2. Schmerzliches Wiedersehen

Als Misaki am nächsten Morgen wach wurde, war ihr schrecklich übel und sie hatte höllische Kopfschmerzen. Murrend richtete sie sich auf, nur um sich sofort wieder in die Kissen sinken zu lassen, weil ihr plötzlich etwas schwindelig geworden war. Sie fuhr sich mit beiden Händen über ihr Gesicht und seufzte langgezogen, ehe sie sich diesmal langsam und Stück für Stück erhob. Nun saß Misaki am Rand ihres Bettes und blickte eine Weile gedankenverloren auf den Boden, bevor sie endgültig aufstand und zu ihrem Kleiderschrank schlurfte. Aus diesem holte sie sich frische Kleidung, welche aus Unterwäsche, einer schwarzen Jeans und einer lockeren Bluse in Pastellgrün bestand. Da sie heute vermutlich keine Mission bekommen würde und bloß auf Abruf bereitstehen musste, weil Mori keinen Auftrag für sie hatte und Chuuya anderweitig beschäftigt sein würde, wusste sie mit dem heutigen Tag nichts anzufangen. Zwar hätte Misaki nur allzu gern heimlich Atsushi besucht, wenn sie schonmal die Zeit dazu hatte, aber sie konnte eben auch nicht einfach in die Detektei spazieren. Denn wenn sie jemand dabei sehen würde, dann würde sie ernsthafte Probleme bekommen die im schlimmsten Fall auf Chuuya zurückfallen könnten und das wollte sie unbedingt vermeiden. Das letzte was Misaki wollte, war, ihn in Schwierigkeiten zu bringen oder Ärger zu verursachen. Sie hatte damals schon bemerkt, dass Mori ihn ebenfalls für ihren Ungehorsam mitverantwortlich machen und bestrafen würde. Und das alles nur, weil ihr Boss wusste, wie wichtig Chuuya für sie war und dass er somit ein Druckmittel hatte, mit welchem er sie stets kontrollieren konnte.
Ungefähr eine halbe Stunde später kam Misaki, nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte, in die Küche geschlendert. Chuuya, der dort bereits auf sie wartete, reichte ihr einen Kaffee und musterte sie vorwurfsvoll.
»Bitte, tue mir den Gefallen und sag einfach nichts dazu...«, seufzte sie und nahm den Kaffee entgegen.
»Wozu genau? Dass du von den zwei Neuen nach Hause gebracht werden musstest, weil du so betrunken warst oder dass ich dich deswegen wieder einmal ins Bett bringen musste?«, fragte Chuuya mit hochgezogener Augenbraue.
»Verdammt, ich weiß...«, stöhnte Misaki genervt und seufzte langgezogen, »Es tut mir leid, Chuuya und es kommt nicht mehr vor. Können wir das Thema nun beenden? Bitte?«
»Sicher... und das ist dir übrigens gestern aus deiner Jackentasche gefallen«, sagte er monoton und legte eine rote Feder auf die Kücheninsel aus schwarzem Marmor, »Ich muss jetzt los und falls ich dich brauche, dann werde ich mich melden. Ansonsten hast du heute keine Verpflichtungen, also ruh dich etwas aus.«
Misaki nickte bloß und umarmte Chuuya zum Abschied, danach verließ er das Apartment. Sie war sich nicht sicher, was sie nun mit ihrer Freizeit anfangen sollte. Einerseits sollte sie sich ausruhen, da sie einen Kater hatte und ohnehin seit ihrer Genesung nur am Arbeiten gewesen war, doch andererseits wollte sie lieber nach draußen gehen, da das Wetter so schön war. Der Himmel war beinahe vollständig wolkenlos und die Sonne strahlte warm herab, da wäre es doch schade, wenn Misaki den ganzen Tag bloß zu Hause verbringen würde. Zuvor wollte sie allerdings die Feder, die sie von Keigo geschenkt bekommen hatte, an einer Kette befestigen, damit sie diese um den Hals tragen konnte. Die Idee war ihr gestern bereits in den Sinn gekommen, als sie sie erhalten hatte und Misaki war sich sicher, dass es gut aussehen würde. Ihr gefiel der Gedanke, dass sie aus diesem Geschenk ein Accessoire machen und es somit immer bei sich tragen konnte.
