22. Das Spiel des Falken

Die bewaffneten Männer kamen langsam auf sie zu und rieten ihnen, sich nicht zu wehren  und friedlich zu kooperieren. Denn dann würde niemand verletzt werden und sie würden sich ebenso eine Menge Ärger ersparen. Misaki überlegte indessen jedoch angestrengt, wie sie einem Kampf entgehen und flüchten konnten. Doch solange sie nicht an Wänden hochlaufen konnten, würde es sich wohl nicht vollständig verhindern lassen. Und selbst wenn sie kämpften, käme immer wieder Verstärkung und diese würde die beiden so lange beschäftigen, bis sie am Ende ihrer Kräfte waren. Auch auf Chuuya und Dazai konnten sie momentan nicht bauen, da diese nichts von ihrer Situation wussten, oder wo genau sie sich befanden. Misaki wollte auch nicht, dass Atsushi ebenfalls mitgenommen wurde und dann ähnliche Qualen durchleiden müsste, wie es bei ihr der Fall gewesen war. Das wollte sie ihm auf jeden Fall ersparen – um jeden Preis. Denn sie könnte es einfach nicht ertragen, wenn noch jemand durch diese Hölle gehen musste und sie dadurch erneut einen Menschen verlieren würde, der ihr viel bedeutete. Es war schon schlimm genug, dass Misaki bereits die zwei wichtigsten Personen genommen worden waren. Daher schwor sie sich, dass sie alles dafür tun würde, damit dies nie wieder passieren konnte. Selbst wenn das bedeuten würde, dass sie ihre Freiheit dafür opfern musste. Denn es war für sie nur ein kleiner Preis, den sie gerne bezahlen würde, solange sie den Weißhaarigen dadurch beschützen konnte.
 
„Halt, wartet! Ich komme freiwillig mit, aber… lasst ihn gehen. Er hat nichts damit zu tun, also haltet ihn da raus!“, sagte sie mit ernstem Blick und geballten Fäusten.
 
Atsushi konnte nicht glauben, was er da soeben gehört hatte. Sie wollte ihre Freiheit opfern und das… für ihn. Es rührte ihn zwar, wie weit Misaki für ihn gehen würde, aber er konnte und wollte das nicht zulassen. Der Weißhaarige hatte immer wieder gesehen, wie sehr sie selbst heute noch allein unter den Erinnerungen litt und würde sie nichts davon erneut durchleben lassen. Er musste sie beschützen und hier rausbringen – egal wie – und tatsächlich hatte er sogar schon eine Idee, wie er das schaffen konnte. Jedoch blieb ihm keine Zeit, Misaki etwas davon mitzuteilen und es war vermutlich ohnehin besser, wenn er einfach handeln würde. So käme es zwar auch für sie überraschend, aber ebenso für ihre Feinde und selbst die wenigen Sekunden, die ihnen dadurch verschafft wurden, waren wertvoll. Immerhin musste Atsushi auch auf alles gefasst sein, da diese Männer Schusswaffen bei sich trugen und er nicht wusste, ob und welche Fähigkeiten sie besaßen. Falls er selbst eine Wunde erleiden sollte, wäre dies nicht so schlimm, da es schnell wieder heilen würde. Jedoch traf dies nicht auf Misaki zu und er wollte unbedingt vermeiden, dass sie verletzt wurde. Doch bevor der Weißhaarige zur Tat schreiten konnte, musste er sie noch etwas fragen. Dadurch könnte sie sich, wenn auch nur minimal, auf das folgende einstellen.
 
„Misaki-chan, würdest du mir nur dieses eine Mal blind vertrauen?“, fragte er bittend.
 
„Ich würde dir jederzeit und ohne zu zögern mein Leben anvertrauen, also ja!“, antwortete sie lächelnd und ohne zu zögern.
 
