Kapitel 17 Akari

„Wie geht es ihr?" Mit großer Vorsicht greift Isamu nach meinem Handgelenk und betrachtet die kleine Schnittwunde an meinem Unterarm. Sie stammt aus einer der Spiele Anfang der Woche und ist nicht einmal sehr tief. Aber mein Körper scheint sich gegen die ständigen Verletzungen zu wehren und nun hat sie sich ein wenig entzündet.

„Nicht gut", erwidere ich und sehe Isamu dabei zu, wie er die große, helle Lampe über unseren Köpfen neu ausrichtet, um die Wunde besser sehen zu können, ehe er sich zur Seite dreht und nach einem der Wattebällchen greift. Er zählt die Tropfen des Desinfektionsmittels genau ab, die er auf den weichen Stoff träufeln lässt. Bei dem beißenden Geruch rümpfe ich die Nase, rühre mich aber nicht von der Stelle, als er sich zu mir zurückdreht und behutsam meine Wunde reinigt, obwohl das brennende Gefühl bis in meine Fingerspitzen zieht. Meine andere Hand krallt sich in das weiche Polster der Behandlungsliege.

„Sie ringt mit sich selbst. Auf der einen Seite glaubt sie mir und auf der anderen will sie es nicht wahrhaben." Ich atme tief durch, als er zu viel Druck anwendet, und beiße mir auf die Lippe. Für einen kurzen Moment wende ich den Blick ab und schaue erst wieder hin, als Isamu auf der Wunde eine gelbe Salbe mit einem Wattestäbchen verteilt.

„Ihre Gefühle für Chishiya stehen ihr dabei im Weg die Wahrheit zu erkennen", sagt er schließlich und schaut zu mir auf. Unsere Blicke treffen sich und ich erkenne so viel Wärme in diesen dunkelbraunen Augen.

So viel Verständnis.

Doch dann zieht er seine Augenbrauen zusammen und lässt seinen Blick wieder nach unten zu meiner Schnittwunde wandern, als hätte ihn jemand aus seinen Gedanken gerissen. Sein plötzliches Zurückschrecken aus unserem intensiven Blick verwirrt mich und ich würde gerade gerne alles dafür geben, um auch nur einen Schnipsel seiner Gedanken zu hören. Doch noch bevor ich mir genau überlegen kann, wie ich an diese Gedanken herankomme, fragt er:

„Bist du dir denn ganz sicher, dass es so gewesen ist? Ich persönlich habe während der Spiele manchmal Blackouts und erinnere mich an kaum etwas. Es wäre also möglich, dass dein Gehirn es dir nur vorgaugelt, damit du Makos Tod besser verarbeiten kannst."

Ich seufze, da ich es langsam Leid bin mich zu rechtfertigen. Niemand, wirklich niemand hat mir geglaubt, als ich ihnen versucht habe zu erklären, wie genau Mako starb. Es war kein Unfall und es war auch kein Opfer. Es war schlicht und ergreifend eiskalter Mord.

„Ich habe es mir nicht eingebildet, Isamu!" Bei meinen harschen Worten zuckt er zusammen und es tut mir augenblicklich leid, deshalb füge ich sanfter hinzu: „Aber ich wünschte auch, dass es nicht wahr wäre ..."

Mako und er sind ziemlich gute Freunde gewesen. Doch anstatt zusammen zu brechen, wie Miyu es derzeit tut, bleibt Isamu selbstkontrolliert, um das Geschehen so realistisch wie möglich erfassen zu können. So läuft das eben in Borderland. Ein Tod bedeutet hier gar nicht.

„Es ist nur so schwer vorstellbar." Er greift nach einer Binde und wickelt den weichen Stoff um meinen Unterarm herum, damit meine Schnittwunde vor äußeren Schmutzpartikeln geschützt wird. „Es sieht Chishiya nicht ähnlich so drastisch zu handeln. Ich war mit ihm ein paar Mal in den Spielen und er hat die anderen ehr dazu gebracht sich gegenseitig anzugreifen, damit er in der Zwischenzeit das Rätsel lösen kann."

„Isamu."

„Ich glaube dir", versichert er mir und schaltet die grelle Lampe über unseren Köpfen aus, als er mit meiner Wunde fertig ist. Er atmet tief durch und rollte dann mit seinem Hocker dichter zu mir heran, um sich seitlich gegen die Liege zu lehnen und den Arm auf dem weichen Polster ablegen zu können. „Aber wo ist Miyu jetzt? Sie sollte nicht alleine sein. Wenn Chishiya wirklich so gefährlich ist, wie du sagst, dann sollte jemand bei ihr bleiben."

Ich nicke und ziehe den Ärmel meiner grünen Strickjacke bis zu meinem Handknöchel herunter. Draußen ist es bereits kühler geworden und die Nächte sind ohne etwas Langärmliges nicht mehr auszuhalten. „Ich mache mich gleich wieder auf den Weg. Es war schwer, aber ich konnte Miyu davon überzeugen heute Nacht nicht im Beach zu sein." Dann winkle ich ein Bein an und drehe mich auf der Liege so zur Seite, dass ich direkt auf Isamu herunterschauen kann. Er nickt und erhebt sich von seinem Hocker. Mit dem Fuß schiebt er ihn unter meine Liege, ehe er nach seiner Strickjacke greift, die er über einem Anatomieskelett abgelegt hat.

„Dann werde ich dich begleiten. Um die Uhrzeit lasse dich dich nicht alleine nach draußen."

Ich bin berührt von seiner Fürsorge, doch gleichzeitig weiß ich nicht, wie ich ihm erklären soll, dass ich ihm unmöglich unser Geheimversteck zeigen kann. Wenn sie ihn mit uns zusammen in Verbindung bringen, wäre es sein Ende und das kann ich unmöglich riskieren. Wir haben heute schon Mako verloren, noch jemand verkrafte ich nicht.

„Das ist keine gute Idee", sage ich deshalb und stehe von der Liege auf. Isamu steht bereits im Türrahmen, eine Hand an dem Lichtschalter, den er betätigt, sobald wir den Behandlungsraum verlassen. „Ich weiß nicht wie ich es sage soll, aber sie versuchen uns loszuwerden. Das Spiel ... wurde geändert und wenn sie dich in meiner Nähe sehen – du weißt, was mit Miyu und mir das letzte Mal passiert war. Das kann ich dir unmöglich zumuten!"

