24. Der Brief
Die Stimmung war nach wie vor unbehaglich, da die Situation zuvor so eskaliert war. Und obwohl Dazai sowohl das Opfer, als auch der Auslöser dieses Vorfalls gewesen war, war er der Einzige, der völlig entspannt wirkte. Atsushi und Chuuya hingegen sah man die Sorge um Misaki noch deutlich an, während diese sich glücklicherweise allmählich zu beruhigen schien. Dieser Tag war ohnehin schon anstrengend genug gewesen, doch der Anfall hatte sie auch noch ihrer letzten Kräfte beraubt und man sah ihr die Erschöpfung deutlich an. Weswegen sie sich einfach zurückgelehnt hatte und erstmal tief durchatmen musste. Die Angst, dass sich dieser Vorfall wiederholen könnte, saß tief und ließ sie nicht mehr los. Sonst hatte sie es immer geschafft diesen unbändigen Hass zu unterdrücken und die Stimme in ihrem Kopf zu ignorieren. Doch dass sie diesmal so kläglich gescheitert war, da sie keine Kraft mehr gehabt hatte, um dagegen anzukämpfen, beunruhigte sie zutiefst. Was wäre, wenn sie erneut so wütend werden und die Kontrolle verlieren würde? Könnten die Drei sie dann erneut aufhalten? Und was wäre, wenn einer von ihnen dabei zu schaden kommen oder sogar… sterben würde? So sehr Misaki auch glauben wollte, dass sie dazu nicht fähig sei, wusste sie es doch besser. Denn all die Zeit, die sie in diesem Labor eingesperrt gewesen war und all das, was ihr dort angetan und zu was sie gezwungen worden war, hatte nun mal deutliche Spuren in ihrem Kopf und ihrer Seele hinterlassen. Sie hatte auch schon länger geahnt, dass es bloß eine Frage der Zeit war, bis sie diesem Hass unterliegen und jegliche Gegenwehr zwecklos sein würde. Doch sie hatte gehofft, dass dann, wenn es soweit war, niemand bei ihr sein würde oder zumindest niemand, den sie besonders mochte. Doch nun hatten die ihr wichtigsten Menschen gesehen, wie es um ihre mentale Stabilität stand und dass selbst sie nicht vor Misaki sicher wären, sollte sie erneut so einen Anfall haben. Zwar hielt niemand von ihnen Abstand und vor allem Dazai schien es nichts auszumachen, aber sie hatte dennoch Angst, dass nun alles anders sein würde. Dass das Vertrauen zwischen ihnen darunter leiden und geschwächt werden würde – denn sie könnte diese Reaktion nachvollziehen.
Als Misaki schließlich aufstand, um den Raum zu verlassen und dieser erdrückenden Stimmung zu entkommen, wurde sie jedoch vorsichtig am Handgelenk festgehalten. Es überraschte sie und dennoch musste sie sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, wer sie soeben aufhielt. Denn sie kannte das Gefühl, wenn er sie berührte und die Wärme, die von seiner Hand ausging. Atsushi musste wohl bemerkt haben, wie schlecht sie sich fühlte und wollte offensichtlich nicht, dass Misaki sich alleine damit quälte. Jedoch wollte sie einfach für sich sein, um über alles nachzudenken und niemanden zu belästigen. Und als sie sich umdrehte, um dem Weißhaarigen genau das zu sagen, zog er sie einfach in eine feste Umarmung und streichelte erneut sachte über ihren Hinterkopf. Er hatte ihr die Schuld und Angst deutlich angesehen, denn er kannte diesen Ausdruck und diese Gefühle selbst zur genüge. Atsushi verstand auch, weshalb sie gehen wollte, doch er wusste ebenso, dass sie gerade etwas oder jemanden brauchte, der ihr Halt gab. Denn sie waren sich in dieser Hinsicht ziemlich ähnlich und deshalb konnte er sich gut vorstellen, was in ihrem Kopf vorging. Und auch wenn Misaki anfangs hatte entfliehen wollen, änderte sich dies sobald der Weißhaarige sie in die Arme geschlossen und sie zögerlich dasselbe getan hatte. Denn da war ihr bewusst geworden, dass es genau das war, was sie gerade brauchte. Sie konnte seinen Herzschlag hören und seine Wärme spüren, was sich nach und nach beruhigend auf sie auswirkte. Die beiden vergaßen in diesem Moment alles um sich herum, sogar, dass sie eigentlich nicht alleine waren. Denn Chuuya und Dazai beobachteten diese Szene schweigend, wobei einer der beiden um ein vielfaches amüsierter wirkte, als der andere.
