2: Watching


Sie schwebte wie ein schillernder Vorhang zwischen den Reichen, scheinbar schwerelos und dennoch mit einer unaufhörlichen Bewegung, als würde sie sich sanft im Rhythmus der Welt wiegen.

Wir schritten gemeinsam durch den Wald.
Während Elijah ab und an ein paar Elderbeeren am Wegesrand pflückte, starrte ich stur auf den Pfad vor uns und war in Gedanken schon bei der Literatur im Schriftturm. Jenes Gebäude das den kostbarsten Besitz unseres Königreiches beherbergte: die alten Schriften. Hier waren die Worte der Vergangenheit, die Geschichten und Legenden, die die Identität des Landes formten, auf kunstvoll verzierten Seiten aufbewahrt. Jede Zeile war ein Echo der Erinnerungen und Träume unserer Vorfahren - tief verwurzelte Werte und Bräuche, die den Kern der Gesellschaft bildeten.

Der Schriftturm diente uns als Kompass für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, indem sie den Dawnern eine Verbindung zu ihren Wurzeln bot und ihnen ermöglichte, aus den Fehlern und Triumphen ihrer Ahnen zu lernen. Es war eine Pflicht bestimmte Elaborate zu lesen, für jeden von uns. Und wer davon nicht genug bekam, sich mehr Wissen aneignen wollte, dem wurde als Lob die Ausbildung zum Schriftgelehrten angeboten. Die Elite unseres Reiches. Einen Herrscher besaßen wir nicht.

In den Weiten des Königreiches Solaris erhob sich keine königliche Gestalt über die anderen. Hier existierten keine prunkvollen Thronhallen oder prächtigen Paläste, keine königlichen Edikte oder Privilegien. Wir lebten in Harmonie und Einklang miteinander wobei die Grundlage dieses Königreiches auf Solidarität und Empathie beruhte. Dawner teilten nicht nur ihre Ressourcen und ihr Wissen miteinander, sondern auch ihre Freuden und Sorgen. Diejenigen, die in Not waren, fanden Unterstützung, und diejenigen, die mit Talenten und Fähigkeiten gesegnet waren, trugen zu Wachstum und Fortschritt bei. Es war eine Gesellschaft die ich liebte und respektierte und ich dankte an jedem kostbaren Tag Artemis, für dieses einzigartige Geschenk der Götter.

»Du solltest dein Bein nachher mal von Naira untersuchen lassen«, riss mich der junge Jäger aus meinen Gedanken und deutete auf meinen Oberschenkel, während er sich einige Elderbeeren in den Mund warf. Mein Blick glitt an mir hinab und blieb an der aufgeschürften Wunde hängen, die auf meinen nackten Beinen hervorstach. »Ach, das ist doch nur eine kleine Schramme und keine Zeit der Augen eines Heilers wert«, antwortete ich ihm mit einem Schulterzucken und zupfte mir einen Grashalm von dem dünnen, aquamarinfarbenen Stoff, den ich als Oberteil locker über meine Brust gebunden und die zwei Bahnen verkreuzt über meine Schultern verlaufen ließ.

Elijah jedoch schüttelte nur bestimmt den Kopf und deutete mit dem Daumen über seinen Arm zurück. »Die Lichtung liegt nah an der Grenze. Die Jäger der zweiten Garde nahmen schon vor mehreren Jahrzehnten diesen Pfad um ihre Exponate nach Solaris einzuliefern. Der Boden muss durchtränkt sein von dunkler Magie und wenn du mich fragst, dann würde ich selbst die kleinste Schramme von dort nicht auf die leichte Schulter nehmen. Lass Naira zumindest einmal drauf sehen.« Ich seufzte, nickte dann jedoch schlussendlich und versuchte gar nicht weiter nachzufragen. Angehende Schriftgelehrte konnten einem die Ohren tot reden, wenn man Interesse an das ihrem zeigte.

