Kapitel 5 Akari
Das Dröhnen in meinem Kopf ist kaum zu ertragen, als ich am nächsten Morgen aufwache und langsam die Augen öffne. Meine Klamotten von gestern Abend stinken nach Alkohol, dass mir beinahe schlecht wird, und ich vergrabe mein Gesicht tiefer in dem wunderschönen weichen Kissen, dass so herrlich nach mir riecht. Erneut schließe ich die Augen und atme tief durch, aber der starke Alkoholgeruch ist nicht hilfreich bei meinen Kopfschmerzen und so krieche ich widerstrebend von meinem gemütlichen Bett herunter. Der Vorteil Mitglied im Beach zu sein ist, dass jeder sein eigenes wunderschönes Hotelzimmer bekommt mit fließendem Wasser und Strom. Ich würde mich am Liebsten den ganzen Tag hier verkriechen, aber leider gibt es keinen Zimmerservice, also muss ich mir früher oder später etwas zu Essen besorgen.
Mit schweren Schritten schleife ich mich in das Badezimmer und bekomme einen Schreck, als ich mein Anblick im Spiegel sehe. Sofort stemme ich mich über das Waschbecken, um mein blaues Auge genauer zu betrachten. Jetzt wo ich es sehe, verstehe ich auch, warum ich nicht auf der Seite schlafen konnte. Es ist nicht sonderlich groß, allerdings umrahmt es meine dunkelbraunen Augen, wie einen dunkelblauen Fleck. Vorsichtig hebe ich meine Hand und berühre mit dem Finger sanft die Stelle, schrecke aber sofort schmerzhaft zurück. Autsch. Was habe ich gestern Abend nur getan? Fragend krame ich in meinen Gedanken, aber ich habe einen absoluten Blackout. Alles, was ab der Party begann, ist verschwunden. Mein Blick wandert nach unten zu meinen Armen, an denen ich jetzt ein Brennen spüre. Zwei große Kratzspuren ziehen sich auf meinen beiden Unterarmen entlang. Großartig. Wenn ich mich nicht täusche, dann habe ich mich anscheinend geschlagen. Ich bin ja so erwachsen.
Nach einer heißen Dusche und einem Klamottenwechsel sieht die Welt schon ganz anders aus. Dank der dämlichen Beachkleiderordnung fühle ich mich immer halbnackt, weshalb ich mir eine Strickjacke über mein Bikinioberteil ziehe und eine kurze Hose trage. Damit mein blaues Auge nicht so auffällt, greife ich nach der Sonnenbrille auf meinem Nachtschrank und bin erleichtert, dass sie den Fleck der Schande versteckt.
Halb verschlafen und geistig abwesend, schleppe ich mich den Flur entlang, auf dem Weg zu Miyus Zimmer. Doch sehr weit komme ich nicht, denn als ich um die Ecke biege, stehen zwei Jungs vom Militärtrupp vor mir und betrachten mich mit verschränkten Armen von oben herab. Zuerst bleibe ich unschlüssig stehen und schaue sie abwartend an, doch als sie weder etwas sagen, noch tun, will ich an ihnen vorbeigehen. Doch sie reagieren schneller und stellen sich mir erneut in den Weg. Genervt hole ich tief Luft und reibe mir die schmerzende Stirn.
„Gibt es irgendetwas, dass ihr mir sagen wollt?"
„Der Hutmacher möchte mit dir reden", erklärt der jüngere der beiden mit einem energischen Tonfall.
„Kann das warten?", frage ich hoffnungsvoll. Besonders deshalb, weil ein Gespräch mit dem Verrückten das Letzte ist, was ich mit einem Kater gebrauchen kann. „Ich würde vorher gerne noch etwas essen, sonst kann ich nicht garantieren, dass ich gute Laune habe."
„Ich fürchte nicht, Akari", meldet sich der Ältere der beiden zu Wort. „Es ist dringend."