Wir durchqueren den dunklen Krankenflügel und haben die Stationstür fast erreicht, als ich Isamus Hände auf meiner Schulter spüre und überrascht Stehen bleibe. Er dreht mich zu sich herum. Trotz des hellen Mondlichtes, dass durch das große Fenster scheint, erkenne ich seine Gesichtszüge nur schwach. Doch eines weiß ich definitiv. Isamu ist es wirklich ernst. Das erkenne ich an dem entschlossenen Ton in seiner Stimme.

„Ich weiß, dass hier etwas abgeht, wonach ich dich nicht fragen kann. Das bedeutet aber nicht, dass du mich an den Spielfeldrand abstellen und von mir verlangen kannst, mich daraus zu halten." Der Druck seiner Handflächen wird stärker und seine Finger krallen sich durch den Stoff meiner Jacke tiefer in meine Haut hinein. Es ist nicht schmerzhaft, aber ein wenig beunruhigend. Als würde er für mich durch die Hölle gehen, auch wenn ich ihn aufhalten will.

„Es ist dunkel", fährt er mit ruhiger und sachlicher Stimme fort. „Du brauchst einen Fahrer, denn mit der Wunde kannst du den Arm nicht lang genug am Lenkrad lassen und ich lasse dich und Miyu nicht alleine außerhalb des Beaches die Nacht verbringen. Wenn Chishiya oder irgendeine andere Gruppe dort auftaucht, könnt ihr meine Hilfe gebrauchen. Wir sollten eigentlich auch Raidon und Sota Bescheid sagen. Wenn euch wirklich jemand loswerden will, dann sei nicht so dumm und lehne meine Hilfe ab."

Ich schlucke und lasse ihn bei seiner Ansprache keine Sekunde aus den Augen. Womit hatte ich nur jemanden wie ihn verdient? Jemanden, der mir völlig blind in das Verderben folgt?

„Wenn ich mal irgendetwas für dich tun kann, dann lass es mich wissen", sage ich und bin ein wenig erleichtert, als er seine Hände schließlich von meinen Schultern nimmt. „Du bist wirklich der beste Freund, den ich je hatte." Ich berühre ihn dankend an seinem Arm und gehe dann auf die große Tür zu. Doch kaum halte ich den Griff in meiner Hand, lassen mich Isamus Worte innehalten.

„Du kannst tatsächlich etwas für mich tun", sagt er leise. Ich drehe mich nicht um, denn mein Gefühl verrät mir, dass ich es eigentlich nicht hören will.

„Ich weiß, es steht mir nicht zu das zu fragen, aber zwischen Niragi und dir läuft etwas, nicht wahr?"

Meine Hand lässt den Türgriff los und fällt schlaff herunter, als habe ich jegliche Kraft verloren. Langsam drehe ich mich zu ihm herum und nuschle: „Ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, was es ist", als Antwort.

„Ich mache mir einfach Sorgen, wenn er in deiner Nähe ist. Fast ununterbrochen. Er ist gefährlich und du gehst mit ihm um, als könnte er dir nicht jeden Moment eine Kugel in den Kopf jagen." Isamu kommt auf mich zu, so dicht heran, dass er nun statt meiner nach dem Türgriff greift und ich seine harte muskulöse Brust an meiner Schulter spüre. „Ich wünschte einfach du würdest dir jemanden suchen, dem du wirklich etwas bedeutest", sagt er leise, fast schon flehend. „Jemanden wie ..."

„Dich?"

„Ja, ich meine mich."

Ich drehe ihm mein Gesicht zu und weiß einfach nicht wie ich ihm das alles erklären soll. Wie soll ich diesem wundervollen und loyalen Menschen sagen, dass ich ihn ihm einen Bruder sehe und nicht mehr, aber auch nicht weniger? Wie soll ich ihm sagen, dass die Person, die er so sehr hasst, Gefühle in mir weckt, die ich mir selbst nicht erklären kann. Ich verstehe seine Sorge und auch seine Angst. Aber Niragi hat mir schon so oft das Leben gerettet, oft genug, damit ich mich nicht mehr von ihm fernhalten kann, weil mein Herz es nicht zulässt. Aber er war auch genauso unberechenbar und eine falsche Bewegung könnte seine Liebe für mich in puren Hass verwandeln. Wenn die Spielmacher mich nicht umbringen, dann wird Niragi mein Untergang sein. Und trotzdem, kann ich es Isamu nicht versprechen.

Mein Schweigen hat lange gedauert und es reicht ihm aus, um ihm eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage zu geben.

„Schon gut, es ist keine große Sache. Ich wollte nur, dass du weißt, dass es andere Optionen gibt, als einen impulsiven, mordlustigen Wahnsinnigen."

„Isamu..."

„Wie gesagt, es ist keine große Sache." Und dann drückt er den Türgriff herunter und verschwindet hinaus auf den Flur.

Raidon und Sota sind nicht schwer zu überzeugen gewesen. Ich habe es Isamu überlassen ihnen zu erklären, wieso Miyu und ich heute Nacht ihre Gesellschaft gebrauchen können, und sie haben eingewilligt, ohne lange nachzudenken. Sota ist sofort aufgebrochen, um Kiko zu suchen, und kommt kurz darauf mit dem braunhaarigen Mädchen zurück, die mich zur Begrüßung fest in ihre Arme schließt. Ihr Gesicht ist noch immer aufgequollen und ihre Augen gerötet von den ganzen Tränen. Ich streiche ihr sanft über den Rücken und flüstere ihr zu, dass Chishiya dafür bezahlen wird.

Die Rache wird ihn treffen, ich weiß nur noch nicht wie.

Eine Stunde später erreichen wir das Möbelhaus, in dem Miyu und ich unsere gesammelten Spielkarten verstecken. Ich kann spüren, dass die anderen sich nicht so wirklich wohl fühlen, aber sie folgen mir ohne Widerspruch die stillstehende Rolltreppe in das obere Stockwerk hinauf. Es ist ziemlich duster und gespenstisch ruhig hier drin. Wenn ich mich hier nicht so gut auskennen würde, dann hätte ich hinter jedem großen Schirmständer einen Feind vermutet, so wie Raidon es tut, der den Griff seiner Pistole fest umklammert hält und sich bei jedem kleinen Geräusch in Angriffsposition begibt. Isamu geht dicht hinter mir und sobald Raidon seine Waffe auf etwas richtet, schießt der Arm des Arztes nach vorne und schiebt mich damit hinter seinen Rücken, als will er jegliche Gefahr vor mir abschirmen. Sota hält Kikos Hand fest umklammert und ist der Einzige, der nicht bei jedem Geräusch zusammenfährt. Stattdessen fährt seine Hand in die Höhe, als er Miyu auf dem Sofa sitzen sieht, von dem sie sich auch Stunden später noch nicht wegbewegt hat.

