5. Die Ruhe vor dem Sturm

Nachdem Misaki sich wieder einigermaßen beruhigt hatte und ihre Tränen versiegt waren, saßen Keigo und sie noch eine Weile einfach still auf dem Dach. Der Mond, der bereits hoch am Himmel thronte, wurde größtenteils von den aufziehenden Wolken verdeckt, ebenso wie die Sterne. Dadurch wirkte Yokohama, trotz all der Beleuchtung, um einiges düsterer und unheilvoller. Allerdings störte das Keigo und Misaki nicht sonderlich, da die Port Mafia hauptsächlich nachts aktiv war und sie somit daran gewöhnt waren. Und irgendwie war diese Atmosphäre viel entspannter, wenngleich sie ebenso erdrückend sein konnte. Die Dunkelheit der Nacht verschleierte oft die Taten derer, die sich auf der Schattenseite der Gesellschaft befanden. Ob nun Sachbeschädigung, Raub, Einbruch, Körperverletzung, Entführung, Organhandel, Waffenhandel, Drogenhandel, Menschenhandel, Missbrauch, Mord... Von leichten, bis hin zu schweren Vergehen war alles vertreten. Natürlich geschah nicht alles ausschließlich im Schutze der Nacht, aber eben ein großer Teil davon. Beim Anblick dieses düsteren Schleiers, der für die meisten nicht sichtbar war und sich dennoch Nacht für Nacht über die Stadt legte, wurde Misaki erneut bewusst, wie schön und gleichzeitig verdorben die menschliche Seele, das menschliche Wesen doch sein konnte. Und das traf ebenso auf sie zu.
»Misaki? Hörst du mir zu?«, fragte Keigo und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Sie blinzelte einige Male, ehe sie sich ihm zuwandte und in seine goldenen Augen sah.
»Hm? Oh, nein... Tut mir leid.«
»Ich sagte, dass wir langsam verschwinden sollten und dass wir uns noch mit Touya treffen, bevor ich dich nach Hause bringe.«
Misaki nickte bloß und erhob sich, während Keigo einige Schritte zurücktrat und seine Schwingen ausbreitete. Ihm war bereits aufgefallen, dass sich ihre Stimmung nachträglich sogar verschlechtert hatte. Das Gespräch an sich hatte ihr zwar geholfen und gutgetan, aber es änderte eben nichts an ihrer prekären Situation. Doch auch jetzt hatte Keigo eine Idee, wie er sie auf andere Gedanken bringen konnte. Also stellte er sich hinter Misaki, packte sie unter den Armen und schlang die seinen fest um ihren Brustkorb, ehe er sich schwungvoll und ohne Vorwarnung mit ihr in die Lüfte erhob. Sie keuchte erschrocken, kniff ihre Augen zusammen und vergrub ihre Finger in den Ärmeln seiner beigen Jacke. Das Adrenalin strömte rasant durch ihren gesamten Körper, ihr Herz schlug vor Aufregung und Angst um einiges schneller, während sie den kühlen Wind auf ihrer Haut spürte und wie dieser ihr Haar durcheinanderbrachte.
»Verdammte Scheiße, Keigo... Lass mich sofort wieder runter!«
»Du solltest dich entspannen, das Gefühl und den Ausblick genießen«, erwiderte er lächelnd.
»Spinnst du?! Das letzte Mal, als ich unfreiwillig mit dir fliegen musste, bin ich ins Meer gestürzt und beinahe ertrunken!«
»Das stimmt zwar, aber diesmal werde ich dir zeigen, wie schön und befreiend das Fliegen sein kann. Ich lasse dich nicht fallen, also vertrau mir und öffne deine Augen!«
Zögerlich kam Misaki der Aufforderung nach und öffnete ihre Augen erst nur einen kleinen Spalt, bevor sie sie schlussendlich weit öffnete und erstaunt in die Tiefe blickte. Aus dieser Höhe sah alles so viel kleiner aus, vor allem die Menschen, die sich noch auf den Straßen tummelten. All die hellen Lichter, die Yokohama erstrahlen ließen und auch das Riesenrad, welches in bunten Farben leuchtete; der Anblick war einfach atemberaubend schön.