„Auf eine Stunde kommt es nun auch nicht mehr an." Ich hebe abweisend eine Hand, mache auf dem Absatz kehrt und will in die andere Richtung fliehen, aber es ist nun einmal der Militärtrupp und ihnen entwischt niemand.
„Jetzt stell dich nicht so an und komm einfach mit." Sein Gesichtsausdruck lässt keinen Widerspruch zu, genauso wenig wie die Hand, die nach meinem Arm greift und mich, zusammen mit dem anderen, den Flur entlang zerrt.
„Ich kann alleine laufen", beschwere ich mich und will mich ihren Griffen entreißen, doch sie lassen es nicht zu und bei dem Versuch, meine Stimme zu erheben, klingelt es in meinen Ohren. Kurz werfen sie sich einen Blick zu, dann greift einer unter meinen Achseln hindurch und der andere schnappt sich meine Beine. Dass diese Art von Entführung entwürdigend ist, muss ich sicher nicht betonen. Zuerst wehre ich mich noch zappelnd und rufend, aber nachdem niemand kommt, um mir zu helfen, und die anderen Beachbewohner nur teilnahmslos an uns vorbeigehen, lasse ich mich wie ein nasser Sack zum Hutmacher tragen.
Vor der Tür seines Büros bleiben sie stehen und lassen mich endlich herunter.
„Das werdet ihr noch bereuen!" Schnaubend richte ich meine Kleidung und werfe den beiden einen Todesblick zu, ehe ich Ergebens gegen die große Tür klopfte.
Der Hutmacher hat tatsächlich bereits auf mich gewartet. Mit einem Whiskeyglas in der Hand sitzt er entspannt auf einem Sessel und begrüßt mich mit einem breiten Lächeln.
„Akari", flötet er. „Wie schön, dass du es einrichten konntest."
„Ich hatte wohl kaum eine Wahl", brumme ich und schließe die Tür hinter mir. Wie immer ist sein Bademantel halb offen und ich erkenne die Bauchmuskeln, die er in keinem Moment, seitdem ich ihn kenne, zu verstecken versucht. Die Whiskeyflasche auf dem kleinen Tisch neben ihm, ist zur Hälfte geleert. Es ist zwar erst elf Uhr, aber für ihn gibt es anscheinend immer einen Anlass zu trinken. Jedenfalls erwische ich ihn selten ohne Alkohol. Seine Bewegungen sind jedoch fließend und auch in seiner Stimme erkenne ich nicht die Spur von einer verwaschenen Sprache. Egal, wie viel er trinkt, er hat es zu jeder Zeit im Griff. Etwas, womit er anderen Beachbewohnern voraus ist. Besonders mir, denn ich vertrage nicht sehr viel. Schnell schiebe ich mit dem Zeigefinger die Sonnenbrille höher auf den Nasenrücken, damit er mein blaues Auge nicht sieht, und nehme auf dem Sofa vor ihm Platz. Ich schlage die Beine übereinander und verschränke die Arme, um ihm genau zu demonstrieren, wie wenig ich von dem Gespräch hier halten werde. Was auch immer es ist, es hätte bis nach dem Essen warten können. Mit leerem Magen bin ich viel grimmiger, als sonst.
„Würde es dir etwas ausmachen, die Sonnenbrille abzunehmen?", fragt er höflich. Meine Antwort darauf ist nur ein kleines Brummen.
„Komm schon, Akari. Es fällt mir leichter, wenn ich dir bei dem Gespräch in die Augen schauen kann."
Ich brumme ein weiteres Mal, nehme sie aber schließlich ab und lege sie neben mir auf das Polster. Der Hutmacher betrachtet mich mit einem amüsierten Grinsen.
„Harte Nacht, hm?"
„Du solltest die andere sehen", erwidere ich, als wüsste ich ganz genau, was gestern Abend passiert ist. Ich kann mich mittlerweile sehr schwach an Fetzen erinnern, und die verraten mir, dass ich mich ernsthaft wegen Alkohol geschlagen habe. Bei dem Gedanken werden meine Wangen heiß und ich rutschte auf meinem Platz tiefer in das Polster.