„Hey!", ruft er fröhlich und wedelt zur Begrüßung mit dem Arm. „Die Rettung ist da!"

Miyu fährt vor Schreck von dem Sofa hoch und wirft mir einen Blick zu, der deutlich Klärungsbedarf hat. Doch sie kommt gar nicht dazu mir die erste Frage zu stellen, als Kiko sich von Sotas Hand losreißt und meiner besten Freundin direkt in die Arme rennt. Ich höre sie schluchzen, als sie Arme um Miyu schlingt und sie fest an sich zieht, so wie sie es vorher bei mir getan hat. Sätze wie: „Es tut mir so leid" und „Wir wissen alle wie sehr er dich geliebt hat. Das muss furchtbar für dich sein", dringen zu mir herüber und augenblicklich packt mich wieder die erneute Wut auf Makos Mörder. Ich balle meine Hände zu Fäusten und wende den Blick ab. Jedenfalls solange, bis Raidon seine Waffe herunter nimmt und Miyu ebenfalls in seine Arme schließt.

„Was tut ihr hier?", höre ich sie mit gebrochener Stimme fragen. Isamu knipst eine der Stehlampen in dem Vorzeigewohnzimmer an und streicht meiner Freundin kurz über den Rücken, ehe er erklärt: „Akari bat uns heute bei euch zu sein." Er lässt mit Absicht den Satz weg, dass ich ein schlechtes Gefühl habe, als würde und eine unschöne Überraschung bevorstehen, und darüber bin ich ihm wirklich dankbar. Ich will die anderen nicht noch mehr aufwühlen wegen einer wagen Vermutung.

„Ich konnte sie nicht abhalten", erkläre ich deshalb auf Miyus fragenden Blick hin, die immer noch nicht versteht, wieso ich sie dann ausgerechnet in unser Geheimversteck führe. „Und glaub mir, ich habe es versucht."

Sota lässt sich mit Kiko auf dem Sofa fallen, neben dem meine beste Freundin noch immer überrumpelt steht und nicht so recht weiß, was sie tun oder sagen soll. Isamu setzt sich auf die Lehne und schaut sich wachsam um.

„Aber wieso ausgerechnet hier? Wieso habt ihr euch keine kleine leerstehenden Wohnung gesucht? Dort ist es viel einfacher unterzutauchen? Die Angriffsfläche ist hier viel zu groß."

„Bei einem Angriff haben wir viel mehr Spielraum, um zu fliehen", antworte ich und setzte mich schließlich auf den weichen grauen Teppich vor dem Wohnzimmertisch. „Und es ist einfacher sich schnell zu verstecken, falls uns jemand erwischt."

„Wobei erwischt?", fragt Raidon und schaut fragend zwischen Miyu und mir hin und her. „Versteckt ihr etwas?"

„Raidon", zischt Isamu. „Du weißt, dass sie es uns nicht sagen können."

„Jedenfalls nicht alles", erwidert Miyu leise und lässt ihren Blick langsam zu der angrenzenden Küche, Richtung Herd wandern, indem wir den Topf mit den Karten verstecken. Sie hebt den Blick und richtet ihn schließlich auf mich. Ohne es auszusprechen, stellt sie mir eine Frage, woraufhin ich schließlich nicke. Wenn sie wirklich hier sind, nach allem, was geschehen ist, dann verdienen sie auch einen Teil der Wahrheit zu erfahren.

„Zeigs ihnen, Miyu. Sie müssen wissen, wofür sie hier ihr Leben riskieren."

Miyu nickt, geht in die Küche und öffnet den Herd. Für einen kurzen Moment zögert ihre Hand in der Luft, doch dann gibt sie sich einen Ruck und zieht den Topf heraus. Noch während sie zu uns herüberkommt, öffnet sie den Deckel und kippt den Inhalt schließlich vor unseren Freunden auf dem Wohnzimmertisch aus.

„Wir versuchen aus Borderland heraus zu kommen."

Für einen kurzen Moment herrscht Schweigen. Die Karten liegen auf dem Tisch, als hätte sie jemand aus Versehen fallen gelassen und in aller Eile zusammengeklaubt. Vorsichtig nimm Sota eine davon in die Hand und dreht sie nachdenklich zwischen seinen Fingern. Blut klebt an dem Rand der Karte, doch Sota wirkt unbeeindruckt und wirft sie zurück auf den Stapel zu den anderen.

„Ihr lasst Karten verschwinden?", fragt Isamu entsetzt und legt zwei Finger an seine Nasenwurzel, um sie nachdenklich zu reiben. „Habt ihr eine Ahnung wie gefährlich das ist? Wenn sie es herausfinden ... sie werden-"

„Ja, das ist uns bewusst", unterbreche ich ihn nickend. Er schaut zu mir auf. In seinem Blick liegt so viel Sorge und Angst. Angst, um mich.

„Also stimmt es wirklich? Wenn man von jeder Sorte eine Karte hat, dann kommt man hier heraus?", fragt Kiko und lehnt sich zurück, um Sotas Arm mit ihren Händen zu umschlingen und den Kopf auf seiner Schulter zu betten. Ein Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus, als habe sie zum ersten Mal so etwas wie Hoffnung. Miyu nickt.

„Wir vermuten es, ja. Aber als wir das letzte Mal versucht haben zu fliehen, sind wir auf der Krankenstation gelandet. Es euch zu sagen ist sehr riskant - für uns alle. Die Spielmachen haben ihre Augen und Ohren überall."

„Wir werden niemanden davon erzählen!", verspricht Sota zuverlässig und beginnt die Karten der Reihe nach aufzudecken. „Welche fehlen euch noch?"