Misaki wusste zwar nicht, was er vorhatte, aber ein Blick in seine Augen hatte ihr genügt, um jeden Zweifel zu verlieren. Und es war ebenso die beste Antwort, die Atsushi sich hätte wünschen können. Denn sie vertrieb auch jeden seiner Zweifel und machte ihm zusätzlich Mut. Ohne weitere Zeit zu verlieren aktivierte er seine Fähigkeit, sodass er nun seine halb Mensch und halb Tiger Form annahm. Dies schien nicht nur Misaki zu überraschen, denn auch die bewaffneten Männer wichen erstaunt einen Schritt zurück. Ihr Anführer – der noch immer an einer Mauer lehnte – beobachtete dieses Spektakel jedoch weiterhin unbeeindruckt und wies sie an, sich nicht wie Feiglinge zu verhalten. Jedoch hatte der Weißhaarige Misaki im Bruchteil weniger Sekunden einfach geschnappt, war mit ihr zwischen den Mauern hin und her gesprungen und schlussendlich auf dem Dach eines Gebäudes gelandet.
Als Atsushi sie schließlich wieder absetzte und sie den festen Boden des Daches unter den Füßen fühlte, zitterte sie vor Aufregung. Bevor sie überhaupt hätte nachdenken oder reagieren können, waren sie nämlich bereits auf dem Dach angekommen und sie war deshalb außerordentlich beeindruckt. Sie war zwar schon einmal unfreiwillig geflogen und auch Chuuya war mit ihr auf den Armen schon ziemlich weit gesprungen, doch die Geschwindigkeit des Weißhaarigen hatte gerade beides übertroffen. Dennoch blieb ihnen keine Zeit, um zu verschnaufen. Immerhin könnten hier in der Umgebung noch weitere Feinde lauern und sie wussten auch nicht, ob die Männer aus der Gasse ihnen irgendwie folgen konnten. Weswegen Atsushi auf die Knie ging und Misaki anwies, dass sie aufsteigen und sich festhalten solle. Auch wenn er sie ungern dazu drängen wollte, war dies dennoch die beste Lösung für ihr Problem. Denn wenn er sie huckepack tragen und einfach von Dach zu Dach springen würde, dann würden sie definitiv schneller und einfacher vorankommen. Den selben Gedanken schien sie offensichtlich auch zu haben, denn sie schlang ohne zu zögern ihre Arme um seinen Hals und hielt sich fest. Der Weißhaarige hingegen platzierte seine Pranken äußerst vorsichtig unter ihren Oberschenkeln, um sie nicht ausversehen zu verletzen. Danach begann er, in einem schnellen Tempo, von einem Dach zum nächsten zu springen.
Es waren erst wenige Minuten vergangen und sie hatten schon ungefähr die Hälfte des Rückwegs geschafft, als Atsushi plötzlich gezwungen war anzuhalten. Vor ihnen war etwas in das Dach eingeschlagen, was sich bei näherer Betrachtung als rote Feder herausstellte. Die beiden waren schockiert und fragten sich, wie eine Feder sowas anrichten konnte. Woraus bestand diese bloß, dass sie solchen Schaden anrichten konnte? Sie sah so weich aus, doch offensichtlich war sie härter und hielt viel mehr aus, als man auf den ersten Blick vermuten würde.
Misaki richtete ihren Blick nach oben in den bewölkten Himmel und sah dort jemanden fliegen. Es war der Mann, der sie auch damals am Strand hatte entführen wollen und gleichzeitig der Schuldige, der für den Vorfall mit Chuuya verantwortlich gewesen war. Der Schwarzhaarige Mann, der sein Partner war, musste ihn gerufen haben. Ihr hätte von Anfang an klar sein müssen, dass das passieren könnte. Doch sie war von der Geschwindigkeit des Weißhaarigen viel zu abgelenkt gewesen und hatte es deshalb bedauerlicherweise nicht bedacht. Die beiden hatten ihn nicht einmal gehört oder anderweitig bemerkt, obwohl er eigentlich nicht gerade unauffällig war.
Misaki empfand einen brennenden Hass, der ihren Puls rasen ließ und ihr das Atmen erschwerte, als sie ihn erblickte. Abgesehen von seinen großen, roten Schwingen würde sie auch sein freches und provokantes Lächeln jederzeit wiedererkennen. Es hatte sich – genau wie all seine Worte und seine Stimme – tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie hätte irgendwie damit klarkommen können, wenn er bloß auf sie fixiert gewesen wäre. Doch dass er Chuuya mit hineingezogen und ihn damit beinahe getötet hatte, konnte sie ihm nicht verzeihen. Und nun hatte er dasselbe vermutlich auch mit Atsushi vor, bloß um sie zu erwischen. Also, was sollten sie nun tun? Der geflügelte Mann war viel schneller, als die vorherigen, die bloß bewaffnet gewesen waren. Vor ihm zu flüchten war beinahe unmöglich, zumindest dann, wenn sie nicht kämpfen wollten.
 
