Kapitel 9 Niragi


Unachtsam reiße ich die Schubladen des Nachtschränkchens auf und wühle in dem Inhalt herum, der sich auf Zigaretten, Feueranzünder und Kondome beschränkt. Hinter mir kracht es laut. Bei einem kurzen Blick über die Schulter erkenne ich, dass Dai die gesamte Schublade aus dem Kleiderschrank herausgerissen hat.

„Ups", murmelt er überrascht. Doch dann schmeißt er sie unachtsam fort und widmet sich weiterhin der Durchsuchung des Zimmers. Kurz überlege ich, ob ich ihm daran erinnern soll, dass wir hier sind, um nach den versteckten Spielkarten zu suchen und nicht, um Möbel zu zerstören. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann ist es mir egal. Immerhin ist es nicht mein Zimmer.

„Niragi." Chiyo tritt aus dem Badezimmer. Schnell greife ich in die Schublade und lasse eine Handvoll Kondome und ein Feueranzünder in meiner Hosentasche verschwinden, ehe ich die Schublade zustoße und mich zu ihm herumdrehe.

„Ich denke nicht, dass hier jemand Karten versteckt. Wir haben alles durchsucht."

„Sind wir überhaupt sicher, dass es keine Zeitverschwendung ist?", fragt Dai genervt und verschränkt die Arme vor der Brust. „Niemand wäre so blöd den Hutmacher zu hintergehen."

Ich nehme mein Gewehr auf die Schulter und schlendere an ihnen vorbei in den Flur des Hotelzimmers.

„Die Anweisung kommt von Aguni", sage ich und frage mich, wieso ich, ausgerechnet ich, die beiden Vollidioten bekommen habe, während Last Boss die unteren Etagen mit den wirklich hilfreichen Leuten durchsucht. „Ihr wollt mir doch nicht sagen, dass Aguni, unser Boss, sich irrt?" Provozierend hebe ich eine Augenbraue und reiße die Tür auf, ehe ich mich zu ihnen herumdrehe. „Denn das wäre Hochverrat und ihr wisst was mit Verrätern passiert."

Dai schluckt hörbar, während Chiyo langsam verstehend nickt. Ich lächle zufrieden und hebe mein Kinn an, damit sie genau sehen, wer von uns drei das Sagen hat. Ich bin Agunis rechte Hand, sein engster Vertrauter und wenn jemand schlecht über ihn redet, dann kenne ich keine Gnade.

„War nicht so gemeint", murmelt Chiyo schnell, als er bereits bemerkt, wie der Griff um meine Waffe fester wird. „Natürlich weiß Aguni was er tut. Er würde uns nicht losschicken, wenn er sich nicht sicher wäre."

„Spiel dich nicht so auf, Niragi", brummt Dai mutig und drückt seine Brust nach vorne, damit er etwas größer wirkt. Ich lache auf, weil ich nicht fassen kann, dass er es wirklich wagt, mich verbal anzugreifen. Nur sehr schwer widerstehe ich dem Drang, ihm das Gehirn wegzublasen, obwohl davon auch nicht viel übrig ist. In seinem früheren Leben war Dai der beste in seiner Schule mit Aussichten auf ein Anwaltsstudium. Aber seit er hier ist, säuft er sich jeden Abend die Intelligenz weg und jetzt besteht er aus nichts mehr, als Muskeln.

„Bist du lebensmüde?", frage ich betont ruhig.

„Ich meine es erst! Du tust, als wärst du unser Boss, aber das bist du nicht. Aguni ist unser Anführer. Du bist nur ein Lakai, genau wie wir. Also tu nicht so, als ob du uns überlegen bist."

Innerhalb von zwei Sekunden habe ich mein Gewehr von der Schulter genommen, den Finger am Abzug und den Lauf der Waffe direkt auf den Punkt zwischen seinen Augen gerichtet. Ich mag zwar verbal nicht der Beste sein, aber ich bin sehr zielsicher und habe schnelle Reflexe entwickelt, seitdem ich hier in diesem Land bin.