Schlussendlich wandten jedoch beide ihren Blick ab, wobei der des Braunhaarigen auf dem Boden verharrte, wo er einen Brief entdeckt hatte. Er hob diesen ohne zu zögern auf und als er die rote Feder sah, die an dem Umschlag befestigt war, wusste er auch sofort, woher dieser stammen musste. Der Brief musste Misaki irgendwann aus ihrer Jackentasche gefallen sein und sie wusste offenbar nicht einmal, dass sie ihn besaß. Denn Dazai wusste, dass sie es sonst sofort erwähnt hätte. Viel wichtiger war allerdings, was in diesem wohl stehen würde. Jedoch hatte er schon das ungute Gefühl, dass es nichts sonderlich Positives sein würde. War es womöglich eine Drohung, mit der sie zur Rückkehr ins Labor gezwungen werden sollte? Oder doch eher ein Köder, mit dem sie angelockt werden sollte? Was auch immer es war, es würde definitiv auf eine Falle hinauslaufen - also dürfte man dieser Nachricht nicht ohne weiteres trauen und musste ebenso vorsichtig mit ihr umgehen. Und auch, wenn der Braunhaarige den Brief am liebsten zuerst selbst gelesen hätte, entschloss er sich doch, dies ausnahmsweise nicht zu tun.
„Misaki-chan, du hast da offensichtlich etwas verloren“, sagte er lächelnd, während er ihr den Umschlag entgegenhielt.
„Was? Aber woher- Oh, verdammt! Deswegen hat dieser komische Vogel bloß mit uns gespielt, weil er mir diesen Brief zustecken wollte… so ein verdammtes Arschloch!“, fluchte sie genervt, während sie ihn entgegennahm und die daran befestigte Feder wuchtig auf den Tisch ablegte.
Indessen Misaki sich hinsetzte und zuerst den Umschlag genauestens untersuchte, wartete vor allem Chuuya skeptisch darauf, dass sie diesen öffnen und lesen würde. Denn sobald er die rote Feder gesehen hatte, wusste er, dass es nichts gutes verheißen konnte. Auch der Rothaarige hatte die selben Gedanken, die Dazai bereits zuvor gehabt hatte. Immerhin schrie ein Brief, den man von einem Feind bekommen hatte, schon praktisch nach einer Falle. Doch er hoffte auch, dass Misaki diesem nicht einfach blind glauben würde. Sie hatte schon oft genug bewiesen, dass sie viel schlauer war, als man zunächst vermutet hatte. Das war etwas, was sie mit dem Braunhaarigen gemeinsam hatte, insofern sie sich nicht zu sehr von ihren persönlichen Gefühlen leiten ließ. Denn dadurch wurde sie leichtsinnig und dachte zumeist auch nicht mehr an ihr eigenes Leben, welches sie dann einfach aufs Spiel setzte.
Als Misaki den Briefumschlag vorsichtig aufriss, befand sich darin bloß ein Blatt Papier, welches zusammengefaltet war und eine kleine Karte, auf der eine Telefonnummer stand. Letzteres packte sie vorerst wieder zurück in den Umschlag, ehe sie den Zettel aufklappte und begann die Nachricht zu lesen. Und kaum hatte sie die wenigen Zeilen, die darauf standen, gelesen, verkrampften sich ihre Hände und ihre Augen weiteten sich schockiert. Ihr Blick blieb dabei starr auf diese Botschaft gerichtet, fast so, als ob sie einfach eingefroren wäre. Doch als der Brief schließlich aus ihren zitternden Händen und zu Boden fiel, senkte Misaki beinahe zeitgleich ihren Kopf. Vereinzelte Tränen tropften immer wieder auf das Papier, welches nun zu ihren Füßen lag, während sie unverständlich leise etwas zu flüstern begann. Je öfter sie das geflüsterte jedoch wiederholte, desto lauter und verständlicher wurde es.