Mein Blick fiel auf einen kleinen Fluss am Wegesrand und blieb in der Spiegelung hängen, die von der sanften Strömung fort getragen wurde. Dunkle, fast schon pulsierende Schliere zogen mit ihr hinweg und ich hob den Kopf um einen Blick auf die gefürchtete Grenze zu werfen, die zwischen den dichten Laubbäumen hindurch stach und meinen Blick wie magisch anzog. Eine schier endlose Wand ragte in den blauen Himmel empor und befleckte die Reinheit, mit der ich den Wald verband. Es war ein unheimliches und zugleich faszinierendes Phänomen das durch einen schimmernden Schleier aus Magie die zwei Reiche trennte, aus denen das Land Acolas bestand.

Während Solaris den Tag in all seiner Schönheit präsentierte, die Sonne verehrte und das Licht hier ihren Anfang fand, herrschte hinter der Mauer ein Zustand der in den alten Elaboraten als 'Nacht' bezeichnet wurde. Ein Leben, in dem es kein Licht gab, keine Sonnenstrahlen und Wärme. Die absolute Finsternis herrschte über die abscheulichen Wesen, die in der Schwärze vor sich hin vegetierten und mich überkam zum wiederholten Male ein Schauer, wenn ich die pulsierende Mauer zwischen den Reichen betrachtete. Sie erstreckte sich in einem endlosen Bogen, als ob sie den Übergang von Tag und Nacht symbolisieren würde und war das dunkelste Objekt, dass ich jemals in meinem Leben gesehen hatte.

Die Wand war von einer seltsam flimmernden Transparenz durchdrungen, die an einen Wasserschleier erinnerte. Sie schwebte wie ein schillernder Vorhang zwischen den Reichen, scheinbar schwerelos und dennoch mit einer unaufhörlichen Bewegung, als würde sie sich sanft im Rhythmus der Welt wiegen. Zumindest glaubte ich an ihre Transparenz, genau wie es die meisten Schriftgelehrten taten, und war damit überzeugt, dass die Schwärze in ihr nicht von ihr selbst herrührte, sondern von dem Reich der Schatten, dass hinter ihr im Verborgenen lag. Für die Dawner war die Grenze wie ein schützender Schleier der sie vor dem Tod bewahrte, für das Schattenpack auf der anderen Seite wohl ein nervtötendes Hindernis, dass es zu beseitigen galt, wenn die Götter mitspielten.

Gerade als ich meinen Blick wieder von der flimmernden Mauer abwenden wollte, bemerkte ich eine unscheinbare Bewegung am Rande meines Sichtfeldes und schenkte ihr wieder all meine Aufmerksamkeit. Wie als würde der Magiefluss auf eine Berührung reagieren zitterte die Strömung plötzlich leicht und kräuselte sich um einen kleinen dunklen Punkt, der hinab wanderte und die Gräser zum Zittern brachte. Ich blinzelte verdutzt und blieb abrupt stehen, als schwarze Schliere aus ihr hervorkrochen und den moosbewachsenen Boden mit ihrer Dunkelheit tränkten.

»Elijah...«, stammelte ich mit bebender Stimme und konnte nicht fassen, was ich dort gerade zu Gesicht bekam. Mein gesamter Körper verspannte sich und ich taumelte einige Schritte zurück, als die Nebelschwaden innehielten und zu bemerken schienen, dass ich sie anstarrte. Sie.. bemerkten es! Ich spürte ihren Blick, obwohl sie überhaupt keine Augen besaßen und keuchte erstickt auf, als sie weiter durch die Wand sickerten. Elijah, der sofort stehen geblieben und zu mir zurückgekehrt war, ergriff meine ausgestreckte zitternde Hand, mit der ich auf die Grenze zwischen den Bäumen wies. »Tyreen, was..«
»Sie kommen durch Elijah.. sie kommen hindurch und..«, stammelte ich ihm nur ins Wort und wies erneut hektisch auf den Ursprung meiner Angst, zu der er sich nun endlich umdrehte. Ich erwartete fast schon, dass er erschrocken in mich hinein taumelte, als die Schatten nun auch seinen Blick auf sich bemerkten und kurz innehielten, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen drehte er den Kopf wieder zu mir und nahm vorsichtig meine Hand in die seine, wobei er sagte: »Sieh mich an.«