„Ja, wir werden euch helfen!", nickt Kiko zustimmend und lächelt Miyu und mich zuversichtlich an. Meine beste Freundin und ich werfen uns einen Blick zu, erleichtert, dass sie das Geheimnis zusammen mit uns teilen wollen.

„Ich kann nicht behaupten, dass ich es nicht geahnt habe", sagt nun auch Raidon und lächelt Miyu und mich an. „Und die Karten in einem Möbelhaus zu verstecken ist keine so blöde Idee. Hier gibt es zu viele Optionen, um danach zu suchen. Man müsste euch schon auf frischer Tat ertappen, um sie zu finden."

„Na, wenn das mal nicht unser Stichwort ist."

Ich fahre vor Schreck herum und weiche zurück, als ich eine die Gruppe von fünf Männern aus dem Militärtrupp erkenne. Isamu ist sofort an meiner Seite und stellt sich vor mich, um sie von mir abzuschirmen.

Da es zu dunkel ist, erkenne ich niemanden von ihnen sofort. Doch der höhnische Ton in der Stimme verrät mir, dass es Ruya ist, der sich an den Mann neben ihn wendet.

„Für mich klang das eindeutig nach einem Geständnis oder was sagst du Chiyo? Ich denke wir haben so eben die Verräter gefunden."

„Lass sie uns erschießen", sagt er voller Vorfreude und ich kann hören, wie er seine Waffe entsichert. „Der Hutmacher wird uns reich belohnen!"

„Keine Bewegung!" Raidon taucht auf meiner anderen Seite auf und zielt mit seiner Pistole auf Chiyo, der seine Waffe auf mich gerichtet hat. Ich schlucke und versuche nicht durchzudrehen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es dazu kommen wird, aber ich habe gehofft, dass ich bis dahin einen Plan haben würde. Ich balle eine Hand zur Faust und greife mit der anderen in Isamus Jacke, weil ich seinen Halt brauche. Sein Schutz gibt mir Sicherheit und gleichzeitig rotieren in meinem Kopf die Gedanken. Was sollen wir tun? Da sie uns offensichtlich gehört haben können wir unseren Verrat nicht mehr leugnen. Aber selbst wenn wir unschuldig wären, werden sie uns nicht zuhören. Der Militärtrupp kennt nur eine Sprache und das ist Gewalt. Wir können froh sein, dass es nicht mehr sind. Da wir einer mehr sind, haben wir eine Chance, es zu überleben. Aber außer Raidon besitzt niemand von uns eine Waffe. Das ist schlecht - sehr schlecht.

„Ihr seid uns gefolgt", sagte Sota und schiebt Kiko schützend hinter sich, die leise in seinen Rücken wimmert. „Verschwindet wieder! Es geht niemand etwas an, was wir außerhalb des Beaches tun."

Chiyo lacht höhnisch auf und schnalzt gelangweilt mit der Zunge, ehe er seine Waffe genau auf Sota richtet.

„Jeder der Karten versteckt wird umgelegt. So sind die Regeln."

„Als ob ihr euch jemals an Regeln gehalten habt!", faucht Miyu mutig. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sie sich vorsichtig der Stehlampe angenähert hat. Ohne, dass sie es mir erklären muss, weiß ich sofort was sie vorhat. Sie will sie ausschalten und das Möbelhaus damit komplett verdunkeln. Dies ist unsere Chance zu fliehen. Aber für den Überraschungsmoment muss sie es unauffällig tun, also beschließe ich ihr Zeit zu verschaffen, während sich meine Hand fester in Isamus Jacke krallt. Egal wie viele Spiele ich schon durchgestanden habe, ich hatte noch nie so viel Angst um das Leben meiner Freunde, wie in diesem Moment. Die Anspannung nimmt immer weiter zu. Wenn nicht bald jemand handelt, dann werden sie auf uns schießen, bevor wir die Chance haben zu fliehen.

„Weiß Niragi, dass ihr ohne ihn handelt?", frage ich, nachdem ich mich Erleichterung festgestellt habe, dass er nicht dabei ist. Ich will nicht, dass er mein Geheimnis kennt. Es würde bedeuten, dass er sich zwischen mir und seiner Loyalität entscheiden muss. Und ausnahmsweise befürchte ich dabei den Kürzeren zu ziehen.

„Niragi?" Ruya grinst breit und lässt mich nicht aus den Augen, als er den Kopf zur Seite legt. „Nein, wieso sollte er? Vermisst du ihn etwa, Süße? Der Waschlappen ist viel zu weich geworden, was auch immer in ihn gefahren ist."

Sie wissen es nicht, erkenne ich augenblicklich und spüre eine Erleichterung, die ich nicht erwartet habe.

„Lass uns aufhören mit dem Smalltalkt." Chiyo stöhnt gelangweilt auf und richtet seine Waffe neu aus, dieses Mal auf mich. „Ich will endlich-"

Weiter kommt er nicht, denn in diesem Moment stößt Miyu mit Schwung die Stehlampe um, die krachend zu Boden fällt. Die Glühbirne bricht augenblicklich und schlagartig ist das gesamte Möbelhaus stockduster.

Ich zögere keine Sekunde, als ich herumwirbele, nach Miyus Hand greife, die sie mir bereits hinhält und Isamu mit mir ziehe.

Wir biegen um die Ecke in den nächsten Gang hinein, als der erste Schuss fällt und mein Herz stehen bleibt. Ich will umdrehen, um mich zu vergewissern, dass es niemand von meinen Freunden ist, doch Isamu zieht mich weiter mit sich.

„Nicht stehenbleiben!", weist er mich herrisch an und beschleunigt seine Schritte. Mein Herz hämmert kräftig gegen meine Brust, während sich mir der Magen umdreht und mir kotzübel wird. Weitere Schüsse hallen durch den Raum, dann ein Schrei. Es klingt nach Kiko, aber ich darf nicht stehenbleiben. Was auch immer heute passiert, werde ich mir niemals verzeihen. Dieser Tag wird der Schlimmste in meinem Leben, denn einen von meinen Freunden in Gefahr zu bringen, ist viel schlimmer, als alle Menschen die ich als Dealer umgebracht habe.

Isamus Hand umschlingt meine fester, dafür verliere ich Miyus Halt, da sie alleine schneller ist.

„Wir müssen uns aufteilen", ruft Raidon uns zu und verschwindet, ohne eine Antwort abzuwarten in einen Nebengang mit den Wohnzimmervorgaben.