Summend suchte Misaki alles zusammen, was sie brauchen würde. Sie benötigte bloß wenige Gegenstände dafür, unter anderem eine Nadel und eine Halskette, deren Anhänger sie ersetzen konnte. Glücklicherweise hatte sie sich erst vor kurzem eine dünne Lederhalskette gekauft, die sich perfekt dafür eignete und einen kleinen Stern als Anhänger hatte, der ihr im Nachhinein ohnehin nicht sonderlich gefiel und deshalb ausgetauscht werden konnte.
Als Misaki alles beisammen hatte, was sie brauchte, setzte sie sich zurück an die Kücheninsel und begann damit, den kleinen Metallring zu öffnen, an dem der Stern befestigt war. Anschließend legte sie diesen zur Seite und benutzte die Nadel dazu, um ein kleines Loch in die Spule der Feder zu stechen. Danach musste sie den Metallring bloß durch das Loch stecken und diesen schlussendlich wieder ordentlich verschließen. Lächelnd betrachtete Misaki die Halskette einen Moment, ehe sie sie anlegte und ihre Finger sanft über die roten Federfahnen gleiten ließ. Nun wäre sie eigentlich so gut wie fertig gewesen, um das Apartment zu verlassen und den herrlichen Tag draußen zu verbringen. Jedoch räumte sie erst noch die Küche auf, bevor sie sich schließlich ihre Schuhe, Jacke und Handschuhe anzog. Misaki verstaute ihr Handy, ihre Schlüssel und Kreditkarte noch sorgfältig in ihren Jackentaschen, ehe sie freudig aus der Tür spazierte und diese hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Als Misaki in der Stadt angekommen war, schlenderte sie eine Weile plan- und ziellos durch die Straßen. Sie genoss einfach das schöne Wetter und die teilweise ruhige Atmosphäre, die gerade herrschte. Die warmen Sonnenstrahlen und der sanfte Windzug streichelten ihr Gesicht, während sie grinsend und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen die Straßenseite wechselte. Je weiter Misaki ins Innere der Stadt kam, desto belebter waren auch die Straßen und umso lauter wurde es. Sie war es eigentlich nicht gewohnt alleine unterwegs zu sein, da dieser Fall bloß äußerst selten eintrat, doch sie fand es auch angenehm und war manchmal sogar ziemlich froh darüber. Denn sie war sonst meist von so vielen Menschen umgeben, dass eine kleine Pause davon und etwas Zeit ohne Gesellschaft ihr gut tat. Auch wenn Misaki die Gegenwart anderer dennoch sehr schätzte, hatte sie sich noch nicht vollends daran gewöhnt. Das lag daran, dass sie seit klein auf nie besonders viele Menschen um sich gehabt hatte, außer dann, wenn sie diese töten sollte. Die Zeit in dem Labor und all die vielen Erlebnisse, deren Erinnerungen einfach nicht verblassen wollten, hatten viel zu tiefe Spuren hinterlassen und würden sie daher wohl ewig verfolgen. Es gab bloß zwei Menschen, in deren Nähe Misaki sich so sicher und wohl fühlte, dass selbst der grausamste Gedanke für sie erträglicher wurde - Atsushi und Chuuya. Doch den jungen Detektiv hatte sie so lange nicht mehr gesehen, dass es schon unerträglich schmerzhaft wurde. Sie vermisste sein Lachen, dass ihr Herz erwärmte; seine Augen, die so wunderschön strahlten; sein Lächeln, welches ihr Schmetterlinge im Bauch bereitete; seine Stimme, die so beruhigend war; seine Nähe, in der sie sich einfach geborgen fühlte... Es war wahrlich eine Qual, von ihm getrennt zu sein und ihn nicht einfach so besuchen zu können, obwohl sie in derselben Stadt lebten. Sie waren sich eigentlich so nah, aber aufgrund ihrer komplizierten Situation und der herrschenden Umstände dann doch so fern.