»Wow... Der Ausblick von hier oben ist wirklich wunderschön.«
»Ich weiß und jetzt zeige ich dir etwas, was all das bei weitem übertrifft!«
Plötzlich flog Keigo senkrecht nach oben, bis sie über der dichten Wolkendecke waren, welche den Himmel bedeckte. Über ihnen erstreckte sich ein scheinbar unendlich weites Meer aus strahlenden Sternen, in welchem der Schein des Mondes beinahe unterzugehen schien. Misakis Augen funkelten vor Euphorie und sie vergaß für einen kurzen Moment alles um sich herum, auch ihr Körper entspannte sich ein wenig. Sie hätte nie gedacht, dass der Himmel, den sie so oft betrachtete, von dieser Höhe aus vollkommen anders wirkte. So malerisch, beruhigend und irgendwie... magisch. Und obwohl sie es sichtlich genoss, bereitete eben diese Höhe ihr auch ein flaues Gefühl. Es war nicht so, dass Misaki Keigo nicht vertraute, sondern eher der Fakt, dass sie in dieser Situation keinerlei Kontrolle hatte und der Erdboden zusätzlich viel zu weit entfernt war.
»Keigo... Ich bin dir für dieses außergewöhnliche Erlebnis wirklich dankbar, aber ich hätte gerne wieder festen Boden unter den Füßen...«
»Alles klar, dann treffen wir uns jetzt mit Touya. Er wartet am Hafen auf uns.«

Als sie am Hafen angekommen waren, war Misaki froh, dass sie mit beiden Füßen wieder auf festem Untergrund stand. Ihr Körper zitterte noch ein wenig, da Keigo extra schnell geflogen war, um ihr Ziel schnellstmöglich zu erreichen. Einerseits war sie ihm dafür dankbar, doch andererseits hätte sie auch gut darauf verzichten können. In dieser Hinsicht war seine Geschwindigkeit eben ein Segen und ein Fluch, zumindest für Misaki. Sie atmete tief durch und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, die sich hinter ihr befand und zu einer Lagerhalle gehörte. Um sie herum war es größtenteils ziemlich finster, nur ein paar einzelne Lampen, die an den Lagerhäusern angebracht waren, erhellten die Umgebung geringfügig. Der Wind war kühl und trug den Geruch des Meeres mit sich, welcher zwar erfrischend, aber auch ein wenig penetrant war. Die Geräusche der Wellen, die gegen die Schiffe schlugen und an ihnen zerbarsten, waren in der Stille, die sie umgab, um einiges lauter und deutlicher zu hören.
Seufzend strich Misaki ihre Haare wieder glatt, die dank des turbulenten Fluges in alle Richtungen abstanden, während Keigo und Touya vor ihr standen und sich begrüßten. Sie selbst hob zur Begrüßung bloß kurz die Hand und nickte ihm zu, was er ebenso erwiderte. Die Beiden kommunizierten und interagierten auch sonst nur äußerst wenig miteinander, was hauptsächlich daran lag, dass sie keinen besonderen Bezug zueinander hatten. Meist tauschten sie lediglich die ein oder andere Beleidigung, eine sarkastische Bemerkung oder einen schlagfertigen Spruch untereinander aus, bevor sie den Anderen ignorierten. Allerdings war das keinesfalls böswillig, sondern einfach die Art, wie sie am besten miteinander umgehen konnten, ohne dass es zu gröberen Auseinandersetzungen kam. Es war - ganz ohne Zweifel - ein seltsames Umgangskonzept, aber es funktionierte.
»Du siehst scheiße aus«, sagte Touya trocken, während er sie musterte.
»Wow, die Beleidigung war ja fast schon geistreich. Man könnte beinahe glauben, dass du doch ein wenig Verstand besitzt«, erwiderte Misaki belustigt und mit hochgezogener Augenbraue.
