14. Eine Lüge und eine Gemeinsamkeit

Geistesabwesend sah Misaki aus dem Fenster des Autos, nicht merkend, dass Chuuya mit ihr sprach. Ihre Gedanken waren auch viel zu laut, als dass sie ihn hätte hören können. Einerseits dachte sie an Atsushi und dessen traurigen Gesichtsausdruck, als sie gesagt hatte, dass sie mit dem Rothaarigen mitgehen würde. In diesem Moment tat es ihr unglaublich leid, dennoch bereute sie ihre Entscheidung nicht.
Andererseits ging ihr dieser Mann, der sie entführen sollte, nicht mehr aus dem Kopf. Wer war er bloß? Wer war sein Boss und weshalb zahlte dieser viel Geld, nur um sie zu bekommen? Ganz zu schweigen davon, dass sie seinetwegen beinahe ertrunken wäre. Misaki fragte sich, ob Chuuya wohl mehr darüber wissen würde. Als besagter mit seiner Hand vor ihrem Gesicht wedelte, erschrak sie und blickte anschließend in seine genervt funkelnden Augen.

„Hörst du mir eigentlich zu? Ich habe dich etwas gefragt und zwar mehrmals!“, murrte der Rothaarige.

„E-Es tut mir leid, Nakahara-senpai. Ich war in Gedanken“, nuschelte sie und senkte den Kopf.

„Also nochmal, hat diese fliegende Ratte irgendetwas zu dir gesagt?“, fragte er und seufzte anschließend langgezogen. „Und hör auf mich beim Nachnamen zu nennen, Chuuya reicht vollkommen“, fügte er ruhiger hinzu.

Misaki nickte und ein leichtes Lächeln zierte ihre Lippen. Sie war sichtlich erfreut, dass sie ihn nun auch bei seinem Vornamen nennen durfte. Vielleicht würde er, wenn sich die Gelegenheit ergab, auch etwas über sich erzählen. Denn, wenn Misaki ehrlich war, wusste sie rein gar nichts über ihn und das würde sie gerne ändern. Ihr war aber ebenso klar, dass sie dann wohl oder übel auch mehr über sich selbst preisgeben musste. Bei diesem Gedanken wurde ihr etwas mulmig zumute. Auch wenn sie bereits mit Atsushi und Dazai darüber gesprochen hatte, war es dennoch ein schreckliches Thema, über welches sie höchst ungern sprach. Doch für Chuuya; für den Mann, der ihr Leben gerettet hatte, würde sie es ein letztes Mal tun.

„Dieser Mann sagte, dass er von seinem Boss viel Geld bekommt, wenn er mich zu ihm bringt.“

„So etwas dachte ich mir schon, immerhin war das Blutbad, welches du neulich angerichtet hast, nicht gerade unauffällig. Der Kerl wird es bestimmt wieder versuchen, also solltest du stets an meiner Seite bleiben. Zumindest dann, wenn wir im Freien sind. Verstanden?“

Misaki bejahte und richtete ihren Blick anschließend wieder aus dem Fenster. Die Sonne war nun gänzlich verschwunden und der Mond, dessen Licht alles nur spärlich beleuchtete, thronte bereits hoch am Himmel. Vereinzelt sah man noch Menschen, die von der Arbeit kamen, zu dieser aufbrachen oder sich in Bars begaben. Alles in allem war es ziemlich ruhig. Auch im Inneren des Autos war es, abgesehen von dem Lied, welches im Radio lief, still. Die letzte Nacht und der anstrengende Tag, zollten so langsam ihren Tribut. Misakis Augen fielen immer wieder zu und ihr Kopf kippte zur Seite, während sie krampfhaft versuchte wach zu bleiben. Dies entging dem Rothaarigen natürlich nicht und er war froh, dass sie schon fast an ihrem Ziel angelangt waren.