„Oh, das habe ich und du hast einen guten rechten Harken."
„Geht es darum?", frage ich mit meiner kratzigen Katerstimme. „Bekomme ich eine Standpauke, weil ich eine Schlägerei angefangen und damit gegen die Beachregeln verstoßen habe?"
„Nein." Der Hutmacher lässt sein Glas lässig in der Hand kreisen, damit der Alkohol sanft hin und her schwingt. „Tatsächlich bist du aus einem weitaus wichtigeren Grund hier." Er stellt das Glas auf den Tisch neben sich und steht auf. Zielstrebig läuft er zu dem Fenster und schaut hinaus. Ich folge ihm mit meinen Augen und ziehe skeptisch die Augenbrauen zusammen. Je mehr Zeit er verstreichen lässt, desto verwirrter fühle ich mich. Etwas schaut seine Aufmerksamkeit erregt zu haben und er nickt langsam.
„Der Militätrupp sorgt bei uns im Beach für Ordnung und Sicherheit", beginnt er langsam. „Jedenfalls ist das ihre ursprüngliche Aufgabe." Er dreht sich zu mir herum und fixiert mich mit seinen Augen so intensiv, dass ich schnell den Blick abwende und stattdessen auf die riesige Wand mit den Spielkarten schaue. Einige von ihnen sind durchgestrichen, nicht viele, aber ein paar. Alle hier im Beach glauben daran, dass man nur dann aus Borderland herauskommt, wenn man alle Karten besitzt. Es ist Unsinn, aber ich wage es nicht, ihnen ihre Hoffnung zu nehmen. Zumal ich die Erste wäre, die nach der Aussage die Nacht nicht überleben wird. Aber Miyu und ich wissen es besser. Wir kennen die rechte Hand des Spielmachers, wenn auch nicht direkt seine Identität, aber daher ist uns bewusst, dass es nie vorbei sein wird. Allerdings gab es einen Weg hier her, also muss es irgendwie auch einen zurückgeben. Aber da sind Miyu und ich erst dabei ihn herauszufinden. Wir folgen bisher nur einer kleinen Spur, aber es ist besser, als nichts.
„In letzter Zeit", reißt mich der Hutmacher aus meinen Gedanken, „nehmen sich Aguni und seine Leute mehr Rechte heraus, die mir etwas Sorgen bereiten. Sie belästigen meine Beachbewohner und sorgen derzeit für sehr viel ... nennen wir es Eigenjustiz." Da stimme ich ihm zu, jedoch verstehe ich nicht direkt, was es mit mir zu tun hat.
„Unter ihnen ist jemand, den ich derzeit besonders im Auge habe. Niragi, ist dir sicher ein Begriff, nicht wahr?"
Langsam nicke ich.
„Aguni hat mir bestätigt, dass er die Kontrolle über ihn verliert. Die Gewalttaten und sexuelle Belästigung nimmt zu, außerdem handelt er immer öfter im Alleingang."
„Worauf genau, willst du hinaus?", fragte ich verwirrt. „Jeder weiß es, wir alle kennen Niragi. Aber was hat das mit mir zu tun?"
„Ich möchte, dass du ihn im Auge behälst", antwortet er mit einem verschwörerischen Lächeln, stellt sich hinter seinen Sessel und stützt sich auf der Rückenlehne ab. Überrascht reiße ich die Augen auf.
„Moment, was?"
„Ich beobachte es schon eine Weile, Akari", fährt er fort und greift über den Sessel herüber zu seinem Glas, um es zu exen. „Und ganz offensichtlich hast du eine gewisse Wirkung auf Niragi, die ihn beeinflusst."
„Niemand kann Niragi kontrollieren oder beeinflussen", widerspreche ich mit fester Stimme. „Er tut und lässt was er will."
„Aber er kam verletzt aus dem Spiel zurück", kontert er. „Niragi hat sich noch nie bei einem der Spiele verletzt. Er ist egoistisch und sieht nur sich selbst. Opfer gehören bei Spielen dazu. Aber dich hat er gerettet, nicht wahr?"