„Sag das nochmal!", knurre ich ihn an. Er macht mich wütend. So sehr. Aber ich musste Aguni versprechen niemanden umzubringen, der es nicht wirklich verdient hat. In meinen Augen hätte ich zwar in diesem Moment alle Rechte dazu, aber Aguni betont jedes Mal, dass die Beachregeln auch für uns gelten, und das bedeutet, niemand wird erschossen, wenn er nicht gegen die Regeln verstößt. Obwohl ich immer noch nicht verstehe, warum wir uns daran halten müssen. Immerhin ist der Hutmacher nicht unser Anführer. Manchmal hasse ich Loyalität.

Dai ist zwar dumm und leichtsinnig, aber dieses verfickte Arschloch weiß, dass ich ihm nichts tun kann. Jedenfalls nicht außerhalb eines Spiels. Aber ich werde dafür sorgen, dass wir in dem nächsten Spiel gemeinsam sein werden, und dann räche ich mich für seine Worte.

Dai lacht gelangweilt auf und zieht seine Knarre aus dem Bund seiner Hose heraus, ehe er sie auf mich richtet.

„Was soll das werden? Ein Machtspielchen?" Er verzieht den Mund zu einem siegessicheren Grinsen. „Nimm die Waffe herunter."

„Dai", bittet Chiyo ruhig und legt eine Hand auf seine Schulter. „Niragi." Er schaut zu mir. „Könnt ihr das nicht später klären? Ich würde wirklich gerne erst das Stockwerk zu Ende durchsuchen, bevor einer von euch anfängt wild herumzuballern."

„Ich ballere nicht wild herum", zische ich und behalte die Stelle zwischen Dais Augen genau im visiert. „Ein glatter Schluss und es ist vorbei."

Doch zu meiner Überraschung lässt Dai die Waffe sinken und schiebt sie zurück in den Bund seiner Hose.

„Chiyo hat Recht. Lasst es uns erst beenden. Fürs erste hast du gewonnen, Niragi."

Ich hebe überrascht eine Augenbraue und entspanne meine Haltung, wenn auch wachsam. Langsam schultere ich die Waffe wieder, werfe Dai jedoch einen skeptischen Blick zu. Plant er etwas? Seinem Blick nach zu urteilen gibt er nicht einfach nur so auf. Irgendetwas hat er vor. Wenn ich später einfach behaupte, dass er mir im Weg war, als wir die Karte der Verräter an uns nehmen, würde man es mir glauben?

Ich lächle zur Tarnung, damit er mir meine Gedanken nicht ansieht.

„Geht doch." Dann drehe ich mich um und wende mich der nächsten Tür zu, die ich mit Schwung auftrete. „Ich bin umgeben von Idioten", knurre ich leise und betrete das nächste Zimmer.

Die Durchsuchung ging recht schnell, da in diesem Raum jemand wohnt, der nicht viel besitzt. Innerhalb kurzer Zeit habe wir sein gesamtes Hab und Gut auf seinem Bett verstreut und sind zu dem Entschluss gekommen, dass er unschuldig ist.

„Hey, was macht ihr da mit meinen Sachen?", fragt ein junges Mädchen, dessen enger Bikini verboten sexy an ihr aussieht. Mit großen runden Schulmädchenaugen schaut sie auf ihre verstreuten Sachen und die aufgerissenen Schränke. Ich verziehe beeindruckt das Gesicht. Ein gutes hat die Beachregel, die Frauen tragen kaum ein Stück Stoff am Körper. Es ist superleicht, sich vorzustellen, wie sie wohl nackt aussehen. In meinem Kopf entsteht ein Kopfkino in der ich ihr in allen erdenklichen Stellung das Gehirn herausvögel. Doch Chiyos Stimme unterbricht unsanft meine Gedanken und ich erwache schnell aus meinem kurzen Tagtraum.

„Wir durchsuchen die Zimmer. Auftrag vom Hutmacher", erklärt er knapp.

„Aber das ist privat!"

„Im Beach ist nichts privat", grinst Dai und greift nach einer Tafel Schokolae, die auf ihrem Schreibtisch liegt. „Und die nehme ich jetzt mit."