„Bleib am Leben!", fordert Miyu mich auf, ehe sie ihm folgt.

„Du auch", kann ich noch flüstern, als Isamu und ich auch schon in die andere Richtung abbiegen. Wir erreichen die Schlafzimmerabteilung. Isamu bleib stehen und schaut sich kurz um.

„Wo sind die kleinen Wixxer?!", höre ich Ruyas Stimme aus einiger Entfernung. Die Panik in mir steigt weiter an und ich umklammere Isamus Hand noch fester. Ich bewundere es, dass er selbst in dieser Situation einen kühlen Kopf bewahrt.

„Dort rein." Er zeigt auf einen großen weißen Wandschrank und will mich mit sich ziehen, doch ich halte ihn zurück.

„Nein, nicht. Dann sitzen wir in der Falle. Sie werden nicht gehen, wenn wir uns verstecken." Ich schlucke und schaue mich um, ob ich irgendetwas sehe, dass ich als Waffe verwenden kann. „Wir müssen sie umbringen. Anders kommen wir hier nicht lebendig heraus."

Isamu nickt und eilt zu dem Nachttisch herüber. Mit Schwung reißt er den Schirm von der Lampe und zieht den Stecker aus der Steckdose. Diese Handlung dauert genau zehn Sekunden, dann springt er über das Bett herüber und macht das Gleiche mit der Nachttischlampe auf der anderen Seite, ehe er sie zu mir zurückkommt und sie mir reicht. Ich nicke ihm zu, als Zeichen meines Dankes und weise ihn wortlos an sich zu verstecken.

„Wir greifen an, sobald wir sie sehen."

Ich hocke mich hinter ein großes Bockspringbett und umklammere den Hals der Lampe fester. Meine Hand schwitz und meine Kehle schnürt sich zu, als könnte ich nicht atmen. In meinem Inneren schreit alles danach zu wissen, wie es Miyu geht. Ich hätte sie nicht mit Raidon alleine lassen sollen. Natürlich kann sie auf sich aufpassen, aber ich fühle mich einfach sicherer, wenn ich bei ihr bin. Borderland ohne sie würde ich nicht überleben.

Aber dann sind meine Sinne mit einem Mal gespitzt und warten auf den ersehnten Angriff, als ich ihre Schritte näher kommen höre.

„Kommt raus, kommt raus", flötet einer von ihnen, die ich nicht kenne. Vermutlich ist er gerade erst dem Militärtrupp beigetreten. „Wir wollen spielen."

Es sind zwei von ihnen. Sie geben sich nicht einmal Mühe, sich anzuschleichen, weil sie sich für überlegene Götter halten.

Sie sind die Wölfe und wir die Schafe.

Die Jagd hat begonnen.

Isamu verlagert das Gewicht seiner Beine und macht sich angriffsbereit.

3.

Mir dreht sich der Magen um, aber ich werde jetzt nicht auf diesen verflucht schönen roten Teppich kotzen!

2.

Ich umfasse die Lampe noch fester, bis ich das Gefühl habe, sie durchzubrechen, was bei dem schweren Metall nicht möglich ist.

1.

Wir springen aus unserem Versteck hervor. Ich hole mit der Lampe aus und will sie den Muskelprotz, der mir am nächsten ist, auf den Kopf schlagen. Genauso, wie es Isamu getan hat. Und genauso wie bei mir soll das dumme Arschloch mit einer blutenden Wunde zu Boden sinken. Aber das tut er nicht. Noch bevor ich zuhauen kann, dreht er seinen Kopf weg, greift nach meinem Gelenk und stößt mich auf den Boden, so dass mir die Lampe aus der Hand fällt.

„Du scheiß Schlampe!", schreit er mich an und richtet seine Waffe auf mich.

„Shit."

Doch bevor er auf den Auflöser drücken kann, schlägt Isamu ihm seine Lampe in das Gesicht und entreißt ihm mit der anderen Hand die Waffe. Er zögert keine Sekunde, als er ihm in den Kopf schießt. Laut hallt der Schuss durch mein Trommelfell und es dauert eine Weile, ehe ich mich von diesem Schock erhole. Doch dann kommt der Arzt auf mich zu, reicht mir seine Hand und zieht mich auf die Beine.

„Alles okay? Bist du verletzt."

„Alles in Ordnung", versichere ich ihm und mustere ihn genauer. Er wirkt unverletzt. Das ist eine Erleichterung. Der Überraschungsmoment fiel zu unseren Gunsten aus. Ich bücke mich und greife nach der Lampe auf dem Boden, während Isamu die Munition überprüft.

„Noch zwei Kugeln", sagt er, als ich mich wieder aufrichte, und lässt das Gehäuse wieder einrasten. „Das wird reichen."

„Zwei erledigt, bleiben nur noch drei", sage ich und erschrecke mich, als Isamu plötzlich nach meinem Arm greift und mich ruckartig hinter sich zieht.

„Mehr", korrigiert Kiko und humpelt mit Sota auf uns zu. „Sie haben Verstärkung gerufen und sie sind eben durch den Eingang eingetroffen. Wir konnten nur noch knapp fliehen."

Isamu sackt augenblicklich in sich zusammen und tritt beiseite, damit ich unsere Freunde sehen kann.

„Oh mein Gott, ihr lebt!" Meine Worte sind zwar nur gehaucht, aber meine Erleichterung ist dafür umso größer, als ich Kiko um den Hals falle und sie automatisch die Arme um mich schlingt.

„Ja, aber sie haben Sota angeschossen", flüstert sie zurück. Als ich sie loslasse, sehe ich wie ihr Freund sich eine Stelle an seinem Bauch hält, während er sich leicht nach vorne neigt.

„Alles halb so wild", versichert er und lächelt, auch wenn ich den Schmerz darin erkenne. „Sie habe kein Organ erwischt und das Adrenalin hält mich auf den Beinen." Er lacht leise. „Aber ihr hättet Kiko sehen sollen. Als die anderen aufgebrochen sind, um euch zu suchen, hat sie einer in den Würgegriff genommen, doch sie konnte sich befreien. Ich glaube sie hat ihm die Nase gebrochen." Er lächelt seine Freundin stolz an die es strahlend erwidert.

„Geht es euch gut?", fragt sie und wendet sich dann an uns. „Wo sind Miyu und Raidon?"