„Atsushi-kun, lass mich runter“, sagte sie mit vor Wut bebender Stimme.
 
„Was? Wieso? Wir müssen doch schnellstmöglich weg!“, beharrte er etwas unsicher.
 
„Bei ihm lässt sich ein Kampf nicht vermeiden und ich denke, dass du das auch selbst weißt. Wenn wir also entkommen wollen, dann müssen wir ihn daran hindern, uns folgen zu können", erwiderte sie schroff.
 
Es war eigentlich nicht Misakis Absicht gewesen, gemein gegenüber Atsushi zu sein. Doch sie konnte sich vor lauter Wut und Hass gerade einfach nicht beherrschen. Der Weißhaarige wusste allerdings, dass sie es nicht böse gemeint hatte und ließ sie vorsichtig von seinem Rücken absteigen. Keiner der beiden wusste so recht, wie sie ihn am besten bekämpfen sollten. Immerhin konnte er fliegen und da er seine Federn individuell steuerte, konnte er auch problemlos aus der Distanz angreifen und musste sich ihnen kein Stück nähern. Atsushi könnte zwar definitiv hoch genug springen, aber selbst dann würde der Mann bestimmt einfach ausweichen und ihn dabei sicherlich angreifen. Sein Spielfeld und seine Möglichkeiten waren schlichtweg größer, als die ihren. Noch dazu wussten sie nicht, was er alles mit seinen Federn anstellen konnte. Doch selbst wenn sie klar im Nachteil waren, mussten sie es irgendwie schaffen. Sie hatten auch keine andere Wahl.
Als Misaki gerade ihr Messer gezogen hatte, womit sie sich in die Handfläche schneiden wollte, kam eine Feder von hinten angeflogen  und entwendete es ihr blitzschnell. Sie sah dieser überrascht hinterher, da sie nicht damit gerechnet hatte, dass die Federn auch noch biegsam waren. Der Mann kicherte daraufhin bloß, während er die beiden – mit vor der Brust verschränkten Armen – aus der Luft beobachtete.
 
„Weißt du, kleine B1511, ich könnte dich mit meinen Federn auch sofort schnappen, aber… wo bliebe denn da der Spaß?“, fragte der Blondhaarige mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen.
 