Der Schwarzhaarige schnaubte daraufhin bloß, indessen Keigo seufzend den Kopf schüttelte. Er erwartete von ihnen zwar nichts anderes und manchmal war es durchaus ganz amüsant, aber auf die Dauer nervte es ihn. Und es vergingen noch einige Minuten, in denen Misaki und Touya sich allerlei Beleidigungen und Sprüche an den Kopf warfen, bis er genug davon hatte.
»Ich sehe schon, ihr benehmt euch mal wieder richtig erwachsen...«, äußerte Keigo in einem sarkastischen Tonfall, »Bevor das ewig so weitergeht, werde ich Misaki nach Hause bringen. Und du wartest einfach hier, Touya.«
Angesprochener zuckte bloß mit den Schultern, da er wusste, dass sein Partner keine Antwort von ihm erwartete. Sie wussten beide genau, dass er ohnehin auf Keigo warten würde, selbst wenn dieser es nicht erwähnt hätte. Und so zündete Touya sich gemütlich eine Zigarette an und blies den Qualm in die Luft, während der Blondhaarige und Misaki davonflogen.

Kurze Zeit später landeten sie vor dem Gebäude, in dem sich das Apartment befand. Keigo setzte Misaki vorsichtig ab und sie richtete erneut ihre Haare, die durch den Flug wieder in alle Richtungen abstanden. Sobald sie damit fertig war, brachte der Blondhaarige ihre Frisur allerdings gleich wieder durcheinander und lächelte dabei. Danach wollte er sich umdrehen und gehen, als Misaki ihn am Ärmel seiner Jacke festhielt und so daran hinderte.
»Was ist denn? Brauchst du noch etwas? Du willst aber nicht, dass ich dich ins Bett bringe, oder?«, äußerte Keigo scherzend und drehte sich wieder zu ihr um.
»Träum weiter, du Spatzenhirn...«, erwiderte sie belustigt, »Ich wollte bloß... Also ich... Danke, Keigo.«
Noch bevor er etwas darauf erwidern konnte, umarmte Misaki ihn schnell, verabschiedete sich anschließend knapp und lief in das Gebäude. Sie war Keigo wirklich dankbar, für all das, was er für sie getan hatte. Und auch dadurch wurde ihr wieder bewusst, wie sehr sie es vermisste, mit Chuuya unbeschwert zu sprechen, mit ihm zu lachen und ihn zu umarmen. Misaki war zwar noch wütend auf ihn und das würde sich auch nicht so schnell ändern, aber... sie wollte unbedingt, dass ihr Verhältnis wieder besser wurde. Deshalb beschloss sie, dass sie mit ihm über alles sprechen würde, sobald sie zu Hause war.
Als Misaki vor der Eingangstür des Apartments stand, konnte sie Chuuya bereits laut fluchen hören. Ob er wohl Besuch hatte? Oder telefonierte er? Beides war schon vorgekommen und würde sie daher nicht überraschen. Sie schmunzelte sogar unbewusst, während sie kopfschüttelnd die Tür öffnete, da es so typisch für Chuuya war, dass man ihn nicht überhören konnte. Doch sobald Misaki das Apartment betreten hatte, hörte sie auch eine weitere Stimme, die ihr ziemlich bekannt vorkam. Daraufhin betrat sie langsam und leise das Wohnzimmer, in dem sie Chuuya entdeckte, der Dazai gerade am Kragen packte und wütend beschimpfte. Die Kleidung der Beiden war ziemlich unordentlich, ebenso wie ihre Haare, die in alle Richtungen abstanden. Zusätzlich war Chuuyas Hemd offen, wodurch man einige offensichtliche Spuren sehen konnte, die Dazai hinterlassen hatte. Und es war auch der Braunhaarige, der sie sofort bemerkte und fröhlich begrüßte.
»Misaki-chan, da bist du ja! Ich habe auf dich gewartet!«, rief er und winkte ihr freudig zu.