Fast schon beruhigend strich er mir über die Haut doch meine Augen waren immer noch auf die anbahnende Bedrohung gerichtet, als ich entsetzt fest stellte, wie immer mehr dunkler Nebel durch die Wand hindurch sickerte. »E-elijah wir müssen..«
»Sieh mich an.. Reena«, flüsterte er dann erneut und drückte meine Hand ein wenig, als ich ruckartig meine Augen auf die seine lenkte. Dieser Name; so hatte er mich schon eine Ewigkeit nicht mehr genannt.
»Alles ist in Ordnung. Schließ die Augen und dann schau nochmal hin.«
»Aber die Schatten.. die Schatten sie sind direkt.. dort.. sie kommen durch die Wand Elijah!«, versuchte ich erneut meine Gedanken ihm begreiflich zu machen, denn trotz dass ich sein Gesicht fixierte, erkannte ich doch die dunklen Umrisse hinter ihm. Er jedoch wiederholte nur seine Worte: »Schließ die Augen und dann schau nochmal hin. Nichts und niemand kommt über die Grenze.«

Mein Schwanz zuckte unermüdlich um meine Beine und mein Blick verlor sich in seinen grünen Iriden in dessen Mitte goldene Tupfen zu glühen schienen. Hatte ich das jemals bemerkt? Diese warmen Honigtupfen?

Noch einmal wollten mir meine Augen zu der magischen Wand unserer Welten abdriften doch Elijahs leises »Reena«, ließ mich innehalten und ich gehorchte schlussendlich. Zitternd schloss ich die Lider, atmete tief durch und als ich sie wieder hob, waren die Schatten verschwunden. Der Wind fegte über das Moos und die Magie der Grenze summte friedlich, als würde sie all die Albträume von uns fernhalten.

Meine Angst flaute ab und ich nickte leicht, als der junge Jäger seine Augenbrauen anhob. Sein darauffolgendes Lächeln jagte den letzten Schauer von meinem Körper und ich starrte erneut auf den Energiefluss der Wand. »Ich bin nicht verrückt Elijah. Da war etwas.«
»Ist es nun immer noch da?« Ich zögerte, konnte jedoch keine verdächtigen Schliere oder Schatten erkennen. Hatte ich es mir doch nur eingebildet? Aber dieser physische Augenkontakt...

»Nein«, antwortete ich letztendlich auf seine Frage und ließ seine Hand los. Der Blonde musterte mich noch einen Augenblick, ehe er sich eine seiner langen Strähnen hinters Ohr strich und mit dem Kopf Richtung Stadt wies. »Ich begleite dich selbst zu Naira. Sie muss sich so schnell wie möglich deine Wunde ansehen. Im vierzigsten Elaborat der Heilkunst wird über die Giftwirkung der dunklen Magie geschrieben. Es heißt, es kann in kleinen Mengen Erinnerungen entreißen, Halluzinationen heraufbeschwören oder sogar deine Wahrnehmung betrügen. Du musst mir vertrauen, die Schriften der alten Heilkunst und der der Nachtschwüre habe ich schon vor Ewigkeiten verfestigt.«

Er redete weiter. Den gesamten Weg. Warf mir ab und an noch besorgte Blicke zu, doch ich lauschte ihm schon eine Ewigkeit nicht mehr. Das was ich gesehen hatte, waren keine giftgesteuerten Halluzinationen oder Eingebungen gewesen, nein. Dieses Gefühl, was die Bedrohung in mir ausgelöst hatte, war real, auch, wenn es so schnell verschwand wie es gekommen war.

Mein Seitenblick war unermüdlich auf die Grenze gerichtet, während wir den moosbewachsenen Pfad entlang eilten. Meine Heiterkeit war erloschen und übrig blieb ein Unbehagen, dass ich noch nie zuvor gespürt hatte. Die Schatten waren zwar verschwunden, doch das Gefühl beobachtet zu werden war geblieben.

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