Je länger Misaki darüber nachdachte, desto trüber wurde auch ihre Stimmung. Sie schweifte mit ihren Gedanken immer weiter ab, bis sie alles andere um sich herum vollkommen ausgeblendet hatte. Kurz darauf wurde sie jedoch unsanft in die Realität zurückgeholt, als sie plötzlich gegen jemanden rannte und beide auf dem Boden landeten. Verwirrt und etwas erschrocken sah Misaki sich um, ehe sie denn Mann, der ihr gegenüber auf dem Gehweg saß, bemerkte und realisierte, dass der Sturz wohl ihre Schuld war. Hastig stand sie auf und hielt dem Fremden ihre Hand entgegen, um ihm auf die Beine zu helfen.
»Tut mir leid, ich war anscheinend zu abgelenkt und habe dich nicht gesehen... Geht es dir gut, oder hast du dich verletzt?«, fragte Misaki etwas besorgt und lächelte entschuldigend.
Der Mann starrte sie kurz an, ehe er sich räusperte und zwar ihre Hand ergriff, aber dennoch nicht aufstand.
»Ist die Sonne herausgekommen oder hast du mich nur angelächelt?«, erwiderte er grinsend.
Misaki musterte den Fremden skeptisch, ehe sie ihn mit einem Ruck auf die Beine zog. Danach entschuldigte sie sich nochmals, verabschiedete sich knapp und wollte einfach weitergehen.
»Warte!«, rief er und griff nach ihrem Handgelenk, »Verzeih mir, der Spruch war wirklich dämlich. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst sagen sollte. Also mein Name ist Yasuo Watanabe und wie heißt du?«
»Misaki«, antwortete sie knapp und sah ihn emotionslos an.
»Ein schöner Name, für eine noch schönere Frau«, säuselte Yasuo und zog sie etwas näher zu sich, »Hast du gerade Zeit? Wir könnten doch zusammen einen Kaffee trinken oder etwas essen gehen. Du wirst es nicht bereuen, versprochen!«
»Ich hätte zwar theoretisch Zeit, aber ich bin nicht daran interessiert, dich näher kennenzulernen. Also werde ich nun gehen, sayounara.«
Misaki senkte den Kopf zum Abschied, bevor sie sich aus Yasuos Griff losriss und ihn einfach stehen ließ. Doch er gab nicht so einfach auf, wie sie es sich erhofft hatte und folgte ihr sogar. Wie ein Wasserfall sprach er immer weiter auf sie ein und versuchte sie mit allen Mitteln zu überzeugen, was sie jedoch bestmöglich ignorierte. Zumindest so lange, bis er Misaki plötzlich grob am Arm packte und sie schwungvoll zu sich zog, sodass er sie an sich drücken konnte.
»Lass mich los oder du wirst es bereuen, du widerlicher Bastard! Ich gebe dir drei Sekunden, sonst wird es schmerzhaft für dich«, knurrte sie wütend.
Allerdings nahm Yasuo sie nicht ernst und schnaubte bloß belustigt, während die Hand, mit der er Misaki an sich drückte, über ihren Rücken nach unten streichelte. Jedoch kam er nicht sonderlich weit, da sie ihm einen kräftigen Tritt gegen sein Schienbein verpasste und dabei von sich stieß. Abschließend schlug sie noch wuchtig mit der Faust auf seine Nase, sodass Yasuo gegen einige Menschen prallte, ehe er auf dem Boden landete und sie schockiert mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck ansah. Nun war Misaki diejenige, die belustigt schnaubte und ihren Weg durch die Stadt mit etwas besserer Laune fortsetzte.