»Klar... Und wie ich sehe, habt ihr euch auch blendend amüsiert...«, erwiderte sie tonlos.
Misakis Augen waren voller Wut, als sie ihren Blick auf Chuuya richtete, der sie bloß schockiert ansah und von Dazais Kragen abließ. Sie ließ es sich äußerlich nicht so stark anmerken, doch innerlich kochte sie vor Wut. All die Geschehnisse hatten so schwer an ihr genagt und sie hatte sich sogar Chuuya gegenüber etwas schuldig gefühlt, da sie sich so distanziert verhielt, obwohl sie wusste, dass er sich bloß Sorgen um sie machte und aus diesem Grund so streng war. Aber nun brach er selbst die Regel, die er Misaki mehrmals erläutert hatte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und ihre Augen begannen sich leuchtend rot zu verfärben, während Tränen über ihre Wangen flossen.
»Misaki, bleib ruhig und hör mir kurz zu...«, versuchte Chuuya sie zu beschwichtigen.
»Sag mir verdammt nochmal nicht, dass ich ruhig bleiben soll! Und du musst dir auch nicht die Mühe machen, mir irgendetwas zu erklären! Zuerst verbietest du mir den Kontakt zu Atsushi, dann darf ich NIRGENDS alleine hingehen, weil du mir in dieser Hinsicht ja offensichtlich nicht vertrauen kannst und jetzt... DU BIST SO EIN VERDAMMTER HEUCHLER!«
Diese Worte trafen Chuuya hart und er wusste, dass Misaki im Recht war und er einen Fehler begangen hatte. Allerdings wusste er auch, dass, egal was er nun sagen oder tun würde, es nichts an der Situation ändern würde. Dennoch wollte er sie beruhigen, da sie in diesem Zustand eine Gefahr für andere und sich selbst darstellte, was er unter keinen Umständen zulassen und riskieren durfte. Doch gerade, als Chuuya langsam auf sie zugehen wollte, um sie zu beruhigen, drehte Misaki sich plötzlich um und rannte aus dem Apartment. Er wollte ihr natürlich sofort hinterherlaufen, wurde jedoch von Dazai, der ihn an der Schulter packte, zurückgehalten.
»Was zum... Lass mich los, sonst-«
»Du solltest sie fürs erste in Ruhe lassen, damit sie sich beruhigen kann. Lass sie gehen. Misaki-chan kann auf sich selbst aufpassen und wird von alleine zurückkommen. Was sie jetzt braucht, ist Abstand und Zeit für sich.«
»Spinnst du?! Doch nicht in diesem Zustand!«
»Und du denkst, dass es klüger ist, wenn der Grund für ihren Zustand ihr keinen Freiraum lässt?«
»Du... Halt die Klappe! Ich muss sie suchen, bevor ihr meinetwegen etwas passiert...«

Nachdem Misaki das Gebäude verlassen hatte, rannte sie einfach. Sie rannte und dachte nicht darüber nach, wo ihre Beine sie überhaupt hinführten. Ziellos lief sie von einer Gasse in die nächste, blendete alles um sich herum aus und stoppte erst, als sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Schwer atmend lehnte Misaki sich gegen die dreckige, mit Graffiti beschmierte Wand der dunklen Gasse, während es langsam zu regnen begann. Und je länger sie dort stand und auf den Boden starrte, desto stärker wurde auch der Regen.
Misaki war bereits vollkommen durchnässt, als sie sich schließlich langsam in Bewegung setzte. Anfangs hatte sie kein bestimmtes Ziel gehabt, da sie ohnehin nicht gewusst hatte, wohin sie gehen sollte. Doch mittlerweile hatte sie erkannt, dass die Antwort eigentlich recht simpel war und es nur eine Person gab, die sie nun sehen wollte und zu der sie gehen konnte. Schritt für Schritt bewegte Misaki sich durch die dunklen Gassen Yokohamas, da sie unentdeckt bleiben und Probleme vermeiden wollte. Sie traf zwar auf die ein oder andere zwielichtige Gestalt, aber sobald diese ihre Augen sahen, die als Warnung rot leuchteten, hielten sich die Meisten von ihr fern. Und die, die sich mit Misaki anlegen oder sie anfassen wollten, bereuten dies spätestens dann, als sie durch ihr blutrotes Katana eine Hand oder einen Arm verloren hatten. Sie hatte sich dann auch nicht die Mühe gemacht, ihre Fähigkeit zu verbergen, sondern lief einfach mit der Waffe in der Hand weiter, um schneller reagieren zu können. Zumindest so lange, bis sie an ihrem Ziel angelangt war.