„Nein, das kann nicht wahr sein. Das muss eine verdammte Lüge sein…“
Die drei Männer tauschten einen verwirrten Blick untereinander aus, ehe Chuuya den Brief eilig aufhob und ihn, nachdem er die Nachricht gelesen hatte, zischend an Dazai weiterreichte. Er warf ebenfalls einen Blick auf die wenigen Zeilen und nun konnte auch er Misakis Worte nachvollziehen. Der Braunhaarige hörte zwar den Unglauben in ihrer Stimme, doch ihre allgemeine Reaktion wies eher auf das Gegenteil hin. Natürlich wollte sie diese Worte glauben und konnte in diesem Fall nicht logisch denken – das war verständlich. Jedoch stand eines außer Frage und zwar, dass es eindeutig ein Köder war, welcher sie anlocken sollte und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, war es gleichzeitig auch eine Erpressung. Ganz so, wie er es vermutet hatte.
》Meine kleine B1511,
es ist ziemlich bedauerlich, dass du dich so strikt dagegen wehrst, nach Hause zu kommen. Doch vielleicht kann ich dir etwas anbieten, was dich überzeugt. Du wusstest vermutlich noch nicht, dass dein kleiner Freund, den du immer A genannt hattest, noch am Leben ist? Wenn du ins Labor und zu mir zurückkehren solltest, dann könntest du ihn wiedersehen. Du solltest deine Wahl also gut überdenken, bevor du dich entscheidest und ihn womöglich doch für immer verlierst.
Vater《
Atsushi, der noch immer völlig ahnungslos war, setzte sich nun neben den Braunhaarigen, um den Brief ebenfalls lesen zu können. Doch als er das getan hatte, sah er ebenfalls ziemlich schockiert aus. Er konnte einfach nicht fassen, wie grausam dieser Mann war. Nach all dem, was er Misaki bereits angetan und genommen hatte, wollte er ihr jetzt bloß Hoffnung schenken, um sie damit erpressen zu können. Denn allein die Möglichkeit, dass diese Nachricht wirklich der Wahrheit entsprechen könnte, würde sie zum Handeln zwingen und das wusste dieser Mann. Jedoch würde keiner der Anwesenden sie einfach gehen lassen, falls sie tatsächlich dieser Forderung nachkommen wollen würde. Nicht nur, weil es viel zu gefährlich und riskant wäre, sondern auch, weil niemand wissen konnte, ob diese Botschaft bloß eine Lüge war. Allerdings war dem Weißhaarigen ebenso bewusst, dass Misaki alles daran setzten würde, um den Menschen, der für sie wie ein Bruder war, zu retten und zu beschützen. Er würde an ihrer Stelle nämlich genau dasselbe tun und konnte es daher zwar nachvollziehen, aber dennoch nicht zulassen.
Als Atsushi das Papier wieder zusammengefaltet und anschließend auf den Tisch gelegt hatte, wanderte sein Blick zuerst zu Dazai. Dieser starrte, mit einem angestrengten Gesichtsausdruck und verengten Augen, in die Ferne. Währenddessen versuchte Chuuya, Misaki zumindest ein bisschen zu beruhigen – jedoch leider vergeblich. Denn in ihr brodelten gerade so viele Emotionen auf einmal, dass sie das Gefühl hatte, gleich zusammenzubrechen. Einerseits wusste sie natürlich, dass es auch einfach eine Lüge sein konnte und war misstrauisch. Doch andererseits hoffte sie inständig, dass es die Wahrheit war und wollte es deshalb unbedingt glauben. Es war ein erbitterter Kampf, zwischen ihrem Verstand und ihrem Herzen. Doch was würde schlussendlich siegen? Die Stimme der Vernunft oder doch der Hoffnungsschimmer?