„Wir haben uns aufgeteilt", erkläre ich und könnte weinen vor Freude, dass sie noch am Leben sind. Aber dies ist nicht der Moment für einen sentimentalen Ausbruch.

„Ich sollte nach ihnen sehen", sagt Sota. Obwohl es dunkel ist, sehe ich den Schweiß auf seiner Stirn und wie viel Kraft ihn jedes einzelne Wort kostet. Er muss dringend auf die Krankenstation.

„Du gehst nirgendwo hin!", fährt Kiko ihn an. „Sollen sie dich etwa wirklich noch umbringen, du Idiot?!"

„Ich werde bei ihm bleiben. Wir verstecken uns in einem der Schränken." Isamu greift nach Sotas Arm und legt ihn sich um die Schulter. „Geht und sucht die anderen beiden. Ich habe nach Akaris komischen Verhalten sicherheitshalber ein paar Medikamente mitgenommen. Die werden ihm helfen, bis wir hier rauskommen."

Ich nicke ihnen zu und greife nach Kikos Schulter. Nur schwerfällig lässt sie sich von mir mitziehen aber ich weiß, dass Sota bei Isamu in guten Händen ist. Ich konnte mich selbst davon überzeugen was für ein guter Arzt und Kämpfer er ist.

Also machen sie und ich uns auf die Suche nach Raidon und Miyu. Je länger es dauert sie zu finden, desto unwohler wird mir. Wenn wir bisher keinen weiteren Spast aus dem Militärtrupp treffen, heißt es, dass sie alle bei Miyu und Raidon sind. Und nach Kikos Aussage müssen hier mindestens dreizehn gewaltgeile Arschgeigen herumlaufen.

Wir haben die Etage fast komplett durchkämmt, als Kiko mich darauf hinweist, dass sie vielleicht ein Stockwerk tiefer geflohen sind.

„Lass es uns probieren", stimme ich ihr zu. Doch gerade als ich den Satz beendet habe, zucke ich vor Schreck zusammen, als ein Schuss ertönt und die Vase neben mir auf dem Sideboard in tausend Teile zerspringt. Ein stechender Schmerz fährt durch meinen Körper und es brennt höllisch an meiner Flanke. Eines der Scherben hat meine Haut gestreift und einen blutenden Riss hinterlassen. Aber ich habe keine Zeit mich wegen dem Schmerz zu beklagen. Stattdessen höre ich Kiko, die mir zuschreit, dass ich laufen soll und genau das tue ich auch. Sie rennen uns fluchend nach. Schießen, aber verfehlen uns immer knapp. Ich lasse die Lampe in meiner Hand nicht eine Sekunde locker. Nicht, als ich über dem breiten dunkelblauen Sofa springe, da es zu lange dauert darum herum zu laufen. Nicht als ich das Geländer der Rolltreppe herunter rutsche und auch dann nicht, als plötzlich vor uns eines der Muskelprotze auftaucht. Ich schlage mit der Lampe zu, ohne nachzudenken, geschweige denn Luft zu holen und komme erst wieder zu atem, als Kiko dem am Boden liegenden Mann seine Waffe entreißt.

„Komm weiter!", sagt sie. „Ich glaube, ich habe da drüben-" Weiter kommt Kiko nicht, denn einer der Männer packt uns von hinten an den Haaren und zieht unsere Köpfe schmerzhaft nach hinten.

„Na endlich", keucht er. „Ihr seid ganz schon schnell." Der Schmerz lähmt mich so sehr, dass ich mich nicht mehr bewegen kann.

Es ist vorbei, schießt es mir durch den Kopf, als ich seinen Partner sehe, der seine Waffe auf uns richtet. Ich schaue zu Kiko und will mich bei ihr entschuldigen. Ohne mich wäre sie nicht in dieser Situation, doch sie lächelt mich nur an, so wie sie es immer tut. Wieso ist so ein fröhlicher Mensch wie sie in einem Land wie Borderland? Wer hat diese Ungerechtigkeit entschieden?

„Schon okay", flüstert sie mir zu und greift nach meiner Hand. „Es war meine eigene Entscheidung."

Der Partner des Mannes, der seine schmierige Hand in meinem Haar hat, richtet seine Waffe auf meine Stelle zwischen den Augen.

„Verzeih mir, Kiko", raune ich schwach. Meine Atmung ist stockend, der Puls rast dafür umso mehr.

Gleich wird es vorbei sein.

Alles.

Die Spiele.

Die Rolle als Dealer.

Dies ist die Strafe aller meiner Sünden.

Ich verdiene es auf diese Weise zu sterben.

Er entsichert die Waffe und ich schließe die Augen, halte den Atem an und warte. Komischerweise breitet sich neben meinen Schuldgefühlen noch etwas aus, dass ich nicht erwartet habe.

Innerer Frieden.

Ich bin bereit.

Es hätte sowieso nie einen Ausweg aus diesem Spiel gegeben. Irgendwann wäre es so weit gewesen.

„Nicht!"

Ich reiße die Augen auf, als der Typ hinter mir meine Haare loslässt und nach vorne auf den Boden fallen. Der Kerl vor mir lässt die Waffe sinken und sie beide schauen zu einem Mann, der Autorität auf sie angeschlendert kommt.

„Der Boss ist hier. Wir sollen sie zu ihm bringen." Er hält ein Funkgerät in die Höhe. Obwohl seine Worte entschuldigend klingen, verzieht er keine Miene.

„Ist das dein Ernst, Dori?! Ich jage die beiden Schlampen durch die ganze Halle und darf sie nicht einmal umlegen?!" Der Kerl hinter mir verpasst mir einen Tritt und ich stöhne vor Schmerz auf, als er meine Rippen erwischt. Sie sind nicht gebrochen, dafür werde ich es morgen beim Atmen merken ... wenn ich das hier überlebe.

„Anweisung vom Aguni. Er will ihnen zuerst ins Gesicht sehen, bevor er sie erschießt."

„Ach fuck, ich hasse es. Wer hat dem Penner überhaupt Bescheid gesagt? Den hätte man schon vor Ewigkeiten absetzen sollen."