Vor meinen Augen läuft der kleine Film erneut ab, wie Niragi unter dem weißen Tiger begraben wurde und um sein Leben kämpft. Wir haben uns gegenseitig gerettet, wenn ich so genau darüber nachdenke.
„Das kann man nicht vergleichen. Er hat sich selbstverteidigt. Der Tiger hätte ihn sonst umgebracht."
„Gut, dann lass es mich anders formulieren." Er räuspert sich und stößt sich von dem Sessel ab, nur um drum herum zu gehen und sich vor mir in das Polster fallen zu lassen.
„Wieso hat du ihm geholfen, wenn er sich nur selbstverteidigt hat?"
„Menschlichkeit?"
„Nicht in Borderland. Es war schuld. Ohne dich wäre er verblutet. Du hast ihm genauso das Leben gerettet und das wird er nicht vergessen, auch wenn er sich wie ein Arschloch verhält, ist er nicht so eiskalt, wie er wirkt. Und genau das müssen wir nutzen, um ihn wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ansonsten fackelt er eines Tages den Beach aus Langeweile nieder."
„Also ist es doch eine Strafe", murmle ich grimmig.
„Sieh es als Besserung für das Allgemeinwohl."
„Großartig."
„Ich bitte dich, Akari. Oder nein, ich flehe dich an. Ich weiß, es ist sehr viel verlangt, aber Niragi ist wie eine Bombe, die kurz davor ist zu explodieren und dann wird er uns alle mit ins Verderben ziehen."
„Wieso opfert ihr ihn nicht einfach in einem Spiel? Wäre ja nicht das erste Mal."
„Jemanden wie Niragi kann man nicht opfern. Er hat genauso viel Glück, wie er wahnsinnig ist."
Da stimme ich ihm leider zu. Würde Niragi merken, dass man ihn versucht loszuwerden, würde er alles um sich herum vernichten und mit ins Verderben ziehen. Mal davon abgesehen, dass er ein Überlebenskünstler ist. Trotzdem will ich es nicht machen. Sollen sie doch eine von den beiden neuen Mädchen fragen. Anscheinend hatte Niragi gestern Nacht sehr viel Spaß mit ihnen. Allerdings ist mir auch bewusst, dass ich hier niemals herauskomme, wenn ich nicht wenigstens so tue, als würde ich darüber nachdenken.
„Und wie genau stellst du dir meine Aufgabe vor?"
„Werde seine Schwäche", lächelt der Hutmacher zufrieden. Er glaubt, er habe mich überzeugt, aber ich habe einfach nur das Bedürfnis mich zu übergeben. Dank der fehlenden Nahrung beginnt mein Körper zu rebellieren und auch meine Kopfschmerzen werden zunehmen stärker und fühlen sich an, als würde mein Kopf gleich explodieren.
„Sorge dafür, dass er sich in dich verliebt, dass er alles für dich tun würde. Nur wenn du das schaffst, haben wir ihn wieder im Griff. Nur Menschen mit Schwäche sind kontrollierbar."
„Was hätte ich davon? Eigentlich habe ich genug mit mir selbst zu tun."
„Ich weiß und ich verstehe deine Gedanken. Das ist keine leichte Aufgabe und ich weiß, dass ich viel von dir erwarte. Im Gegenzug kannst du fordern, was auch immer du willst. Lass es mich einfach wissen."
Die Worte des Hutmachers klingen auch dann noch in mir nach, als ich mich auf dem Weg zum Speisesaal mache. Mein Magen knurrt derweilen lautstark, aber ich ignoriere ihn, denn meine Gedanken sind viel lauter. Zum einen verstehe ich, warum er es von mir verlangt, aber warum ich? Wieso ausgerechnet, von allen Bewohnern, ich? Das ist doch völlig leichtsinnig! Wenn Niragi herausbekommt, dass ich ihm etwas vormache, wird er mich abknallen, ohne mit der Wimper zu zucken. Mal davon abgesehen, was ich mir alles gefallen lassen muss, zu dem ich definitiv nicht bereit bin. Niragi ist nicht nur das größte Arschloch im Beach, sondern auch gewalttätig, sexuell übergriffig, arrogant und absolut krank. Ich werde mich hüten, mich noch länger in seiner Nähe aufzuhalten, als nötig.