Misaki stand einige Minuten unschlüssig vor der weiß lackierten Holztür, bis sie schließlich anklopfte und abwartete. Es dauerte nicht lange, bis die Tür geöffnet wurde und ihr ein perplexer Atsushi gegenüberstand. Sein Blick war voller Sorge und auch Schock, da Misaki vollkommen durchnässt war, am ganzen Körper zitterte und ihre Lippen sich sogar schon leicht blau verfärbt hatten. Abgesehen davon waren ihre Augen, die ihn traurig ansahen, gerötet und etwas geschwollen. Atsushi ging sofort auf sie zu und nahm vorsichtig ihre Hand, an der er sie in die Wohnung führte. Nachdem er die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte und sich Misaki zuwandte, umarmte sie ihn plötzlich. Schmunzelnd erwiderte er die Umarmung und streichelte sanft über ihren Rücken.
»Ich bin froh, dich zu sehen, Misaki-chan... Aber du brauchst dringend eine warme Dusche und trockene Kleidung, sonst wirst du dich erkälten. Also werde ich dich zum Badezimmer bringen, dir Kleidung von mir geben und danach kannst du mir erzählen was passiert ist, okay?«
Misaki nickte und löste die Umarmung, danach zog sie sich die Schuhe aus und folgte Atsushi langsam. Vor dem Badezimmer angekommen öffnete er die Tür für sie und bat sie, kurz zu warten. Er eilte schnell in das Schlafzimmer und durchsuchte seinen Schrank nach gemütlicher Kleidung, die er ihr geben konnte. Schlussendlich entschied er sich für eine Jogginghose und einen Pullover, welche er Misaki unverzüglich brachte und sie danach alleine ließ.
Während sie duschte, begab sich Atsushi in die Küche und setzte Wasser auf, um Tee zuzubereiten. Er freute sich wirklich sehr, sie wiederzusehen, aber gleichzeitig machte er sich Gedanken darüber, was wohl passiert war, dass sie nachts so aufgewühlt vor seiner Haustür stand, obwohl es doch eigentlich ziemlich gefährlich war, wenn sie sich trafen. Es war noch nicht lange her, dass Misaki ihn in dieser Gasse stehengelassen hatte und nun tauchte sie plötzlich auf... Was war bloß vorgefallen? Hatte sie Ärger bei der Mafia und war vielleicht in Gefahr? Je länger Atsushi darüber nachdachte, desto mehr Theorien sammelten sich in seinem Kopf, was hätte passiert sein können. Doch letztendlich waren all das eben nur Theorien und er musste darauf warten, dass Misaki ihm die Fakten erzählte.
Als der Tee fertig aufgebrüht war, konnte Atsushi hinter sich leise und langsame Schritte hören, weshalb er sich umgehend umdrehte. Misaki war zu ihm in die Kochnische gekommen und stand nun unweit vor ihm. Die Kleidung, die er ihr gegeben hatte, war ihr sichtlich etwas zu groß und sie hatte ein Handtuch um ihre noch feuchten Haare gewickelt. Atsushi schmunzelte und konnte sich ein kleines Kichern nicht verkneifen, woraufhin er einen fragenden Blick von Misaki erhielt.
»E-Entschuldige, es ist nur... na ja... D-Du siehst... Nicht so wichtig, w-willst du einen Tee?«, stotterte er verlegen.