In seinem Apartment angekommen, schickte Chuuya Misaki sofort unter die Dusche und dann ins Bett. Sie könnten auch morgen noch darüber sprechen, was bei der A.D.A alles vorgefallen war. Er musste sowieso Mori anrufen, um ihm vom heutigen Tag und den Ereignissen zu berichten. Innerlich sträubte er sich zwar etwas dagegen, jedoch kam er ohnehin nicht daran vorbei. Also holte er sich ein Glas Wein und wählte dann die Nummer seines Bosses.
Das Telefonat dauerte nicht lange, denn nachdem Chuuya geschildert hatte, was vorgefallen war, forderte Mori einen ausführlichen Bericht und zwar bis spätestens übermorgen. Sein Boss wollte ebenfalls wissen, was bei den Detektiven vorgefallen war und was Misaki ihnen erzählt hatte. Das einzige, was den Rothaarigen verwirrte, war, dass Mori nicht einmal ansatzweise wütend geklungen hatte oder auch nur ein Wort über seinen Ungehorsam verloren hatte. Auch von einer Strafe oder anderweitigen Konsequenzen war nicht die Rede gewesen. Ob er wohl geahnt oder sogar gewusst hatte, dass Chuuya früher oder später so handeln würde? Vermutlich. Doch darüber nachzudenken, wäre bloß verschwendete Zeit. Denn genau wie bei Dazai, wusste man auch bei Mori nie, was in seinem Kopf vorging. Das war eine Sache, die sie gemeinsam hatten und die der Rothaarige hasste, auch wenn es oft ziemlich nützlich gewesen war.
So langsam überkam auch Chuuya die Müdigkeit, doch er sollte noch eine heiße Dusche nehmen, bevor er schlafen ging. Immerhin hatte er heute ins kalte Meer tauchen müssen und würde sich sonst vielleicht noch erkälten. Also trank er den letzten Schluck seines Weins genüsslich aus, ehe er sich unter die Dusche und anschließend ins Bett begab.

Am nächsten Morgen, als die Sonne gerade dabei war aufzugehen, wurde Chuuya von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen. Er stürmte, ungeachtet dessen, dass sein Oberkörper noch gänzlich unbekleidet war, in Misakis Schlafzimmer. Dort fand er sie, zitternd und verschwitzt, auf ihrem Bett sitzend vor. Sie sah noch blasser aus als sonst und ihre Augen waren weit aufgerissen, während sie schwer atmete. Der Rothaarige konnte keinen ersichtlichen Grund dafür sehen und ging einige Schritte auf sie zu, ehe er sie vorsichtig ansprach.

„Was ist los? Ist alles okay?“, fragte er, während er sie ausdrücklich musterte.

Als sie Chuuya erblickte, entspannte Misaki sich sichtlich und fuhr sich mit den Händen über ihr Gesicht. Schon wieder so ein schrecklicher Alptraum, der sich viel zu real angefühlt hatte. Es war immer derselbe und sie wünschte sich, dass das endlich aufhören würde. Doch offensichtlich reichte es nicht, dass sie C ein Mal durch ihre Hände und Fähigkeit hatte sterben sehen. Anscheinend musste sie es in ihren Träumen immer wieder und wieder aufs Neue erleben. Vielleicht war das auch die Strafe und ihre persönliche Hölle, die Misaki für diese Tat ertragen musste. Ihrer Meinung nach hätte sie sogar Schlimmeres verdient.
Auf Chuuyas Frage hin schüttelte sie bloß langsam den Kopf. Misaki hatte kurz überlegt, ob sie es überspielen und lügen sollte, doch das wäre dem Rothaarigen gegenüber nicht fair. Deswegen beschloss sie, einfach die Wahrheit zu sagen. Sie atmete tief durch und richtete ihren Blick auf Chuuya, der sich neben sie setzte. Erst jetzt realisierte Misaki, dass er kein Shirt trug und senkte mit geröteten Wangen den Kopf.

„I-Ich habe über Geschehnisse aus meiner Vergangenheit geträumt und…“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme.