Misaki zischte bloß und ballte vor Wut ihre Fäuste. Nicht nur, dass er seine Überlegenheit großspurig erwähnte und offensichtlich nur mit ihnen spielen wollte, sondern er nannte sie auch noch bei ihrer Nummer. Sie hasste es. Es war entmenschlichend und demütigend mit dieser Nummer, diesem Code, angesprochen zu werden. Misaki war nicht bloß eine Befähigte, eine Waffe oder gar ein Monster, so wie die Wissenschaftler es immer gesagt hatten. Sie war auch ein Mensch und hatte nun sogar einen richtigen Namen, den sie wunderschön fand und liebte.
Als wäre das alles nicht schon provokant genug, ließ der geflügelte Mann – mit gewissem Abstand – einige seiner Federn um die beiden kreisen. Sie saßen wortwörtlich in der Falle und waren ihm somit ausgeliefert. Doch keiner von beiden dachte auch nur daran, sich deshalb einfach zu ergeben – zumindest nicht kampflos. Misaki musste jedoch eine Verletzung haben, um überhaupt ihre Fähigkeit benutzen zu können und da sie ihr Messer nicht mehr hatte, würde sie eine andere Möglichkeit finden müssen. Sie hatte sogar schon eine Idee, wie es möglich wäre und bat Atsushi deswegen, sie mit einer seiner Krallen zu verletzen. Er zögerte kurz, doch kam ihrer Bitte schließlich doch nach und kratzte über ihre Handfläche. Daraufhin ließ sie unverzüglich das blutrote Katana erscheinen, um zumindest die Federn abwehren zu können, wenn sie schon nicht an den Mann selbst herankam.
Als ob der Blondhaarige bloß darauf gewartet hatte, kreisten seine Federn nun immer schneller um die beiden und es kamen sogar noch einige dazu. Es war beinahe so, als ob sie im Zentrum eines wütenden Bienenschwarms gefangen wären. Immer wieder flogen ein paar der Federn hautnah an ihnen vorbei und hinterließen dabei kleine, nicht allzu tiefe Schnitte in ihrer Haut. Dies bereitete keinem der beiden große Probleme, jedoch zeigte es überdeutlich, dass der geflügelte Mann bloß mit ihnen spielte und sie nicht als Bedrohung wahrnahm. Sie konnten zwar den ein oder anderen Angriff mit Glück abwehren, aber die Federn waren so schnell, dass man ihnen mit bloßem Auge kaum folgen konnte. Daher sah Misaki auch nicht, dass an einer davon ein Brief befestigt war, welcher unbemerkt in ihrer Jackentasche verschwand.
Anschließend löste sich der Schwarm aus Federn auf und die meisten kehrten zu ihrem Besitzer zurück, während ein paar davon jedoch weiterhin wie eine Drohung in der Luft über ihnen schwebten. Misaki verstand diesen Mann einfach nicht, denn wenn er sie doch so leicht fangen könnte, warum tat er es nicht und spielte bloß mit ihnen? Er hatte sie und Atsushi – dessen Wunden bereits geheilt waren – nicht einmal schwer verletzt, als er sie angegriffen hatte und schien dies auch gar nicht vorzuhaben. Dabei könnte der Blondhaarige sie bestimmt auch einfach bewegungsunfähig machen oder sie so treffen, dass sie das Bewusstsein verloren. Was hatte er also vor? Was wollte er damit erreichen? Denn beide waren fest davon überzeugt, dass er dies nicht ausschließlich zu seinem Vergnügen getan hatte. Auch wenn sein allgemeines Auftreten und Verhalten etwas anderes sagten, wirkte er einfach nicht wie jemand, der andere spaßeshalber quälte – nicht so wie Mori.
Als die Federn – die über ihnen geschwebt waren – urplötzlich wieder auf sie zuflogen und die beiden voneinander getrennt wurden, hatte keiner von ihnen genug Zeit, um zu reagieren. Misaki stolperte und wurde von ihnen auf dem Boden fixiert, während Atsushi den Boden unter den Füßen verlor und hoch in die Lüfte getragen wurde. Der geflügelte Mann kicherte bloß vergnügt, während der Weißhaarige wild um sich schlug. Es war bloß eine einzige Feder nötig, um ihn in der Luft zu halten und als er diese mit einer seiner Pranken fortgeschlagen hatte, fiel er in die Tiefe. Er kniff die Augen zusammen und wartete bloß darauf, dass er aufschlagen würde. Allerdings geschah dies nicht und erst als Atsushi seine Augen öffnete, bemerkte er, dass er von dem Blondhaarigen aufgefangen worden war. Dieser hatte ihn am Nacken gepackt und er hing, wie ein kleines Kätzchen, dass man einfach hochgehoben hatte, in der Luft. Sowohl er, als auch Misaki – die bis eben noch panisch seinen Namen geschrien hatte – sahen den Mann geschockt und überrascht an. Der Weißhaarige verstand nicht, weshalb er ihn gerettet hatte. Abgesehen davon, dass ihm ohnehin nicht viel passiert wäre, da er durch seine Fähigkeit immer schnell geheilt wurde, ergab es einfach keinen Sinn. Weshalb er sich dazu entschloss, den Mann einfach direkt zu fragen.
 