Das schwarzhaarige Mädchen sieht aus, als will sie uns am liebsten zum Teufel jagen, aber sie weiß genauso gut wie ich, wozu wir fähig sind. Und diese Gefühle, die in mir ausgelöst werden, die Gefühle der Macht, sind so berauschend. Ich liebe Borderland. Ich liebe es wirklich. Hier habe ich Macht, das Sagen und eine Stellung, in der sich mir niemand traut, sich mir zu widersetzen. Kurz huscht mein Blick zu Dai herüber. Na ja, zumindest weiß ich, wie ich diese Leute unauffällig beseitige. Mein Blick wandert zurück zu dem Mädchen und ich lasse meinen Blick langsam und intensiv an ihrem Körper herabwandern. Sie fühlt sich dabei deutlich unwohl und versucht ihren Körper vor meinen Blicken zu schützen, in dem sie die Arme vor ihrer Brust verschränkt. Aber es bringt nichts. Sie hat sich bereits in mein Gehirn eingebrannt.

„Gehen wir ins nächste Zimmer", schlägt Chiyo vor und schubst Dai aus dem Raum. „Hier ist nichts."

Ich folge den beiden, bleibe jedoch vor dem Mädchen stehen und neige meinen Kopf zu ihr herunter. So dicht, dass sie vor Schreck einen Schritt zurückweicht und mit dem Rücken gegen den Schrank prallt. Ich lächle zufrieden. Mir ist durchaus bewusst, dass sie Angst vor mir hat. Aber genau das turnt mich am meisten an. Sie beweist mir meine Macht jedes Mal aufs Neue. Nie wieder werde ich der verletzbare Mann sein, den man ärgern und zusammenschlagen kann. Der sich nicht traut sich zu wehren und Rücksicht auf die Gefühle anderer nimmt. Hier in Borderland nehme ich mir, was ich will und wann ich es will. Und kein Gesetz verbietet es mir. Das liebe ich am meisten.

„Warte heute Nacht auf mich", raune ich ihr grinsend zu. „Ich werde dich dazu bringen meinen Namen immer und immer wieder zu schreien."

Noch bevor sie etwas sagen kann, verlasse ich ihr Zimmer. Das letzte, was ich höre, ist ein kleines leises Wimmern.

Drei Zimmer später sind wir endlich das erste Mal fündig geworden. Die Spielkarten sind alle in einer kleinen Schachtel unter der Matratze versteckt gewesen. Insgesamt haben vier Zimmer ihre Spielkarten versteckt.

„Gute Arbeit", sage ich ohne eine Spur von Lob in der Stimme. „Chiyo, überbring Aguni die Information und Dai und ich fangen die Leute ab, sobald sie den Beach betreten. Die Spiele müssten bald vorbei sein."

Chiyo nickt und eilt voraus, während Dai mir eine Weile fragend ansieht.

„Wolltest du ihn loswerden, um mich umzubringen?", fragt er nun nicht mehr ganz so mutig.

„Nein", sage ich ehrlich. „Das tue ich, wenn du nicht damit rechnest. Aber jetzt lass uns den Auftrag beenden."

Wir stehen oben an der Treppe und beobachten das Treiben der hereintretenden Leute. Die Zurückkehrenden jubeln, aber viele weinen auch. Dieses Mal muss es besonders blutig gewesen sein, denn nur die Hälfte kehrt zum Beach zurück. Ich lehne an der Säule und lasse meine Augen wachsam über die Menge gleiten. Sie dürfen uns auf keinen Fall entwischen. Bestenfalls haben die Spiele sie bereits kalt gemacht, dann hätte ich weniger Arbeit.

Es vergeht eine halbe Stunde, dann eine Stunde und von ihnen ist immer noch keine Spur. Derweilen hat sich Chiyo wieder zu uns gesellt, sowie Last Boss und seine beiden Lakaien. Die Leute unten in der Empfangshalle werden nervös. Immer und immer wieder schauen sie zu uns herauf, als erahnten sie bereits, dass wir etwas planen. Sie betrachten uns ehrfürchtig und voller Angst. Das gefällt mir. Doch nach einer Weile wird mir langweilig. Seufzend stoße ich mich von der Säule ab und stütze mich mit beiden Händen auf dem Geländer ab. Dabei entdecke ich Akari, die mit Miyu im Schlepptau die Halle durchquert. Bei Akaris schnurstracksen Schritttempo wehen ihre schulterlangen Haare, in einer blass lilanen Farbe nach hinten. Hat sie es etwa eilig? Sie dreht sich kurz zu ihrer Freundin herum und zeigt ihr unauffällig mit einer Handbewegung, dass sie sich beeilen soll. Aber ich habe es gesehen. Außerdem benehmen sich die beiden sehr verdächtig. Wo wollen sie um diese Uhrzeit noch hin? Die Spiele sind doch schon vorbei? Nachdenklich kneife ich die Augen zusammen und neige mich etwas weiter über das Geländer. Miyu greift nach Akaris Hand und zwingt sie zum Stehenbleiben. Akari sagt etwas, was ich nicht verstehen kann, und legt beide Hände auf die Schultern ihrer Freundin. Das ist der Moment, in dem mein Herz kurz aussetzt. Ich kenne diesen Blick. Verdammt, wieso ist es mir nicht viel früher aufgefallen? Die ganze Zeit habe ich überlegt, woher ich sie Akari kenne und jetzt plötzlich läuft die ganze Szene wieder vor meinen Augen ab.