Während Misaki weiter durch die belebten Straßen Yokohamas schlenderte, ohne überhaupt zu wissen wohin sie gehen sollte, schweiften ihre Gedanken erneut zu Atsushi. In ihrem Kopf schwirrten so viele Fragen herum, welche sie sich nicht selbst beantworten konnte und auf die sie dennoch eine Antwort haben wollte. Sie wollte unbedingt wissen, wie es Atsushi geht, was er macht, ob er auch an sie denkt und ob er sie auch so sehr vermisst. Abgesehen davon wollte Misaki auch allgemein viel mehr über ihn wissen, denn wenn sie ehrlich war, dann wusste sie, obwohl sie sich schon länger kannten und zuvor Zeit miteinander verbracht hatten, kaum etwas über ihn. Sie hatten sich nie über die normalen Kleinigkeiten, wie zum Beispiel die Lieblingsfarbe oder das Lieblingsessen, unterhalten und einander dadurch besser kennengelernt. Allerdings hatten sie dafür auch weder die Zeit, noch die besten Umstände gehabt, da sie sich zu diesem Zeitpunkt auf das Labor und dessen Leiter fokussieren mussten. Und dennoch war Misaki sich sicher, dass sie Atsushi liebte. Manchmal fragte sie sich zwar, ob das alles bloß eine Farce war, aber sobald sie an ihn dachte und all diese Gefühle fühlte, die er in ihr hervorrief, war dieser Gedanke wieder wie weggeblasen. Es gab schließlich nicht die Voraussetzung, dass man eine Person in- und auswendig kennen musste, um sie lieben zu können. Manche würden es womöglich als unlogisch betrachten, doch Liebe war noch nie etwas, was der Logik folgte oder dieser gar entsprang. Sie hatten viel miteinander durchgemacht und Misaki war davon überzeugt, dass das Schicksal sie zusammengeführt hatte, genauso wie es sie damals zu Chuuya geleitet hatte. Denn ganz egal, wie positiv oder negativ ein Ereignis auch sein mag, es geschieht nichts ohne Grund und auch, wenn man diesen nicht kennt oder versteht, ist er stets existent - dessen war sie sich sicher.
Als Misaki schließlich nach einer Weile stehenblieb und sich umsah, bemerkte sie erst, wo sie ihre Beine eigentlich hingeführt hatten. Denn unweit vor ihr war das Gebäude, in dem sich das Büro der Armed Detective Agency befand. Etwas verwirrt runzelte sie die Stirn und für einen Augenblick dachte sie sogar darüber nach, ob sie Atsushi vielleicht doch einen kurzen Besuch abstatten sollte. Jedoch verwarf Misaki diesen Gedanken sogleich wieder, da das Risiko und die damit verbundenen Konsequenzen einfach zu hoch wären. Sie presste frustriert ihre leicht zuckenden Lippen aufeinander und ballte die zitternden Hände zu Fäusten, während sie sich prompt umdrehte und in Bewegung setzte. Mit gesenktem Kopf hastete sie den Weg zurück, bis sie hinter sich plötzlich eine bekannte Stimme ihren Namen rufen hörte und deshalb ruckartig stehenblieb. Beinahe wie erstarrt stand Misaki da und konnte neben ihrem wie wild pochenden Herz bloß die Schritte hören, welche sich ihr rasant näherten. Doch kurz bevor diese sie erreicht hatten, kam sie wieder zur Besinnung und rannte reflexartig in eine Gasse, die sich zu ihrer Linken befand. Allerdings kam sie nicht besonders weit, da es sich um eine Sackgasse handelte und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich dieser Situation zu stellen. Leise fluchend drehte Misaki sich um und lehnte ihren Rücken an die schmutzige, mit Graffiti beschmierte Wand, während die näherkommenden Schritte, deren Echo von den Mauern widerhallte, immer langsamer wurden und schließlich verstummten, als die Person unweit vor ihr stehenblieb. Ihr Blick war starr auf den Boden gerichtet, da sie sich einerseits schämte, dass sie weggelaufen war, doch andererseits wusste sie auch, dass sie nicht viele Optionen gehabt hatte. Jedoch war das jetzt ohnehin nicht mehr wichtig, weil sie nicht länger weglaufen konnte und wollte. Ihr Verhalten kam Misaki selbst so lächerlich vor, dass sie nur den Kopf schüttelte und leise seufzte, ehe sie den Blick hob und auf ihr Gegenüber richtete.