Misaki setzte sich mit angewinkelten Beinen auf den Boden und lehnte ihren Rücken gegen die Sitzlandschaft, während sie den Brief erneut zur Hand nahm und ihn immer und immer wieder aufs Neue las. Ihre Augen waren rötlich, etwas geschwollen und brannten fürchterlich. Auch wenn ihre Tränen mittlerweile bereits versiegt waren, spürte sie dennoch diesen Kloß in ihrem Hals, der ihr das Atmen erschwerte. Sie wusste natürlich auch, dass Chuuya und Atsushi sie genau beobachteten. Denn Misaki kannte die beiden schon gut genug und konnte ihre besorgten Blicke daher beinahe fühlen. Doch sie war froh, dass momentan niemand etwas dazu sagte oder allgemein mit ihr sprach. In diesem Augenblick wollte sie bloß in Ruhe nachdenken. Sowohl über diese Nachricht, als auch über ihre nächsten Schritte und Worte. Denn sie hatte tatsächlich schon einen Einfall und eine Art Plan im Sinn, doch sie wusste, dass vor allem der Hutträger diesem nicht zustimmen würde. Ganz zu schweigen davon, dass auch der Weißhaarige dagegen sein und es nicht zulassen würde. Ihre einzige und beste Chance war es daher, Dazai zu überzeugen und ihn auf ihre Seite zu ziehen. Denn er könnte die beiden bestimmt irgendwie überzeugen oder ihr zumindest helfen, falls Chuuya es dennoch nicht erlauben würde. Doch dafür musste Misaki ihre Worte mit bedacht wählen und genau überlegen, wie sie diese formulierte. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass der Braunhaarige sie einfach ansprechen würde, während sie noch darüber nachdachte.
„Misaki-chan, was möchtest du wegen des Briefes unternehmen? Dir kam doch bestimmt schon eine Idee, die du uns mitteilen willst, oder?", fragte er interessiert und schmunzelte dabei wissend.
„Ich… also ich denke, dass wir diese Nachricht auch zu unserem Vorteil nutzen könnten. Denn wenn ich dieser Forderung nachkommen und im Labor Chaos verursachen würde, dann wären auch die Wachen im Inneren abgelenkt und ihr könntet leichter hinein gelangen. Um die wenigen, die sich außerhalb befinden, müsstet ihr euch allerdings zuvor selbst kümmern. Danach-", sprach sie voller Überzeugung, bis sie unterbrochen wurde.
„Vergiss es! Wir schicken dich doch nicht alleine vor, das ist viel zu riskant und eine wirklich dumme Idee! Dabei könnte viel zu viel schiefgehen. Du denkst bloß an diesen A und lässt deine eigene Sicherheit dabei völlig außer Acht. Erkennst du denn nicht, wie leichtfertig du dein Leben immer wieder aufs Spiel setzt?“, fragte Chuuya aufgebracht.
„Natürlich geht es auch um ihn, aber siehst du nicht, dass es ebenso eine gute Chance ist?! Wie wollt ihr denn sonst so einfach in das verdammte Labor kommen?!“, gab sie schroff zurück.
Auch wenn Misaki ihren Tonfall gegenüber dem Rothaarigen im Nachhinein ein wenig bereute, zeigte dieser auch, wie ernst es ihr war. Sie hatte ohnehin gewusst, dass er dagegen sein würde, aber es frustrierte sie dennoch. Genau wie bei Atsushi, der ihr zwar sagte, dass er sie verstehen konnte, aber ihren Plan – aus den selben Gründen wie Chuuya – nicht unterstützen würde. Und auch ihm antwortete sie daraufhin in einem ziemlich schroffen Ton, welcher den Weißhaarigen umgehend verstummen ließ. Irgendwie tat es ihr auch leid, aber für sie fühlte es sich so an, als ob die beiden sie im Stich lassen würden. Misaki wusste zwar eigentlich, dass sie sich bloß Sorgen machten und es nicht böse meinten, aber gerade wollte sie bloß ihre Unterstützung – welche sie jedoch nicht zu bekommen schien. Dennoch würde sie in dieser Situation nicht locker lassen und so lange argumentieren, bis zumindest Dazai ihr zustimmte. Denn dieser hatte sich bis jetzt noch nicht dazu geäußert, sondern bloß alles stumm beobachtet – als ob er auf etwas bestimmtes warten würde. Währenddessen wurde die Diskussion zwischen Chuuya und Misaki jedoch immer hitziger und vor allem lauter, denn keiner der Beiden wollte in dieser Sache nachgeben. Der Rothaarige betonte immer wieder aufs Neue, wie leichtfertig und gefährlich ihr Plan doch war, während sie ihm unbedingt vermitteln wollte, dass es dennoch ihre beste Chance war. Natürlich wollte sie auch unbedingt nach A suchen, falls dieser wirklich noch lebte, aber sie hatte sich ebenso Gedanken gemacht und alles halbwegs durchdacht. Denn sie selbst wusste wohl am besten, wie durchtrieben der Leiter des Labors sein konnte und zu was er fähig war. Immerhin hatte sie ihr Leben lang nur dank dieses Mannes gelitten und auch er war derjenige, der ihr alles genommen und sie zu einem Monster gemacht hatte. Das alles war seine Schuld und deswegen musste er auch dafür büßen, so wie all die anderen Mitarbeiter, die ihr Leid zugefügt und nichts unternommen hatten. Sie mussten sich ihren Schandtaten stellen und zur Rechenschaft gezogen werden – jeder einzelne von ihnen.