*Flashback*

„Na, hast du Angst, Niragi?" Mit einem heftigen Schwung stößt er mich gegen die Wand. Unsanft prallt mein Hinterkopf gegen die Steinwand, doch mir bleibt keine Zeit den Schmerz zu spüren, da mir der Kerl im gleichen Moment mit voller Kraft in mein Gesicht schlägt. Ich schließe die Augen, um nicht aufzuschreien. Den Gefallen will ich ihnen nicht tun. Aus Reflex will ich zurückschlagen, aber zwei weiterer Junge greifen nach meinen Armen und nehmen mir damit nicht nur meine Bewegungsfreiheit, sondern auch die Chance zu fliehen. Hinter ihnen, in sicherer Entfernung leer der schlacksigste von ihnen gerade meinen Rucksack auf dem Boden aus. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Diese Gruppe von Jungs hat mich jeden Tag im Visier. Jeden einzelnen verdammten Tag. Sie machen mich fertig, sowohl verbal, als auch körperlich. Sie geben mir das Gefühl, dass ich der letzte Dreck bin, nicht wert gemocht zu werden und zu schwach, um mich zu wehren. Ich bin nicht einmal mutig genug ihnen zu sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen. Ich weiß nicht einmal, wieso sie auf mich losgehen. Vielleicht bin ich ein zu leichtest Opfer, weil ich mich nicht traue, mich zu wehren. Ich bin feige und das hasse ich an mir am meisten.

Keuchend beuge ich mich nach vorne, als mich der Anführer von ihnen mit einem heftigen Schlag in den Bauch boxt. Jegliche Luft dringt aus meinen Lungen und ich habe das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Der Schmerz trifft mich grausam und unbarmherzig. Blut tropft bereits aus meiner Nase. Sie werden nicht aufhören, nicht bevor ich am Boden liege. Ich denke darüber nach, mich einfach in den Dreck zu schmeißen und so zu tun, als wäre ich bewusstlos, damit sie von mir ablassen. Doch die Entscheidung wird mir abgenommen, als ein Mädchen um die Ecke kommt und sich entspannt gegen die Wand lehnt. Ihre dunkelbraunen Haare werden vom Wind in ihr Gesicht geweht.

„Ja, es sind vier Jungs", spricht sie sachlich in den Hörer. „Der Uniform nach zu urteilen, sind sie von der Yonggang Middle School."

Meine Peiniger halten inne und sehen das Mädchen sprachlos an. Sie lassen mich los, dabei stoße ich erneut gegen die Wand und rutsche daran herunter auf den Boden. Das Blut aus meiner Nase tropft auf den Boden und vermischt sich mit dem Dreck.

„Hey!", schrie der Anführer das Mädchen an und ging wütend auf sie zu. „Was tust du da?!"

Zur Antwort hält sie ihm Lächeln ihr Handy entgegen, auf dem ganz deutlich der Name Polizei zu lesen ist.

„Haben sie die Stimme aufgenommen?", fragt sie und spricht wieder in ihr Handy herein, während sie beginnt das Aussehen des Anführers zu beschreiben.

„Scheiße!", ruft dieser. „Schnell weg hier!"