»Wir haben uns lange nicht gesehen, Atsushi-kun...«, sagte sie leise, wobei man den Schmerz in ihrer Stimme überdeutlich hören konnte.
»J-ja und du hast mir sehr gefehlt, aber... warum bist du vor mir weggelaufen?«
»Du hast mir auch sehr gefehlt...«, erwiderte Misaki betrübt seufzend, »Aber du weißt genau, dass man uns nicht zusammen sehen darf. Wenn Mori-san das erfahren würde, dann hätte ich ein ernsthaftes Problem und ich will weder dich, noch Chuuya in Gefahr bringen. Darum sollte ich lieber schnell von hier verschwinden. Tut mir leid...«
Misaki stieß sich zögerlich von der Wand hinter sich ab und wich Atsushis Blick niedergeschlagen aus, als sie an ihm vorbeiging. Doch plötzlich spürte sie seine Hand, die sanft ihre ergriff und sie zum Stehenbleiben brachte. Mit einer schmerzlichen Sehnsucht, die sich in ihren Augen widerspiegelte, sah sie ihn an, während er sie vorsichtig näher zu sich zog und schließlich seine Arme um sie schloss. Atsushi drückte sie sacht an sich und legte seinen Kopf auf ihrem ab, indessen sie seine innige Umarmung erwiderte. Seine Nähe genießend und sehnsüchtig schmiegte Misaki sich an ihn, wobei sie kurzzeitig alles andere um sie herum vergaß. In diesem Augenblick zählte ausschließlich ihre Zweisamkeit und die Wärme des Anderen, auf die sie so lange verzichtet hatten. Sie konnte Atsushis beschleunigten Herzschlag hören, wodurch sich unweigerlich ein kleines, trauriges Lächeln auf ihre Lippen schlich.
Eine ganze Weile lang standen sie einfach bloß stillschweigend und eng umschlungen da, bis Misaki die Umarmung schließlich löste und ihre Hände sanft auf Atsushis Wangen legte. Liebevoll strich sie mit den Daumen über seine zarte Haut und hielt den Blickkontakt, während sich Tränen in ihren Augen sammelten. Er legte seine Hände um ihre Taille und lächelte sie warmherzig an, wodurch ihre Angst kurzzeitig ausgeblendet wurde und sie sich geborgen fühlte. Und es war ebenso diese Geborgenheit, die Misaki im nächsten Moment dazu brachte die geringe Distanz zwischen ihnen zu überbrücken und ihre Lippen zu einem innigen Kuss zu vereinen. Indessen wanderten ihre Hände hinter seinen Nacken, wo sie diese verschränkte, um ihn noch näher an sich ziehen zu können.
Während sich ihre Lippen zärtlich aneinander schmiegten, konnte Atsushi spüren, dass sie – genau wie er – all ihre Gefühle in diesen Kuss legte und damit zum Ausdruck brachte, wie viel er ihr bedeutete und wie sehr sie ihn vermisst hatte. Ein wohliges Kribbeln durchzog Misakis gesamten Körper, ihr Herzschlag beschleunigte sich rasant und eine einzelne Träne floss über ihre Wange.