„Ich bin für dich verantwortlich und du bist meine Untergebene, also wirst du verdammt nochmal gehorchen! Ich hatte dir schon einmal erklärt, wie es bei der Mafia läuft und dass du bestraft wirst, wenn du dich nicht daran hältst. Also Schluss mit den Widerworten!“, befahl Chuuya drohend.
„Egal was du tust, es kann nicht schlimmer sein als all das, was ich schon ertragen musste. Also los, dann bestrafe mich!“, forderte sie mit erhobener Stimme.
„Misaki-chan, bitte beruhige dich. Wir finden bestimmt eine Lösung, die-", sagte Atsushi so ruhig er konnte, ehe er unterbrochen wurde.
„HALT DICH DA RAUS! DU BIST AUCH NICHT BESSER ALS ER! IHR VERSTEHT MICH BEIDE NICHT UND BEHANDELT MICH WIE EIN KLEINES KIND!“
Während Misaki dies voller Zorn schrie, verfärbten sich ihre Augen erneut in ein leuchtendes Rot. Doch diesmal reagierte Dazai sofort. Denn er packte unverzüglich ihr Handgelenk und nachdem ein helles, bläuliches Licht erstrahlt war, schien sie sich wieder etwas zu beruhigen. Zumindest konnte der Braunhaarige ihren ruhiger werdenden Puls deutlich fühlen, ehe er ihr Handgelenk wieder freigab. Dennoch konnte man an ihrem Gesicht überdeutlich erkennen, wie frustriert und wütend sie immer noch war. Sie biss sich sogar fest in die Unterlippe, um den Streit nicht erneut anzufachen. Stattdessen zischte Misaki bloß, ehe sie sowohl die Nachricht, als auch den Umschlag an sich nahm und ohne ein Wort zu verlieren ging. Das Letzte, was man noch hörte, war, wie sie ihre Zimmertür hinter sich kraftvoll ins Schloss warf und anschließend gegen diese schlug.
Atsushi stand bloß mit einem schockierten Gesichtsausdruck da, denn es war das erste Mal gewesen, dass Misaki ihn angeschrien hatte. Er wusste zwar, dass es bloß aus Wut und Frustration gewesen war, aber ihre Worte verletzten ihn dennoch. Jedoch schmerzte es umso mehr, dass sie sich offensichtlich nicht verstanden und allein gelassen fühlte. Dabei wollte der Weißhaarige sie doch bloß beschützen und zwar so gut er konnte, genau wie Chuuya. Bloß dass dieser es auf die harte Weise versucht hatte, während er selbst das Gegenteil bevorzugte – zumindest solange es möglich war. Doch in diesem Fall hatte weder das Eine, noch das Andere ihnen irgendwie weitergeholfen. Es hatte bloß bewirkt, dass Misaki sich zurückgezogen hatte und auch wenn Atsushi am liebsten sofort zu ihr gegangen wäre, wusste er, dass sie ihn und den Rothaarigen jetzt nicht sehen wollen würde. Er wollte die Lage immerhin nicht auch noch verschlimmern, indem er ihr keinen Freiraum und Zeit zum Durchatmen ließ.