„W-Wieso hast du mich gerettet?“
 
„Wirf doch einfach mal einen Blick nach unten. Ich denke nicht, dass du gerne als Häufchen Asche enden würdest und die Kleine will das bestimmt auch nicht", erwiderte er zwinkernd.
 
Als Atsushi seinen Blick nach unten richtete, konnte er direkt auf die Gasse herabsehen, in der der schwarzhaarige Mann von vorhin stand. Er verstand den Blondhaarigen zwar dennoch nicht, aber ihn überkam das Gefühl, dass dieser eigentlich kein schlechter Mensch war. Deshalb nickte er bloß und bedankte sich anschließend, während dieser ihn wieder auf dem Dach absetzte und all seine Federn den Weg zurück zu seinen Flügeln fanden. Misaki war indessen schnell aufgestanden und hatte sich vor den Weißhaarigen gestellt. Auch wenn der geflügelte Mann ihn gerade gerettet hatte, vertraute sie ihm nicht mal ein kleines bisschen. Immerhin konnte dies alles auch bloß eine List sein, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Nach all dem, was er bereits getan hatte, traute sie ihm alles zu. Abgesehen davon gehörte er zum Labor und war für sie schon allein aus diesem Grund nicht vertrauenswürdig. Das konnte man ihr, vor allem wegen ihrer Vergangenheit, auch nicht verübeln.
Der Mann lächelte jedoch bloß, hob beschwichtigend seine Hände und begab sich daraufhin erneut in die Luft. Misaki und Atsushi starrten ihn verwirrt an, da es den Anschein machte, als ob er verschwinden wollen würde. Auch wenn sie wusste, dass es besser wäre still zu sein und schnellstmöglich zu verschwinden, musste sie dennoch etwas sagen. Denn nach allem, was passiert war, erschien ihr das ebenfalls viel zu verdächtig und sie traute dieser Ruhe nicht.
 
„Zuerst prahlst du damit, dass du mich sofort schnappen könntest und jetzt willst du einfach verschwinden?! Da stimmt doch etwas nicht! Es ist doch deine Mission, mich zu fangen, oder nicht?“, schrie sie verständnislos und wütend.
 
„Das muss ich gar nicht. Du wirst schon bald von alleine zu uns kommen", erwiderte er provokant grinsend, während er seine Hände in die Hosentaschen steckte.
 
„Bist du bald mal fertig, Spatzenhirn? Ich habe besseres zu tun, als auf dich zu warten!“, rief der Schwarzhaarige aus der Gasse.
 
„Wenn du mir zur Abwechslung mal geholfen hättest, dann müsstest du nicht warten. Also hör auf dich zu beschweren, du wandelndes Streichholz!“, antwortete er schulterzuckend, während er in der Gasse neben ihm landete.
 
„Meinst du so wie das letzte Mal, als du dich dann beschwert hast, dass deine Federn ein wenig verbrannt waren?“, fragte sein Gegenüber ausdruckslos.
 
„Ein wenig? Das war-", setzte er gerade an, doch wurde sogleich von dem Tätowierten unterbrochen, der seine Lippen auf die des Blondhaarigen presste.
 