Völlig in Gedanken biege ich um die Ecke und stoße dabei direkt in jemanden hinein. Überrumpelt schaue ich hinauf, um mich für meine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen, aber sobald ich in sein Gesicht sehe, gebe ich nur ein Schnauben von mir.
„Du stehst mir im Weg", fahre ich Niragi an. Unbeeindruckt schaut er zu mir herunter und legt den Kopf dabei schief. Dabei entblößt er einen großen Knutschfleck an seiner Halsbeuge. Gott, dieser Mann kann nicht mal verletzt seine Triebe zurückhalten.
„Wenn du die Augen aufgemacht hättest", beginnt er herablassend, „dann hättest du gesehen, dass neben mir ganz viel Platz ist." Um seine Worte zu unterstreichen, macht er eine weitschweifende Handbewegung an sich vorbei. „Außerdem hast du mich angerempelt, also entschuldige dich wenigstens." Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Eine Angewohnheit, die ich wirklich an ihm hasse. Es macht ihn nicht gefährlich oder sexy, wie er glaubt, sondern unterstreicht nur seinen durchgeknallten Wahnsinn. Und dem soll ich mich an den Hals werfen? Pah, niemals!
Mein Magen knurrt laut und unnachgiebig. Schnell lege ich eine Hand auf meinen Bauch und schmelze bei dem Geruch nach gebratenem Fleisch dahin, der aus dem Speisesaal zu mir herüberweht.
„Wem hast du eigentlich eine reingehauen?", fragt er beeindruckt und zeigt mit dem Finger auf sein eigenes Auge. Ich bin so in eile gewesen, aus dem Büro des Hutmachers zu kommen, dass ich meine Sonnenbrille noch immer in der Hand halte. Überrascht weiten sich meine Augen, ehe ich mir meine Tarnung schnell auf die Nase schiebe.
„Geht dich gar nichts an."
„Steht dir irgendwie", grinst er und beißt sich kurz auf die Unterlippe. Er neigt sich ein wenig zu mir nach unten und nimmt sanft meine Brille ein Stück herunter, ehe ich ihm auf die Finger schlage und sie wieder dahin schiebe, wo sie hingehört.
„Finger weg."
„Fällt mir sehr schwer. Das ist ziemlich heiß."
Ich rolle mit den Augen, was er nicht sieht, und deute auf seine Schulter.
„Kümmere dich um deinen eigenen Wunden", brumme ich und laufe an ihm vorbei in den Speisesaal. Er hat noch irgendetwas gesagt, aber das habe ich bereits nicht mehr gehört. Miyu winkt mich direkt zu sich, als sie mich erblickt. Ich lächle erleichtert, sobald ich sie sehe, schnappe mir ein Tablett mit Essen und geselle mich zu ihr an den Tisch.
„Na, von den Toten aufgestanden?", fragt sie mich leise und rückt ein Stück beiseite, damit ich genug Platz an dem vollen Tisch habe.
„Wie spät ist es?", frage ich und greife nach den Stäbchen. Die anderen am Tisch beachte ich nicht einmal. Ich weiß, dass Mako so ziemlich am anderen Ende sitzt, aber den Rest kenne ich nicht und ich mache mir auch nicht die Mühe, sie genauer kennen zu lernen. Aus Erfahrung überleben 50% meiner Bekanntschaften eh nicht lange in diesem Land.
„Halb eins", antwortet Miyu, während sie ein Häufchen Reis mit den Stäbchen aufnimmt. „Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr."
„Ich wurde aufgehalten."