Misaki nickte etwas irritiert und folgte ihm, als er mit zwei dampfenden Tassen an ihr vorbei und ins Wohnzimmer ging. Gemeinsam setzten sie sich auf die kleine Couch und Atsushi stellte ihre Getränke auf dem kleinen Holztisch ab, der direkt gegenüber von ihnen stand. Der Tee war ohnehin noch zu heiß, als dass man ihn sofort trinken könnte. Er sah Misaki an, die ihre Beine angewinkelt hatte und den Boden anstarrte.
»Du fragst dich bestimmt, weshalb ich, nach allem was vorgefallen ist, plötzlich vor deiner Tür stand, richtig? Das kann ich dir nicht verübeln, immerhin kam das ziemlich unerwartet... Anfangs war ich mir auch nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, aber... Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte und ich wollte dich sehen...«, sprach sie leise, ohne den Blick vom Boden abzuwenden.
»Ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist, aber was ist passiert? Hast du Ärger? Bist du in Gefahr?«
»Nein, nichts dergleichen... Als ich nach Hause gekommen bin, war Dazai-san bei uns. Er hat wohl auf mich gewartet und während ich nicht da war, haben er und Chuuya... Sie sind sich offensichtlich nähergekommen. Ich war wütend, weil mir der Kontakt zu dir verboten wurde und ich auch nirgends alleine hingehen durfte, damit wir uns nicht treffen können. Das konnte ich zwar irgendwie auch nachvollziehen, weil es eben sehr gefährlich ist, aber... Er hat die verdammte Regel, die er mir so oft erläutert hat, selbst gebrochen. Chuuya ist so ein Heuchler... Ich habe ihn angeschrien und bin dann einfach weggelaufen, nun sitze ich hier und weiß nicht, was ich tun oder denken soll.«
Atsushi wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er hatte mit vielem gerechnet, aber das überforderte ihn. Und da er keine passenden Worte fand, die er Misaki hätte sagen können, rutschte er einfach näher zu ihr und zog sie in eine feste Umarmung. Sie schlang ihre Arme ebenfalls um ihn und vergrub ihren Kopf in seiner Halsbeuge.
Nachdem sie die Umarmung wieder gelöst hatten, entferne Atsushi das Handtuch von Misakis Kopf und begann damit, ihre Haare vorsichtig abzutrocknen. Sie war von dieser Handlung erst ziemlich überrascht gewesen, doch dann grinste sie und ließ ihn einfach machen. Seine Fürsorge war immer so aufrichtig und liebevoll, sie zeigte sich in jeder Kleinigkeit, die er für Misaki tat. Ganz gleich, ob es nun Worte oder Taten waren, Atsushi zeigte ihr immer deutlich, was er für sie empfand. Es sah dabei allerdings nicht so aus, als würde er es beabsichtigt und offensichtlich tun wollen, sondern als ob er gar nicht großartig darüber nachdenken würde. Auch das zeigte Misaki, wie aufrichtig und rein seine Gefühle, sein Herz und seine Seele waren. Sie legte lächelnd ihre Hand auf Atsushis Wange und strich mit dem Daumen federleicht über seine Haut, woraufhin ihm die Röte ins Gesicht schoss. Misaki kicherte leise, legte ihre andere Hand an seinen Nacken und zog ihn so nah zu sich, dass sie ihre Stirn an seine legen konnte.
»Ich danke dir, dass du so bist, wie du bist und für alles, was du für mich getan hast«, flüsterte sie, bevor sie ihre Lippen zu einem Kuss verband.