Sie fühlte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten und versuchte diese wegzublinzeln. Obwohl alles in Misaki danach schrie, diese Erinnerungen endlich begraben zu lassen, würde sie sie nochmals hervorholen. Denn sie wollte dem Rothaarigen von ihrer Vergangenheit erzählen, auch wenn es erneut schmerzhaft werden würde. Irgendwie hatte sie sogar die Hoffnung, dass es ihr helfen würde, wenn sie mit ihm darüber sprach.
Chuuya blieb währenddessen still, um ihr Zeit zu geben. Denn er merkte, dass es ihr offensichtlich sehr schwer fiel. Sie hatte ihm nur ein Mal, im betrunkenen Zustand, ein wenig von ihrer Vergangenheit erzählt. Schon da hatte er bemerkt, wie sehr sie das alles quälte. Er selbst konnte sich an nichts erinnern, was vor seinem siebten Lebensjahr geschehen war. An dem Tag, als Chuuya und Arahabaki vollständig miteinander verschmolzen waren, verlor er nicht nur seine Erinnerungen, sondern auch sein vorheriges Leben. Eigentlich war er sogar froh darüber, denn wer wusste schon, ob sein Leben davor nicht auch die reinste Qual gewesen war? Insofern war es wohl das Beste, sich nicht erinnern zu können. Dennoch hatte er schon immer das Gefühl gehabt, dass etwas; dass jemand fehlen würde. Als ob er jemand ganz wichtigen und besonderen ebenfalls vergessen hatte. Ob er sich daran wohl jemals würde erinnern können? Wollte er das überhaupt?
Als Misaki begann von ihrer Vergangenheit zu erzählen, hörte er aufmerksam zu. Sie begann bei ihrer Kindheit und den zwei Freunden, die wie Brüder gewesen waren, wovon einer jedoch verschwunden war. Danach erzählte sie von all den Experimenten und Tests, wie sie zu ihrer Fähigkeit kam, dem harten Training, bis hin zu den schrecklichen Kämpfen. Und schlussendlich sprach sie über den Tag, der ihr diese Alpträume bescherte. Misaki erzählte sogar von dem Versprechen und davon, dass sie all diese Menschen büßen lassen wollte, für das, was sie ihnen angetan und genommen hatten.
Chuuya musste bei ihren Erzählungen einige Male schwer schlucken, denn, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, es schockierte ihn doch sehr. Nun verstand er auch, weshalb sie einerseits so emotional und andererseits so kaltblütig sein konnte. Sie war zu dieser Kaltblütigkeit getrimmt worden, jedoch kämpften sich ihre Emotionen immer wieder hervor, weil sie sich dagegen sträubte. Das musste ein schwerer, innerlicher Kampf sein, den sie Tag für Tag aufs Neue bestritt. Der Rothaarige sah sie zunächst bloß an, da er nicht wusste, was er sagen sollte. Ihm fiel auf, dass sie zitterte und offensichtlich mit ihren Tränen kämpfte. Misaki tat ihm unglaublich leid und er hätte sie gerne aufgemuntert, doch darin war er ziemlich unerfahren. Chuuya wusste weder was er tun, noch was er sagen könnte, damit sie sich zumindest ein klein wenig besser fühlen würde. Eines störte ihn jedoch sehr und zwar, dass sie sich offensichtlich die Schuld dafür gab, was damals passiert war. Dabei war sie diejenige, die eigentlich am wenigsten etwas dafür konnte und dennoch am meisten darunter litt. Der Rothaarige legte eine seiner Hände auf ihre Schulter, woraufhin Misaki ihn mit glasigen Augen ansah.

„Es war nicht deine Schuld und er würde bestimmt nicht wollen, dass du dich selbst so fertig machst", sagte er ruhig.

Bei seinen Worten weiteten sich Misakis Augen und während einzelne Tränen über ihre Wangen rollten, schlich sich dennoch auch ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen. Sie hatte sowas nicht von dem Mafioso erwartet, aber genau wie Atsushi und Dazai, fand auch er im erforderten Moment die richtigen Worte. Dennoch war es bei Chuuya irgendwie anders, den Grund dafür, kannte Misaki allerdings nicht. Sie fühlte es einfach.
Chuuya war von seinen Worten ebenfalls überrascht, denn eigentlich war er niemand, der andere aufmunterte. Doch irgendwie wurde er in Misakis Gegenwart etwas einfühlsamer und entdeckte eine Seite an sich, die er bis dato nicht gekannt hatte. Es wäre gelogen, wenn er behaupten würde, dass es ihn nicht überforderte. Chuuya konnte sich sein Verhalten selbst nicht erklären, doch eines wurde ihm nun bewusst – er mochte sie.
Als Misaki ihre Tränen wegwischte und leise kicherte, hob der Rothaarige fragend eine Augenbraue. Ihr plötzlicher Stimmungswechsel verwirrte ihn, da er keinen ersichtlichen Grund dafür feststellen konnte. Doch mit der Antwort, die sie ihm gab, hatte er nicht gerechnet.