Ich sehe ihr an, dass sie gerne genauere Informationen hätte, jedoch verrät ihr mein Blick, dass zu viele Lauscher an diesem Tisch sitzen, weshalb sie mir ein leises: „Erzähl es mir später", zuflüstert und ich nicke. Es vergeht eine Weile, in der wir schweigend essen, ehe plötzlich jemand aus dem Rat sich hinstellt und das Wort erhebt.
„Alle mal herhören", bittet Mira mit lauter Stimme und augenblicklich verstummen alle um mich herum. Ich bin wirklich fasziniert, wie sie es immer schafft, so autoritär zu wirken, dass niemand es wagt, zu sprechen, sobald sie sich zu Wort meldet. Deshalb wundert es mich umso mehr, dass keiner auf die Idee kommt, dass sie ihre Finger in den Spielen hat.
„Wie mir eben zugetragen wurde, neigt sich unser Essensvorrat, sowie der Vorrat an medizinischer Versorgung, dem Ende zu", sagt sie mit einem charmanten Lächeln im Gesicht. „Ich werde jetzt einige Namen vorlesen, die sich bitte in drei Gruppen aufteilen und schauen, ob die Supermärkte noch etwas hergeben." Sie räuspert sich kurz und faltet die Zettel in ihrer Hand auseinander. Sie zählt ein paar Namen auf, die ich zum Teil kenne und zum Teil nicht. Auch Miyu ist unter Ihnen in Gruppe zwei und dank des Absturzes von gestern, bin ich froh, verschont geblieben zu sein. Allerdings habe ich mich zu früh gefreut, denn Rizuna gesellt sich an Miras Seite und winkt kurz, dass sie auch noch etwas zu sagen hat.
„Ich würde gerne etwas hinzufügen. Derzeit komme ich mit meinen Aufgaben nicht ganz hinterher. Meine Aufgaben liegen eigentlich woanders, aber da unsere letzte Medizinerin nicht lebend aus dem Spiel zurückgekommen ist führe ich derzeit zwei Jobs aus. Ich wäre sehr dankbar, wenn mir die medizinische Versorgung jemand abnehmen könnte." Sie schaut hoffnungsvoll in die Runde. „Hat jemand von euch in seinem frühren Leben etwas in dem Bereich studiert oder gearbeitet?"
„Ich kann das machen", meldet sich ein Mann, Mitte zwanzig zu Wort, den ich zuvor noch nicht gesehen habe. „Ich habe zwei Jahre als Assistenarzt auf der chirurgischen Abteilung in einem Krankenhaus gearbeitet." Beim Reden fallen ihn die dunkelbraunen, welligen Haare in die dunklen Augen.
„Das wäre super!", sagt Rizuna erleichtert. „Vielleicht kann dich ja jemand unterstützen?"
„Wie wäre es mit Akari?", fragt Mira mit einem breiten Grinsen, wofür ich sie erwürgen könnte. „Sie hat vor dem Studium eine Weile Teilzeit in einer Arztpraxis gearbeitet." Ich fasse es nicht, dass sie diese Information gegen mich verwendet. Dabei habe ich nur ein Jahr lang den Schriftkram erledigt und nicht einmal eine Spritze in der Hand gehalten. Mal davon abgesehen, dass man ohne medizinische Ausbildung so etwas nicht einmal nutzen darf. Aber das hier ist Borderland und die Regeln sind nun einmal anders, als in der anderen Welt. Alles ist schwammiger und erlaubt.
„Ich wäre keine Hilfe", entgegne ich schnell. „Es war nur ein Jahr und ich habe fast keine Erfahrungen damit."
„Ich kann es dir gerne zeigen", bietet der junge Arzt an. „Ich bin sicher mit etwas Hilfe, bekommst du die Grundlagen schnell drauf."
„Fantastisch!", flötet Mira begeistert. „Dann ist es ja entschieden."
Nein!, rufe ich in Gedanken. Nein, ist es nicht! Ich habe nicht zugestimmt!
Aber in diesem Moment bemerke ich, dass ich keine Wahl habe. Wenn ich ihre zufriedenen Gesichter betrachte, dann wird mir klar, dass sie es von Anfang an geplant haben.
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