Misaki und Atsushi, die das Gespräch der beiden noch belauscht und sie beobachtet hatten, tauschten bloß einen verwirrten Blick aus. Diese zwei Männer erschienen ihnen mehr als seltsam und äußerst rätselhaft, ganz abgesehen davon, dass sie auch ziemlich gefährlich waren. Sie wollten ihr Glück nicht auf die Probe stellen und noch länger lauschen, bloß um vielleicht doch nochmals angegriffen zu werden. Daher beschlossen sie schweigend, dass sie nun schnellstmöglich zurück an den Hafen und anschließend zu Chuuya und Dazai mussten, um ihnen alles zu erzählen. Weswegen der Weißhaarige sie erneut huckepack nahm und so schnell er konnte losrannte.
 
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Chuuyas Augen ruhten noch immer konzentriert auf dem Bildschirm des Laptops, während sein Nebenmann die seinen wieder geöffnet hatte und ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Der Rothaarige konnte förmlich spüren, wie Dazais Blick an ihm haftete und dann war da auch noch die Melodie, welche dieser die ganze Zeit summte. Irgendwie kam sie Chuuya bekannt vor, sie klang so vertraut. Doch er konnte sich einfach nicht daran erinnern, wo er sie schonmal gehört hatte. Sie bereitete dem Rothaarigen eine Gänsehaut, weshalb er sich mit seinen behandschuhten Händen über die freie Haut seiner Unterarme rieb. Jedoch beruhigte sie ihn auch gleichzeitig, denn seine Anspannung schwand von Minute zu Minute immer mehr – dies war deutlich an seiner Haltung und Körpersprache zu erkennen. Ein leichtes Schmunzeln legte sich auf die Lippen des Braunhaarigen, denn er hatte offenbar genau das erreicht, was er wollte. Natürlich wusste er auch, dass Chuuya sich nicht bewusst an diese Melodie erinnern könnte. Immerhin hatte er diese immer nur gesummt, wenn sein ehemaliger Partner geschlafen hatte – ob nun nachts oder nach der Anwendung von Corruption. Sie war fest in seinem Unterbewusstsein verankert, dafür hatte Dazai gesorgt und dahinter steckte auch keine böse Absicht. Es war eher so gewesen, dass der Hutträger oft Alpträume gehabt hatte – vor allem nachdem er Corruption verwendet hatte. Eines Tages hatte der Braunhaarige – indessen sein Partner wieder einen Alptraum hatte – aus reiner Langeweile angefangen, eine zufällige Melodie zu Summen. Er hatte schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass dies eine beruhigende Wirkung auf Chuuya zu haben schien – weswegen er es ab diesem Zeitpunkt immer wieder getan hatte. Und ganz offensichtlich funktionierte es sogar im wachen Zustand, was Dazai natürlich nicht ungenutzt lassen konnte und ziemlich faszinierend fand. Denn jetzt, wo der Rothaarige wieder ganz ruhig war, machte es ihm viel mehr Spaß diesen wieder in Rage zu versetzen und zu provozieren.
 
„Es ist echt niedlich, dass du das Foto all die Zeit aufbewahrt hast. Mein Chibi hasst mich wohl doch nicht so sehr, wie er immer behauptet“, säuselte er.
 
„Ich hasse dich und deine manipulative Art nach wie vor, also bilde dir darauf nichts ein, du verdammte Bandagenverschwendung!“, erwiderte Chuuya genervt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
 
„Natürlich. Mir ist übrigens aufgefallen, dass du auch heute noch diese seidige Bettwäsche verwendest. Ich habe noch nie verstanden, wie du darin schlafen kannst. Dein Geschmack war schon immer allgemein ziemlich scheußlich.“
 
„Das geht dich ohnehin nichts an, da du weder in meinem Schlafzimmer, noch in meinem Bett etwas zu suchen hast. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“, fauchte er wütend.
 
„Ach, wirklich? Also ich habe das ganz anders in Erinnerung, denn damals-", trällerte Dazai vergnügt, bis er unterbrochen wurde.
 