Auch Chuuya lief Misaki nicht hinterher und leerte sein Weinglas erstmal in einem Zug, ehe er sich schwer seufzend auf die Sitzlandschaft setzte. Einerseits, weil sie beide noch viel zu aufgebracht waren und es so nur erneut zu einem Streit führen würde. Anderseits aber auch, weil er nicht wusste, was er tun oder zu ihr sagen sollte. Es war bisher nie vorgekommen, dass sie – oder gar einer seiner anderen Untergebenen – ihm gegenüber so laut und respektlos gewesen war und zusätzlich hatte sie sich ihm wiederholt widersetzt. Diesmal würde sich eine härtere Strafe nicht vermeiden lassen, obwohl der Rothaarige dies höchst ungern tat. Jedoch hatte er Misaki ohnehin schon mehr durchgehen lassen, als seinen anderen Untergebenen und sie nie richtig ernsthaft bestraft. Nach allem, was sie schon durchgemacht hatte, hatte er zumindest gehofft, dass es nie soweit kommen würde und doch war dieser Fall nun eingetreten. Hatte Chuuya vielleicht tatsächlich – wie Mori es ausdrücken würde – die Leine etwas zu locker gelassen und diese Situation damit irgendwie heraufbeschworen?
„Der Plan von Misaki-chan ist eigentlich richtig gut, nur hat sie ihn noch nicht weit genug durchdacht. Ich habe die ganze Zeit intensiv darüber nachgedacht und finde, dass sie Recht hat“, sagte Dazai, während er noch immer in die Ferne blickte.
„Dass du so etwas Idiotischem auch noch zustimmen würdest, hätte mir bewusst sein müssen. Ich habe keine Lust, mich auch noch mit dir zu streiten. Du kennst sowohl meine Meinung dazu, als auch meine Meinung zu dir und deinen Ansichten. Also verschwinde einfach, Makrele!“, fauchte Chuuya entnervt, ehe er aufstand und in Richtung seines Schlafzimmers verschwand.
„Und dir ist innerlich bewusst, dass diese Taktik eigentlich gut ist, aber dein Schneckenhirn braucht länger, um das vollständig zu begreifen", säuselte er vergnügt.
„HALT DOCH EINFACH DEINE KLAPPE UND VERSCHWINDE ENDLICH!“
Nachdem Chuuya das geschrien hatte, warf er seine Schlafzimmertür schwungvoll ins Schloss und stampfte wütend auf sein Bett zu. Natürlich musste Dazai ihn selbst jetzt noch provozieren, wenn er eigentlich schon keine Nerven mehr übrig hatte. So war es doch schon immer gewesen und sein ehemaliger Partner würde sich wohl auch nie ändern. Doch… er hatte mit seiner letzten Aussage nicht ganz Unrecht, denn der Rothaarige wusste tatsächlich, dass diese Taktik an sich nicht schlecht war. So etwas ähnliches hatten sie nämlich vor langer Zeit, bei dem Drachenkopfkonflikt, schon einmal durchgeführt. Damals war es allerdings der Braunhaarige selbst gewesen, der gefangengenommen und anschließend von Chuuya gerettet worden war. Und auch danach hatten sie diese Vorgehensweise des Öfteren benutzt, ohne einen erheblichen Nachteil daraus zu ziehen. Jedoch bestand zwischen Dazai und Misaki dennoch ein großer Unterschied.
Der Rothaarige fluchte innerlich, während er sich auf sein Bett setzte. Denn er verstand nun, dass Dazai ihn mit seiner letzten Aussage nicht bloß provozieren wollte. Er hatte genau gewusst, dass dieser eine Satz Chuuya zum Nachdenken verleiten und seine Meinung ins Wanken bringen würde. Auch nach all der Zeit und allem, was vorgefallen war, kannte der Braunhaarige ihn dennoch am besten und wusste, wie er ihn beeinflussen konnte. Letzteres hatte Dazai auch schon geschafft, bevor sie sich richtig kannten. Doch umso näher sie sich gekommen waren und je tiefer ihre Verbindung zueinander dadurch geworden war, desto mehr Einfluss hatte er schließlich auf den Rothaarigen gehabt. Das letzte und entscheidendste Ereignis, welches zu ihrer tiefen Verbindung geführt hatte, hatte an Chuuyas siebzehnten Geburtstag stattgefunden. Diese Nacht und das Versprechen, dass sie sich gegeben hatten, hatte einfach alles verändert. Und auch, wenn keiner von ihnen es jemals laut ausgesprochen hatte, wussten sie dennoch, was sie dem jeweils anderen bedeutet hatten.
Selbst jetzt gab es immer wieder Momente, in denen der Rothaarige daran zurückdachte. So wie in diesem Augenblick, während er das Bild von ihnen aus seinem Notizbuch holte und mit einem wehmütigen Lächeln betrachtete.
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