai in die Hände, stand ebenfalls auf und ging auf das nächste Loch in der Wand zu, welches sie zum Fahrstuhl führen würde. Misaki folgte ihm schulterzuckend, ohne auf die anderen zu warten, woraufhin Atsushi aufsprang und ihnen hinterher rannte. Nun war nur noch Chuuya zurückgeblieben, der sich seufzend erhob und fluchend gegen die Ordner trat, ehe er ihnen ebenfalls folgte. Wie sehr der Rothaarige es doch hasste, wenn Dazai einfach vorausging und ihm alle nachlaufen mussten, wie... wie Hunde, die ihrem Herrchen folgten. Allein dieser Gedanke trieb seinen Puls in die Höhe, doch er würde den Teufel tun und etwas dazu sagen. Am Ende würde ohnehin nur einer von Dazais blöden Sprüchen als Antwort kommen und Chuuya – wie immer – vor Wut in den Wahnsinn treiben, so wie es immer der Fall gewesen war.
Nachdem sie in den Fahrstuhl gestiegen waren, fuhren sie zurück an die Oberfläche, denn Dazai fand es besser, das Labor und das darüberliegende Gebäude vorerst zu verlassen und anschließend ihr weiteres Vorgehen zu besprechen. Immerhin war der ganze unterirdische Komplex doch größer, als sie erwartet hatten und es wäre daher nicht besonders schlau, einfach planlos herumzuirren. Schon gar nicht, da sie nicht wussten, wo sie überhaupt anfangen sollten und wo all die Wachen – vor allem Hawks und Dabi – sich mittlerweile befanden. Es war Dazai ohnehin seltsam vorgekommen, dass sie auf dem Weg niemandem begegnet waren. Vor allem, da ihr Eindringen nicht gerade unauffällig gewesen war. Irgendetwas stimmte hier nicht und der Braunhaarige war nicht der Einzige, dem das aufgefallen war. Denn Misaki war ebenso misstrauisch, da es viel zu lange ruhig gewesen war. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, dass es zuvor nie so still und leer in dem Labor gewesen war, wie an diesem Tag. Doch weshalb dies gerade jetzt der Fall war, realisierte sie erst, als sie das Gebäude verlassen hatten und zwei gewisse Männer vor ihnen standen – Keigo und Touya.
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