„Nun ja… Es ist nicht so, dass dieser Anblick störend wäre, aber du hast kein Shirt an. Das macht die ganze Situation etwas… komisch, Chuuya-senpai“, sagte sie und kicherte erneut.

„Du… du hast eindeutig zu viel Zeit mit diesem Bastard verbracht!“, knurrte er.

Mit diesem Satz und hochrotem Kopf, stampfte er wütend aus dem Raum, doch Misaki glaubte, dennoch ein leichtes Lächeln gesehen zu haben. Durch seine Reaktion musste sie allerdings erst recht lachen. Sie hätte nicht gedacht, ihn damit so aus dem Konzept bringen zu können. Doch nachdem die Stimmung zuvor so tief gefallen war, hatte sie etwas tun wollen, damit diese sich wieder hob. Es war auf jeden Fall erheiternd gewesen, Chuuya ein wenig zu necken. Anfangs hatte sie noch überlegt, ob es vielleicht zu riskant sein würde, doch dann hatte sie beschlossen, es einfach darauf ankommen zu lassen. Misaki war erleichtert, dass er diese Aussage nicht allzu ernst genommen hatte. Immerhin war er ihr Vorgesetzter und ihr Kommentar war doch etwas frech gewesen. Dennoch hatte sich ihre Laune eindeutig verbessert und es hatte ihr offenbar tatsächlich ein wenig geholfen, Chuuya alles zu erzählen.
Als sie sich kurz darauf im Wohnzimmer gegenüberstanden, entschuldigte sich Misaki dennoch, um ihren Respekt deutlich zu machen. Der Rothaarige winkte dies allerdings nur beiläufig ab, da er in Gedanken war und sie setzten sich gemeinsam auf die große Sitzlandschaft. Da Chuuya erst morgen bei Mori auftauchen musste, hatten sie einen freien Tag und es gab da auch noch das ein oder andere, was er sie fragen musste. Die Warnung, die der geflügelte Mann ihm gegeben hatte, ließ ihm ebenso keine Ruhe. So sehr er auch nachdachte, er verstand diese Aussage einfach nicht. Vielleicht hatte der Mann ihn auch bloß verunsichern wollen, sollte dies jedoch nicht der Fall sein, dann musste er definitiv wissen, was dahintersteckte.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, fragte Chuuya sie direkt nach den Geschehnissen bei der A.D.A. Misaki hinterfragte dies nicht und berichtete ihm sofort von dem Angriff, bei dem sie gekämpft hatte und von all den Fragen, die sie ihr gestellt hatten. Dabei erwähnte sie auch, dass sie dem Rothaarigen ohnehin schon alles erzählt hatte, was die Detektive ebenfalls wussten. Abgesehen davon, dass sie ihnen gegenüber das Versprechen nicht erwähnt hatte. Darüber wusste bloß Chuuya Bescheid und sie hatte auch nur ihm – ausführlich – von dem schrecklichen Tag erzählt. Anschließend sprach sie noch darüber, dass sie durch Atsushi herausgefunden hatte, wie vielseitig ihre Fähigkeit eigentlich war. Der Hutträger hatte sich auch schon Gedanken darüber gemacht, ob sie wohl mehr aus ihrem Blut formen konnte, als bloß ein Katana. Da er nun wusste, dass es funktionierte, würde er mit Misaki daran arbeiten und auch herausfinden, was sie alles formen konnte. Denn dadurch boten sich viele Möglichkeiten an, die effektiv für den Kampf und ihre Aufträge genutzt werden könnten. Jedoch gab es auch jetzt noch diese eine bestimmte Frage, die Chuuya ihr stellen musste:

„Misaki-san, diese geflügelte Ratte hat mir gegenüber eine Warnung ausgesprochen. Er meinte, dass niemand, durch dessen Adern rotes Blut fließt, dich aufhalten könnte, wenn du deine volle Kraft entfaltest. Weißt du, wovon er sprach?“, fragte er und beobachtete Misaki dabei genauestens.