Er greift nach meinem Arm und zerrt mich auf die Beine. Kiko tritt um sich, wird jedoch nur vorwärts gestoßen. Also gegen wir den Gang zwischen den ganzen Dekoartikeln entlang, bis wir auf die große Gruppe des Militärtruppes treffen, die Miyu und Raidon umkreisen. Sie stehe beide Rücken an Rücken, halten eine Schusswaffe in die Höhe und achten darauf, sich ihnen niemand annähert. Ich bin so glücklich, als ich sie sehe. Sie leben! Sie sind zwar etwas zugerichtet, aber sie leben!

Kiko und ich werden in ihre Mitte geschubst und ich lande direkt in Miyus Armen, die mich fest an sich drückt.

„Oh Gott sei dank!", raunt sie in mein Ohr. „Ich hatte solche Angst um dich!"

„Es geht mir gut", versichere ich ihr, ohne das Gesicht zu verziehen, als sie mich noch fester an sich drückt. Der Tritt in meine Rippen macht sich gerade sehr bemerkbar. Stattdessen nutze ich die Chance ihr zu sagen, dass Isamu bei Sota ist, der dringend auf die Krankenstation muss. Sie sieht mich mit großen Augen an, fragend. Offensichtlich reicht es ihr nicht an Information und sie braucht mehr Details, doch die Zeit habe wir nicht, denn die Menge des Militärtruppes teilt sich. Doch die Person, die auf uns zuschreitet ist nicht Aguni. Mein Herz setzt aus, als ich das schwarzweiße Hemd erkenne und die Waffe, die er lässig über seine Schulter trägt. Zuerst bin ich erleichtert, aber dann sehe ich in Niragis eiskaltes Gesicht und meine Hoffnung hier heile herauszukommen verpufft.

Der Moment ist gekommen. Der, vor dem ich eine scheiß Angst habe. Jetzt werde ich erfahren, ob Niragis Gefühle für mich überwiegen oder seine Loyalität zum Beach. Doch meine Frage beantwortet sich schneller, als mir lieb ist. Ich stelle mich vor meine Freunde, um sie von ihm abzuschirmen. Verrat hin oder her, das hier ist eine Sache zwischen ihm und mir. Meine Frage klärt sich ebenfalls sehr schnell. Seine Augen verengen sich zu schlitzen, während sein ganzer Körper vor Wut zittern. Mit einer schnellen Bewegung greift er nach seiner Waffe und richtet sie auf mich.

„Du hast mich verarscht. Die ganze Zeit hast du mich benutzt und verführt, dafür gesorgt, dass ich Gefühle für dich entwickle und blind dafür werde, dass du hinter meinem Rücken Verrat begehst!"

Ich antworte nicht, sondern erwidere seinen Blick ohne eine Spur von Angst. Sobald ich ihn sah, ist sie einfach verschwunden. Ab jetzt ist es egal, wie die Sache ausgehen wird, denn nichts wiegt mehr als der Hass, den er nun auf mich hat.

„Du hast mich verarscht!", schreit er, da ich nicht reagiere, und drückt den kalten Lauf der Waffe gegen meine Stirn. Ich lasse ihn nicht aus den Augen, spüre aber, wie sich die Tränen einen Weg aus meinen Augen bahnen. Die anderen um uns herum habe ich einfach ausgeblendet, denn sie werden nicht handeln, bis er es tut.

„Ich weiß."

„Du hast mich verarscht!", sagt er nach einiger Zeit, als wisse er nicht, wie er seine Gefühle, die er gerade fühlt, sonst ausdrücken soll. Seine Stimme war nun etwas ruhiger und ich erwidere erneut:

„Ich weiß."

Der Druck an meiner Stirn nimmt zu, während vereinzelte Tränen meine Augen verlassen.

„Du hast mich verarscht." Dieses Mal sind seine Worte nur gehaucht und ich erwidere erneut:

„Ich weiß."

„Halt deine verdammte Fresse und rück einfach die Karten raus!"

„Wie hast du es rausgefunden?", verlange ich stattdessen zu wissen.

„Ich habe gesehen, wie du sie eingesteckt hast."

„Verstehe." Ich senke den Blick, rühre mich aber nicht von der Stelle, da der Lauf seiner Waffe immer noch gegen meine Haut drückt. „Miyu, gib ihnen die Karten."

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Miyu in ihre Jackentasche greift und sie hervorzieht. Da sie aber zu lange braucht, zieht der Kerl neben ihr seine Waffe und schreit:

„Mach schnel-" Er kann seinen Satz nicht einmal beenden, als der Lauf von Niragis Waffe den Kontakt zu meiner Stirn verliert, zu Seite schwenkt und den Kerl ohne zu zögern erschießt. Ich zucke bei dem Schuss zusammen. Zum einen, weil er zu laut war und zum anderen, weil ich nicht damit gerechnet hatte. Niragi streckt die Hand nach den Karten aus, die Miyu ihm schnell überreicht und er gibt sie weiter an Dori, der wie sein Schatten hinter ihm steht. Schnell lässt dieser die Karten in seiner schwarzen Lederjacke verschwinden. Dann lässt Niragi wie Waffe sinken und wendet sich an seine Leute.

„Wenn auch nur irgendeiner von euch auf die Idee kommt zu handeln, bevor ich den Befehl gebe, dann endet ihr wie Ito, klar!?", bellt er und sie geben ein zustimmendes Gemurmel zur Antwort zurück.

Dann wendet er sich wieder an mich. Gleichzeitig spüre ich, wie Miyu nach meiner Hand greift, um mir zu zeigen, dass sie alle an meiner Seite sind, egal wie es ausgeht. Ich bin ihr so dankbar für ihren Beistand, obwohl gerade unser aller Leben von Niragis Gefühlen zu mir abhängig ist. Ich schaue auf zu dem Mann, für den ich gegen aller Vernunft wirklich Gefühle habe. Er lässt seine Halsmuskeln knacken und richtet dann wieder die Waffe auf mich. Dieses Mal auf die Stelle, wo sich mein Herz befindet.

„Okay, Verrat wird mit dem Tod bestraft. Irgendwelche letzten Worte?", will er wissen, obwohl wir beide wissen, dass es egal ist, was ich sage.

„Ich liebe dich." Und ich meine es auch so. Ja, es ist abgedroschen und klingt nach einem verzweifelten Versuch mein Leben zu verschonen, aber so ist es nicht gemeint. Ich will, dass er es wirklich weiß, dass ich es ihm gerne öfter sagen würde, aber ich dafür keine Zeit mehr habe. Ich fühle es wirklich. Deshalb wiederhole ich es erneut, dieses Mal leiser.