Als sie sich schließlich voneinander gelöst hatten, sahen sie sich noch einen Augenblick lang tief in die Augen, ehe Misaki drei kleine Schritte rückwärts machte und so etwas Abstand zwischen sie brachte. Ihr war bewusst, wie sehr sie Atsushis Nähe brauchte, jedoch war ihr ebenso bewusst, wie gefährlich es war, wenn sie sich öffentlich trafen und Zärtlichkeiten austauschten. Die Port Mafia hatte ihre Augen und Ohren immerhin überall, was in diesem Fall alles noch viel komplizierter gestaltete. Misaki konnte sich nicht einmal sicher sein, dass sie jetzt nicht beobachtet worden waren und es schon längst zu spät war. Doch selbst wenn nicht, dann änderte das nichts an der Tatsache, dass sie so schnell wie möglich verschwinden sollte. Sie atmete tief durch und sah Atsushi dann traurig lächelnd an, wobei ihre Lippen und Mundwinkel jedoch leicht zuckten.
»Ich muss jetzt gehen, bevor uns jemand zusammen sieht und wir dadurch Schwierigkeiten bekommen. Also lass mich diesmal einfach gehen und mach es mir nicht noch schwerer, ich bitte dich...«
»O-okay, aber wir können uns doch bald wiedersehen, oder?«, fragte Atsushi hoffnungsvoll.
»Ich würde wirklich gern immer bei dir sein, aber... wir wissen beide, dass das unter diesen Umständen nicht möglich ist. Wir können uns eben leider nicht einfach so normal treffen, wie andere es tun und ich weiß nicht, wann oder ob wir uns wiedersehen werden. Es tut mir leid... bitte verzeih mir«, sagte Misaki, wobei ihre Stimme nach und nach immer brüchiger klang.
Sie begann zu schluchzen, da sie es nicht länger unterdrücken konnte und auch Atsushi hatte Tränen in den Augen, die dann über seine Wangen flossen. Er ging einen Schritt auf sie zu, weil er sie trösten wollte, indessen kam sie ihm entgegen und stahl sich noch einen letzten, kleinen Kuss.
»Ich liebe dich, Atsushi«, flüsterte Misaki schluchzend gegen seine Lippen, ehe sie sich umdrehte, aus der Gasse rannte und ihn schweren Herzens einfach perplex stehen ließ.

Als Misaki einige Stunden später mit geröteten und etwas geschwollenen Augen zu Hause ankam, saß Chuuya bereits auf der großen Sitzlandschaft und trank genüsslich ein Gläschen Rotwein. Sie zog leise ihre Schuhe aus und wollte anschließend schnellstmöglich in ihr Zimmer eilen, damit er nicht sah, dass sie geweint hatte. Doch bereits nachdem sie einen Fuß in das Wohnzimmer gesetzt hatte, drehte er sich beinahe wie automatisch zu ihr um. Chuuya wollte sie eigentlich bloß begrüßen, hielt allerdings kurz inne und musterte sie eingehend. Er bemerkte sofort, dass eindeutig etwas nicht stimmte, da sie ihn sonst immer mit einer Umarmung begrüßte und sich zu ihm setzte, wenn sie einmal später nach Hause kam als er. Und während er Misakis Gesicht genauer betrachtete, forderte er sie dazu auf, sich zu ihm zu setzen. Denn Chuuya hatte bereits auf sie gewartet und daher ein zweites, langstieliges Glas mit Wein bereitgestellt. Leise seufzend kam sie der Aufforderung nach und ließ sich neben ihm auf die Sitzlandschaft sinken, wobei sie ihren Kopf gesenkt hielt, sodass ihre Haare größtenteils ihr Gesicht verbargen.