Bevor ich weiß, wie mir geschieht, sind sie verschwunden und zurückbleibt das Mädchen, dass noch das Aussehen der restlichen Jungs beschreibt, während sie langsam auf mich zukommt. Schnell wische ich mir das Blut mit dem Handrücken von der Nase, als sie vor mir stehen bleibt und ihr Handy in der Hosentasche verschwinden lässt. Mit einem kleinen Lächeln hockt sie sich vor mich hin. Erst jetzt sehe ich, dass sie auch noch ihre Schuluniform trägt, eine ganz andere als meine. Sie muss uns auf dem Weg nach Hause gehört haben. Aber warum ging sie nicht vorbei, wie alle anderen? Niemanden hat es bisher interessiert, wenn mich jemand auf offener Straße verprügelt. Wieso hat ausgerechnet sie mir geholfen? Langsam gleitet mein Blick weiter nach oben zu diesen vollen Lippen, die mich noch immer leicht anlächeln. Ihr Gesicht ist schmal, was ihre Augen groß wirken lässt. Ihr dunkelbrauner Pony fällt ihr in die dunklen Augen.

„Alles in Ordnung?", fragt sie. Ihr Gesichtsausausdruck wird besorgt, als sie meine Verletzungen genauer betrachtet. „Kannst auf aufstehen?"

Ohne ihr zu antworten, rapple ich mich vom Boden auf und nicke unbeholfen. Sie hat diese Ausstrahlung, die einen schnell einschüchtert, obwohl sie freundlich lächelt. Aber genau das finde ich an ihr wunderschön. Sie wirkt so stark und mächtig.

„Wohnst du hier in der Nähe?", fragt sie. Selbst ihre Stimme klingt wie Musik, hoch und völlig klar.

„Ich war auf dem Weg zur arbeit", sage ich und zucke zusammen, als sie meine Stelle am Kinn berührt, die von dem Kinnhaken höllisch wehtut.

„Entschuldige", murmelt sie erschrocken und nimmt sofort ihre Hand weg. „Aber das sieht übel aus. Vermutlich wird es anschwellen und so kannst du nicht auf Arbeit."

„Schon okay." Meine Stimme ist im Gegensatz zu ihrer instabil und unsicher. Sie macht mich nervös und ich frage mich immer noch, wieso sie mir geholfen hat. Wieso mir? Einem niemand? „Ich arbeite in einem kleinen Markt. Da kann ich meinen Kiefer kühlen."

„Warum haben sie das getan?" Ihre Frage trifft mich unvorbereitet und ich zucke zusammen. Durch den Schlag in den Magen, tut mir noch immer jeder Atemzug weg, aber ich will es mir nicht anmerken lassen. Sie soll mich nicht für einen noch größren Loser halten, als ich eh schon bin.

„Keine Ahnung."

„Tun sie es öfter?"

„Warum hast du mir geholfen?", stell ich die Gegenfrage. „Es ist nicht dein Problem. Du hättest einfach weitergehen können."

Das kleine Lächeln erscheint zurück auf ihrem Gesicht.

„Ich mag keine Ungerechtigkeit. Und vier gegen einen erscheint mir sehr unfair."

„Hast du ... wirklich die Polizei gerufen?"

„Nein", gesteht sie. „Ich habe meine beste Freundin angerufen und nur schnell den Namen geändert. Aber du solltest vielleicht dorthin und eine Anzeige machen."

Schnell schüttle ich meinen Kopf.

„Nein, wenn sie es herausfinden, dann überlebe ich das nicht." Schnell schaue ich mich um, ob uns auch wirklich niemand zuhört. „Ich muss jetzt auch wirklich zur Arbeit. Also ... danke." Schnell gehe ich zu meinem Rucksack und stopfe meine gesamten Sachen wieder hinein. Ohne mich umzudrehen, schultere ich meinen Rucksack, obwohl meine Schulter schrecklich wehtut, und laufe davon.

Ab diesem Tag begegnete ich ihr hin und wieder, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit war oder gerade Feierabend hatte. Sie erkannte mich nie. Vermutlich hatte sie mich längst vergessen. Für sie war ich nur ein Typ, dem sie einmal geholfen hatte, aber für mich hatte sie so viel mehr getan. Meine Retterin, dessen Namen ich nicht kannte, wurde zu meiner ersten Liebe, die ich nur aus der Ferne beobachtete. Ich hatte mich nie getraut sie noch einmal anzusprechen, aber vergessen hatte ich sie nie.