„DAS WAR NOCH BEVOR DU MICH EINFACH IM STICH GELASSEN UND WEGGEWORFEN HAST UND JETZT HALT DIE KLAPPE, DU BASTARD!“
 
Während Chuuya dies schrie, drehte er sich zu seinem ehemaligen Partner um und ihre Blicke trafen sich. Das Lächeln verschwand sofort von Dazais Lippen, als er sah, wie glasig die Augen des Rothaarigen waren. Er hatte ihn zwar provozieren und ärgern wollen, aber war dabei offenbar zu weit gegangen und hatte eine entscheidende Grenze überschritten. Es war nicht die Absicht des Braunhaarigen gewesen, dem Hutträger so sehr zuzusetzen und dennoch hatte er nicht an die Konsequenzen seiner Worte gedacht. In Chuuyas Augen konnte er so viel Wut, Schmerz und Trauer sehen, dass es ihm tatsächlich die Sprache verschlug.
Während Dazai sich nun wieder aufrecht hinsetzte, richtete der Rothaarige seinen Blick auf den Boden. Er wollte ihn einfach nicht mehr ansehen, nicht mehr mit ihm sprechen, nicht mehr in seiner Nähe sein und vor allem nicht mit ihm alleine sein. Der Braunhaarige wollte ihm gerade offensichtlich eine Hand auf seine Schulter legen, doch Chuuya schlug diese schon fort, ehe sie ihn erreichen konnte. Auch seine Berührungen wollte er nicht mehr spüren, denn im Endeffekt war es für Dazai ohnehin nur eines seiner Spielchen. Eines, welches den Hutträger bloß erneut verletzen würde. Denn er glaubte nicht daran, dass sein ehemaliger Partner ihm vielleicht ehrliche Zuneigung zeigen und ihn gar trösten wollte. Nicht nach all dem, was dieser getan hatte.
Als Dazai jedoch plötzlich den Laptop zu sich zog und ihm sagte, dass etwas nicht stimmte, hob er reflexartig seinen Kopf und richtete seinen Blick ebenfalls auf diesen. Der kleine, rote Punkt bewegte sich nämlich äußerst schnell wieder auf den Hafen zu. Allerdings nicht durch die Gassen, sondern… mitten in den Gebäuden? Chuuya fluchte lautstark und sah den Braunhaarigen dabei gleichermaßen wütend, wie auch verwirrt an. Dieser erklärte ihm daraufhin, dass Misaki und Atsushi wohl über die Dächer rannten. Und dass sie deshalb so schnell waren, weil der Weißhaarige seine Fähigkeit einsetzte. Dies beruhigte den Rothaarigen dennoch nicht, denn das musste bedeuten, dass die beiden in Schwierigkeiten steckten. Er sprang sofort auf und wollte sich auf den Weg machen, doch Dazai hatte damit schon gerechnet und hielt ihn an seinem Handgelenk fest. Chuuya befreite sich aus dessen Griff und wollte ihn gerade anschreien, als plötzlich sein Handy klingelte. Er nahm den Anruf an, ohne darauf zu achten, wer am anderen Ende der Leitung war. Doch als er Misakis Stimme hörte, entspannte der Rothaarige sich ein wenig. Zu seiner Erleichterung teilte sie ihm mit, dass sie beide beim Auto angekommen und nun auf dem Rückweg waren. Sie sagte auch, dass sie ihm alles erzählen würde, sobald sie wieder zu Hause war. Denn der Hafen war nicht sehr weit von seinem Apartment entfernt und somit würde es auch nicht lange dauern, bis sie ankommen würde.
Nachdem das Gespräch beendet war, seufzte der Hutträger erleichtert und ließ sich wieder auf die Sitzlandschaft sinken. Auch wenn es offensichtlich Probleme gegeben hatte, war doch alles gut ausgegangen. Zumindest lebten Misaki und Atsushi noch und es hatte auch nicht so geklungen, als ob sie angeschlagen oder gar schwer verletzt wären. Das beruhigte Chuuya ungemein und er war schon gespannt, was die beiden zu berichten hatten.

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