Sie hatten die gesamte Nacht miteinander gesprochen und die Nähe des Anderen genossen, doch nun ging langsam die Sonne auf und Misaki wusste, dass sie nach Hause gehen und mit Chuuya sprechen musste, bevor die aktuelle Situation noch schlimmer werden würde. Sie konnte schließlich nicht einfach weglaufen und ihm im Stich lassen, das wollte sie auch nicht. Darum konnte sie sich auch nicht weiterhin bei Atsushi verstecken, sondern musste sich dem Problem stellen. Es würde nicht einfach werden und vermutlich würden Chuuya und sie erneut streiten, doch nun hatte sie auch ein Argument, was sie ihm vorhalten konnte. Denn er konnte nicht abstreiten, dass zwischen Dazai und ihm mehr passiert war, als bloß minimaler Körperkontakt oder ein flüchtiger Kuss. Vielleicht konnte Misaki ihn ja damit überzeugen oder so zumindest dafür sorgen, dass sie wieder alleine das Haus verlassen durfte. So oder so, auf die ein oder andere Art, würde das gestrige Ereignis ihr definitiv von Nutzen sein können.
Mittlerweile war Misakis Kleidung auch wieder trocken und nachdem sie sich umgezogen hatte, begleitete Atsushi sie zur Haustür.
»Und du bist dir sicher, dass du gehen willst? Oder dass ich dich nicht begleiten soll?«, fragte er abermals besorgt nach.
»Ich muss gehen, Atsushi... Ich kann Chuuya nicht einfach im Stich lassen, das weißt du. Egal was passiert, er ist und bleibt einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Und ich muss zumindest versuchen, diese Situation endlich zu klären. Es ist besser, wenn ich alleine mit ihm spreche, mach dir keine Sorgen«, sagte sie lächelnd und gab ihm einen Kuss auf die Wange, »Ich komme wieder, egal was passiert. Das verspreche ich dir.«
Daraufhin umarmten sie sich noch einmal, ehe Atsushi die Tür öffnete und Misaki sich schnellen Schrittes auf den Weg machte. Glücklicherweise waren so früh kaum Menschen auf den Straßen, weshalb sie recht schnell und ohne Probleme das Apartment erreichen sollte. Dennoch lief sie, um auf Nummer sicherzugehen, wieder durch dieselben Gassen, durch die sie auch gekommen war. Misaki wollte nicht unvorsichtig werden und kein Risiko eingehen, da die Augen und Ohren der Mafia dennoch überall waren. Und gerade jetzt, wo sie so müde und auch erschöpft war, wollte sie jeglichen Ärger vermeiden.
Dies schien auch gut zu funktionieren, da Misaki bereits die Hälfte des Weges geschafft hatte und bis jetzt keiner Menschenseele begegnet war. Die Umgebung war ruhig, sogar etwas zu ruhig, aber sie dachte sich nichts dabei, da die Sonne gerade erst dabei war, langsam aufzugehen und die meisten Menschen noch schliefen. Doch irgendwie beschlich sie dennoch ein ungutes Gefühl, als ob etwas nicht stimmen würde. Misaki fühlte sich beobachtet, konnte allerdings niemanden entdecken und beschleunigte ihren Gang. Und als sie um die nächste Ecke gebogen war, hörte sie ein raschelndes Geräusch. Sie zuckte kurz erschrocken zusammen und beschloss dennoch, den Ursprung ausfindig zu machen. Also zog sie ihr Messer, welches sie immer dabei hatte und ging vorsichtig und langsam zurück. Jedoch konnte Misaki weiterhin niemanden entdecken, zumindest nicht, bis eine kleine Katze hinter einer der großen Mülltonnen hervorkam. Sie atmete erleichtert aus und steckte das Messer wieder weg, bevor sie sich auf den Boden kniete und das Kätzchen zu sich rief. Es war pechschwarz, hatte hellblaue Augen und kam bloß zögerlich auf sie zu. Misaki streckte ihre Hand ganz langsam aus und ließ das Tier an dieser schnüffeln, ehe sie es sanft streichelte. Nach einer Weile stand sie lächelnd auf und winkte der Katze, die bereits davonlief, noch zu. Doch gerade, als sie sich umdrehen wollte, spürte sie einen starken und stechenden Schmerz an ihrem Hinterkopf und fiel zu Boden. Das Letzte, was Misaki noch mitbekam, war, dass jemand in einer anderen Sprache fluchte, ehe die allumfassende Dunkelheit sie übermannte.

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