»Ist etwas vorgefallen oder plagen dich wieder die Erinnerungen der Vergangenheit?«
Misaki überlegte angestrengt, was sie darauf erwidern sollte, denn sie wusste, dass Chuuya eine Antwort erwartete. Sie konnte es ihm auch nicht verübeln, da sie bestimmt schrecklich aussah und er sich Sorgen machte. Doch da er ihr eigentlich den Kontakt zu Atsushi verboten hatte, war sie sich nicht sicher, ob sie darauf wirklich antworten sollte. Denn Misaki wollte ihn weder beunruhigen, noch verärgern und schon gar nicht enttäuschen. Allerdings wollte sie Chuuya auch nicht belügen, wodurch sie erneut in einen Zwiespalt geriet. Letztendlich würde es aber wahrscheinlich ohnehin darauf hinauslaufen, dass sie es ihm einfach erzählte, weil sich alles andere falsch anfühlen würde und sie sich sonst wie eine Lügnerin vorkäme. Daher machte es auch keinen Sinn und war zwecklos, diesem Gespräch auszuweichen.
»Ich war in der Stadt und bin einfach durch die Straßen spaziert, als ich plötzlich auf Atsushi traf. Anfangs bin ich weggelaufen, doch als ich in einer Sackgasse gelandet bin, musste ich mich der Situation stellen. Es war schön, ihn wiederzusehen und dennoch wollte ich eigentlich sofort gehen. Aber dann hat er mich aufgehalten und umarmt, da wurde ich schwach und habe nachgegeben. Wir... also wir haben uns geküsst und-«, erzählte Misaki leise und wehmütig, bis sie unterbrochen wurde.
»Ihr habt was?!«, fragte Chuuya sichtlich empört, »Ich hatte dir doch den Kontakt zu ihm verboten und das aus gutem Grund, wie du weißt. Und dann lässt du so etwas zu? Was ist, wenn euch jemand gesehen hat? Hast du überhaupt eine Ahnung, was das für Konsequenzen haben kann, wenn du so leichtfertig bist?«
»Ja, verdammt!«, zischte sie, »Das weiß ich doch, aber... ich kann nun einmal nichts daran ändern, dass ich ihn liebe. Kannst du das denn wirklich gar nicht nachvollziehen? Immerhin ist es bei dir und Dazai-san doch dasselbe!«
Misaki hob ihren Kopf und sah Chuuya direkt in seine vor Wut funkelnden Augen. Sie wusste, dass sie damit einen wunden Punkt getroffen hatte und es besser gewesen wäre, wenn sie Dazai nicht erwähnt hätte. Doch nun war es ohnehin zu spät, um daran noch etwas ändern zu können und sie wusste genau, was jetzt folgen würde. Denn sie hatte den Bogen überspannt und auch das Verbot missachtet, womit sie gleichzeitig sein Vertrauen missbraucht hatte.
»Du wirst ab sofort nicht mehr alleine nach draußen gehen, sondern immer von einem meiner Untergebenen oder mir begleitet werden. Solltest du diesen Befehl ebenfalls übergehen, dann wirst du streng bestraft. Wenn ich dir in dieser Hinsicht nicht vertrauen kann, dann lässt du mir keine andere Wahl und das ist mein letztes Wort!«
Anschließend nahm Chuuya sein Glas und die geöffnete Flasche Wein zur Hand, ehe er einfach in sein Arbeitszimmer verschwand und Misaki alleine ließ. Sie wusste zwar, dass er es auf seine Art bloß gut meinte und sie beschützen wollte, aber war dennoch außerordentlich wütend und traurig. Freudlos schnaubend nahm sie das langstielige Glas und betrachtete die rote Flüssigkeit darin, bevor sie es in einem Zug leerte und danach in ihr Zimmer ging. Misaki war sich jetzt schon sicher, dass es eine lange Nacht werden würde, denn an Schlaf war nicht zu denken. Nicht, nachdem dieser ganze Tag schon ein reiner Alptraum gewesen war und sie auf weitere definitiv verzichten konnte.

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