Misakis Herz begann augenblicklich zu rasen und ihr gesamter Körper spannte sich an. Dieser Mann, der sie entführen wollte, gehörte also zum Labor und war noch dazu gut informiert. Er wusste sogar über die Besonderheit – wie es die Wissenschaftler genannt hatten – ihrer Fähigkeit Bescheid und hatte den Rothaarigen gewarnt. Dabei war das ein Geheimnis, über welches niemand sprechen durfte. Was wollte er damit bloß erreichen? Wer genau war er, dass er solche geheimen Informationen wissen durfte? Und die wichtigste Frage, welche in Misakis Kopf herumschwirrte, war: Was sollte sie Chuuya antworten? Sie vertraute ihm zwar, ohne Zweifel, doch das war etwas, was niemand wissen sollte und worüber sie niemals sprechen wollte. Ihre Fähigkeit an sich war schon speziell genug, doch wenn dieses Geheimnis ans Licht kommen würde, dann wäre bestimmt die gesamte Unterwelt hinter ihr her. Nicht zu vergessen, dass sie nicht einschätzen konnte, was Mori mit dieser Information anfangen würde. Misaki wollte diese Besonderheit nie wieder einsetzen und wenn sie dafür lügen musste, dann würde sie dies auch tun. Selbst, wenn Chuuya derjenige war, den sie belügen musste.

„Nein, ich weiß nicht, wovon er spricht. Vielleicht wollte er dich bloß verunsichern, Chuuya-senpai“, sagte sie monoton und zuckte mit den Schultern.

Der Rothaarige wusste sofort, dass sie log. Denn Misakis Körper hatte sie direkt verraten, als er sich bei dieser Frage angespannt hatte. Doch er verstand nicht, weshalb sie ihn anlog. War es etwa so schlimm, dass sie nicht darüber sprechen wollte? Hatte sie Angst, was passieren würde, sobald es jemand wusste? So dringend Chuuya es auch wissen wollte, wusste er doch, dass Misaki ihm nicht antworten würde. Zumindest noch nicht, denn irgendwann müsste sie es ihm erklären, auch wenn sie nicht wollte. Vorerst würde er es dabei belassen und sich gedulden, doch der Rothaarige würde sie definitiv bald zur Rede stellen. Denn Geduld war eine Tugend, die ihm nicht sonderlich lag.
Stillschweigend nickte Chuuya und begab sich in die Küche, um seinen geliebten Wein zu holen. Er fragte Misaki, ob sie auch ein Glas wolle und tatsächlich nahm sie das Angebot dankend an. Diesmal würde er allerdings darauf achten, dass sie nicht zu viel trank. Schließlich sollte sich die Situation vom letzten Mal nicht wiederholen und er hatte auch keine Lust, sie wieder ins Bett tragen zu müssen. Der Rothaarige wollte einfach den Rest ihres freien Tages genießen und in Ruhe verbringen. Er konnte sich auch gut vorstellen, dass es Misaki ebenso ging.
Als Chuuya sich wieder neben sie setzte, platzierte er die Weinflasche direkt vor sich auf dem Tisch und reichte ihr eines der bereits gefüllten Weingläser. Während der Rothaarige sein Glas mit sachten Bewegungen schwenkte, setzte Misaki es einfach an ihren Mund und trank ein paar große Schlucke. Chuuya beäugte sie dabei skeptisch und fuhr sich mit einer Hand durch sein Haar, während er leise seufzte. Daraufhin sah sie ihn bloß verwirrt an, was er bemerkte und sogleich zu einer Erklärung ansetzte.