„Ich liebe dich."

„Lass den Scheiß! Ich glaube dir kein Wort mehr! Denkst du, ich bin so leicht zu beeinflussen?" Er rollt mit den Augen und obwohl mich die Kälte seiner Worte treffen sollen, tun sie es nicht. Ich habe seinen Hass verdient.

„Nein, das ist was ich wirklich fühle." Ich greife nach dem Lauf seiner Waffe und umschlinge sie mit meiner Hand, ziehe sie gegen meine Stirn, anstatt sie wegzuschieben. „Ich liebe dich, deshalb werde ich dir verzeihen, wenn du jetzt abdrückst."

„Ich brauche dein Mitleid nicht!"

„Es ist kein Mitleid, glaub mir. Ich wollte es nicht. Hast du eine Ahnung, wie sehr ich mich dagegen gewehrt habe? Du bist ein Arsch, erschießt Leute, ohne mit der Wimper zu zucken. Du legst den halben Beach flach und bis völlig wahnsinnig. Und trotzdem hast du es geschafft, dass ich nicht aufhören kann, an dich zu denken. Lieber sterbe ich durch deine Kugel als sinnlos in einem Spiel."

„Hör auf mit dem Scheiß!", brüllt er mich an, drückt die mündig fester gegen meine Stirn. Sein Finger zuckt an dem Abzug, also schließe ich die Augen.

Eine Weile ist es ruhig und nichts passiert.

Plötzlich ertönt ein Schuss, dann ein Zweiter. Jemand reißt mich zu Boden. Jede Wette, dass es Miyu ist, denn ich erkenne ihren Geruch.

„Nicht bewegen!", befielt sie mir und drückt ihr Gesicht gegen meinen Rücken. Also tue ich was sie sagt und rühre mich nicht. Mein Herz hämmert heftig in meiner Brust, dass ich befürchte, es würde gleich kollabieren. Diese ganze Situation geht nicht in meinen Kopf herein.

Was genau passiert hier gerade?

Der Kugelhagel dauert nur wenige Minuten und als er plötzlich verklingt, traue ich mich nicht aufzuschauen. Dass ich noch atme, nehme ich als gutes Zeichen, aber wieso lebe ich noch?

„Es ist vorbei", höre ich Miyus Stimme, ehe sie ihr Gewicht von meinem Rücken nimmt. Erst da hebe ich den Kopf und richte mich langsam auf. Ich sitze auf dem Fußboden, umgeben von Leichen. Um mich herum liegen die Männer vom Militärtrupp. Der Geruch von Blut steigt mir in die Nase und ich verziehe das Gesicht. Egal wie oft ich es rieche, daran gewöhne ich mich nie. Sofort schaue ich mich um, aber meine Freunde sind wohlauf. Kiko zieht Miyu vor Erleichterung in die Arme und Raidon hockt auf dem Boden, das Gesicht vergraben in seinen Händen. Dann schaue ich hoch zu Niragi, der ein paar Worte mit Dori wechselt, die ich nicht verstehe. Sie sind die einzigen beiden, die noch leben. Bei der Art, wie sie miteinander sprechen drängt sich in mir die Frage auf, ob sie es von Anfang an geplant haben. Kam Niragi mir wirklich zur Hilfe?

Als ich endlich aufstehe, treffen sich unsere Blicke und ich erkenne den Schmerz in seinen Augen.

Er hat so eben Verrat an dem Beach begangen.

Verrat an Aguni.

Für mich.

Blut klebt ihm im Gesicht, als er eine Hand an meinen Arm legt und besorgt an mir herabschaut.

„Alles in Ordnung?"

Ich nicke, da ich nicht fähig bin zu sprechen. Stattdessen macht sich meine Hand selbstständig und legt sich an meine Wange. Mit dem Daumen wische ich einen Blutstropfen weg, der eine rote Spur auf seiner Haut hinterlässt.

„Du bist so ein Idiot", keuche ich hervor und lasse meinen Tränen freien Lauf. „Warum hast du das getan? Ich habe die Beachregeln verletzt und Karten zurückgehalten. Wenn herauskommt, dass du uns ... dass du..." Niragi bringt mich zum Schweigen, in dem seine Hand nach meinem Nacken greift und mich zu sich heranzieht. Seine Lippen treffen hart auf meine und küssen mich voller Verlangen. Aber ich erkenne noch etwas anderes in diesem Moment.

Angst.

Und seine Worte, als er unseren Kuss für einen kurzen Moment löst, bestätigen es.

„Ich konnte dich nicht verlieren. Dafür bedeutest du mir einfach zu viel." Als seine Lippen erneut auf meine Treffen ist dieser Kuss viel intensiver als alle je zuvor. Seine Hand an meinem Nacken, wandert seitlich an meinen Hals, während die andere nach meiner Hüfte greift und sich fest an sich heranzieht. Meine Arme umschlingen seinen Oberkörper und krallen sich in sein Hemd hinein. Wir atmen die Luft des anderen ein und krallen uns aneinander fest, als wäre die andere Person der Halt, den wir brauchen. Ich kann es noch immer nicht fassen. Wenn ich die ganze Zeit daran gezweifelt habe, ob Niragis Gefühle für mich echt sind, dann habe ich jetzt den Beweis, dass er mich wirklich liebt.

Er ist es, der den Kuss zuerst löst, doch anstatt mich gehen zulassen, legt er keuchend seine Stirn an meine.

„Aber hintergehe mich noch einmal und ich werde deinen Arsch nicht retten."

Niragi hat uns nicht verraten. Als wir in den Beach zurückkehrten, haben Isamu und Kiko Sota sofort auf die Krankenstation gebracht, während Niragi und Dori zum Hutmacher gegangen sind, um ihm unsere zurückgehaltenen Karten auszuhändigen. Sie haben für uns gelogen und behauptet, dass die Verräter erschossen wurden, dafür aber auch seine ganzen Männer ihr Leben ließen. Sie logen und sagten, dass nur sie dort lebendig heraus gekommen sind. Sie erwähnten uns keinem Wort.

Wir sind davon gekommen. Aber dafür ist unser Plan zur Flucht schief gegangen und Miyu und ich stehen wieder am Anfang.

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