*Flashbackende*

„Sie sind da." Last Boss reist mich aus meiner Erinnerung, die sich wie ein Nebel noch im hinteren Teil meines Kopfes herumschwirren. Mit großen, überraschten Augen schaue ich dem lilahaarigen Mädchen nach, das mit ihrer Freundin soeben aus der Tür verschwunden ist. Es ist die gleiche mächtige und beschützerische Ausstrahlung wie damals. Der gleiche entschlossene Blick.

Sie ist es, schießt es mir durch den Kopf. Nach all den Jahren treffen wir uns ausgerechnet hier wieder.

„Niragi, komm schon!", sagt Dai ungeduldig, nachdem der Rest bereits die halbe Treppe herunter gelaufen war. Last Boss und seine beiden Jungs fangen zwei der Typen ab, die mit einem triumphierenden Gelächter die Halle betreten. Unsanft packen sie die beiden an den Schultern und führen sie gnadenlos wieder nach draußen. Auch Dai und Chiyo greifen sich jeweils einen und ziehen sie mit sich aus dem Gebäude, während sie sich wehren und laut herumbrüllen. Ein Raunen geht durch die anwesenden Leute im Gebäude. Sie wissen, dass wir die Verräter gefunden haben, und sie wissen genauso gut wie ich, was mit ihnen passiert. Ich schüttle meinen Kopf, um den letzten kleinen Gedanken an meine Peiniger und an Akari zu vertreiben. Also umgreife ich die Waffe an meiner Schulter fester. Es ist meine Aufgabe, den letzten Schritt durchzuziehen. Und ganz ehrlich? Ich freue mich darauf. Mit erhobenen Kopf und gestrafften Schultern schreite ich die Treppe runter und bahne mir meinen Weg durch die aufgewühlte Menge, die erschrocken vor mir zurückweicht. Grinsend fahre ich mit der Zunge über meine Lippe und genieße die Aufmerksamkeit und die Angst der anderen, während meine Füße mich selbstsicher nach draußen führen. Dai prügelt bereits auf den ersten ein, der wimmernd am Boden liegt und um Vergebung fleht, doch ein kräftiger Tritt in das Gesicht bringt ihn schnell zum Schweigen. Lachend schubse ich Chiyo zur Seite, packe den zweiten Verräter am Kragen und zerre ihn dicht an mein Gesicht heran. Seine braunen Augen funkeln mich trotzig an, aus einer Platzwunde an der Stirn läuft bereits das Blut und ich merke das aufgeregte Gefühl in mir aufsteigen, als ich ihn noch ein Stück näher an mich heran ziehe.

„Wir haben nichts falsch gemacht", zischt er mir entgegen und mir gefiel der Klang der Verzweiflung in seiner Stimme, gemischt mit der Wut in seinen Augen.

„Ihr habt Karten zurückgehalten. Du weißt, was mit Verrätern passiert", säusel ich vergnügt und lasse meine Zunge wie ein Raubtier über meine Zähne gleiten, als sich die schwarzen Pupillen weiten. Amüsiert lasse ich seinen Kragen los und verpasse ihm einen Kinnhaken mit dem Griff meines Gewehrs. Stöhnend fliegt sein Kopf nach rechts und Blut spritzt auf den Boden. Das Adrenalin strömt durch meinen Körper, als ich immer wieder auf den Kerl eintrete.

„Idioten. Alles Idioten!", lache ich und beobachte, mit wie viel Panik er versucht von mir wegzukommen. Seine aufgeschürften Finger krallen sich in den Boden, hustend würgt er einen Schwall Blut hoch und zieht seinen geschundenen Körper über den Kies.

„Schaut euch die Schnecke an", lache ich und winke den Rest des Militärtrupps zu mir. Die anderen Verräter liegen bereits tot in der Ecke, was mich dazu bringt mein Gewehr von der Schulter zu nehmen. Lächelnd ziele ich auf das kriechende Elend und feuer den letzten Schuss ab. Kurz zuckt sein Körper, ehe der Kopf leblos auf dem Boden aufknallt und eine Blutlache hinterlässt.

„Räumt das auf", sage ich an Chiyo und Dai gewandt und schlendere zusammen mit Last Boss zurück in das Gebäude. Glückselig stoße ich die Luft aus und merke, wie sich meine Muskeln entspannen. Mein Kopf ist frei von den zuvor quälenden Gedanken und ich sehne mich bereits nach einer warmen Dusche, ehe ich mich in den nächsten Spaß stürzen kann. 

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