„Misaki-san, das ist ein Château Cheval Blanc aus dem Jahr 2010, welcher übrigens ein ausgesprochen guter Jahrgang ist. Den kippt man nicht runter wie Wasser, sondern man genießt ihn. Damit sich das Aroma entfaltet und man den endlos scheinenden Abgang vollends auskosten kann. Abgesehen davon möchte ich nicht, dass du wieder betrunken bist und ich dich erneut ins Bett tragen muss. Also solltest du dich etwas zügeln“, sagte er in einem ernsten Ton.

Misaki schoss augenblicklich die Röte ins Gesicht, weshalb sie bloß verstehend nickte. Es klang nicht wie ein Vorwurf, sondern eher so, als ob er sich Sorgen machte. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie zuckte kurz zusammen, als er ihre Hand berührte, um ihr zu zeigen, wie man das Weinglas richtig hielt. Misaki kannte sich weder mit Wein, noch mit Gepflogenheiten wirklich aus und sie freute sich, dass Chuuya ihr das ein oder andere erklärte und zeigte. Das erinnerte sie irgendwie daran, wie A und C ihr sowohl Lesen, als auch Schreiben beigebracht hatten. Als sie darüber nachdachte, legte sich ein wehmütiges Lächeln auf ihre Lippen.
Dann fiel Misakis Blick auf die Hände des Rothaarigen, der offensichtlich sogar Zuhause seine Handschuhe trug. Sie fragte sich, ob es dafür einen Grund gab und beschloss dem sofort nachzugehen:

„Chuuya-senpai? Wieso trägst du deine Handschuhe sogar Zuhause?“

„Ich ziehe sie nur zum Duschen, Händewaschen und Schlafen aus und dann, wenn ich Corruption, die eigentliche Form meiner Fähigkeit, anwende. Da diese aber sehr gefährlich ist und ich sie ohne Dazai ohnehin nicht einsetzen kann, lege ich sie nicht ab. Denn nur dieser Bastard kann meine Fähigkeit neutralisieren und mich aus diesem zerstörerischen Zustand befreien. Ansonsten würde ich so lange wüten, bis ich sterbe“, erklärte er monoton und starrte dabei auf sein Weinglas, welches er erneut sanft schwenkte.

Chuuya trank genüsslich einen Schluck seines Weins und genoss dabei das seidig-weiche Gefühl, welches sich in seinem Mund ausbreitete, sowie den frischen, schier unendlichen Abgang. Eigentlich sprach er nur ungern über eine seiner Schwächen, da er zu stolz war. Allerdings hatte Misaki ihm gegenüber schon so viel Schwäche gezeigt und über ihre gesprochen, dass er ihr zumindest diese eine offenbaren konnte. Doch der Fakt, dass er ohne Dazai nicht Corruption einsetzen konnte, sofern er nicht sterben wollte, war bitter und kratze enorm an seinem Ego. Der Rothaarige hatte die Notwendigkeit zwar anerkennen müssen, doch es war ihm schon immer zuwider gewesen, dabei auf Dazai angewiesen zu sein. Da dieser Bastard nun sowieso nicht mehr sein Partner war, musste er sich darüber auch keine Gedanken mehr machen. Oder besser gesagt: Er wollte sich darüber keine Gedanken mehr machen, da es ohnehin reine Zeitverschwendung wäre.
Misaki wusste nicht, was sie sagen sollte, auch, weil sie nicht mit einer so ausführlichen Antwort gerechnet hatte. Chuuyas Fähigkeit hatte also, genau wie ihre eigene, etwas selbstzerstörerisches an sich. Auch wenn man das nicht direkt miteinander vergleichen konnte, hatten sie dadurch dennoch etwas gemeinsam. Misaki war auch froh, dass der Rothaarige etwas über sich erzählt hatte und sie nun mehr wusste, als bloß seinen Namen, seiner Liebe zu Wein und seiner Stellung bei der Mafia. Sie hatte das Gefühl, dass er so langsam auftaute und seine distanzierte Art, wenn auch nur ein klein wenig, ablegte. Vielleicht könnten sie irgendwann sogar Freunde werden, zumindest hoffte sie das.

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