10: Surrendering


Unentschlossenheit ist genauso eine Antwort wie der Entschluss an sich.

Obwohl mir die Schattenkreatur so nah war, drang ihre Stimme nur wie durch Watte zu mir hindurch.
Meine Augen waren starr auf ihre aschblaue Haut gerichtet, die in dem Gold der Abendsonne schimmerte wie zersplittertes Glas.
Ich betrachtete sie eine Weile, beobachtete den Schimmer zwischen ihrem tiefen Ausschnitt und sah ihr dann wieder in die Augen, die mich beinahe verschlangen.

Und wenn ich meine Vorurteile für einen klitzekleinen Moment ausdünnte, so musste ich mir ihre Schönheit eingestehen. Es war eine rein oberflächliche Betrachtungsweise, die ich im hintersten Eck meines Geistes überdachte, aber dennoch fühlte sich allein dieser Gedanke schon so falsch an.

Ihre Augen funkelten wissend und ich spürte erneut die sanften Krallen über die Tür meines Geistes streichen, bevor ich mich schlussendlich dazu rang Worte für ihre Frage zu finden.
»Wir haben keine Bilder von ihnen«, fing ich langsam an zu reden und die Klauen verschwanden. »Uns werden von Geburt an die Gefahren und Tragödien der Vergangenheit ausgelegt. Wir kennen sie nur als habgierige, mordlustige Monster die ihre stärkere Muskelkraft einem schwächeren Wesen gegenüber zum Vorteil nu-«
»Oh bitte verzeih«, gab sie belustigt von sich, nachdem mich ihr plötzliches Prusten mitten im Satz unterbrochen hatte.

Ich zog eine Braue hoch und verengte die Augen, als sie mit ihrer Kontrolle rang und schlussendlich mit dem gleichen vorherigen beherrschten Ausdruck sagte: »Bitte sprich weiter.«
Am liebsten hätte ich ihr vor die Füße gespuckt und wäre so schnell gerannt, wie es meine Beine zuließen. Stattdessen überging ich jedoch die Unterbrechung und setzte Zähne knirschend erneut an.
»Wir stellen sie uns als schaurige Wesen vor, körperlich völlig unähnlich zu uns und doch nicht ganz so verschieden wie man sich wünschen würde. Sie leben in der Schwärze, denn auf eurer Seite existieren keine Strahlen der Sonne.« Meine leise Stimme war nichts im Gegensatz zu der hasserfüllten Abscheu, die ich in meinem Inneren bei der Beschreibung empfand. »Sie sind beflügelt«, fügte ich dann nach kurzer Überdenkung noch hinzu und verschloss meine Lippen wieder.

Die Blauhaarige nickte überlegend und schenkte mir dann erneut ein Lächeln, bei dem mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Ihr dunkler, dünner Schwanz schmiegte sich fahrig um ihre Hüfte und als sie einen weiteren Schritt auf mich zutrat, bildete ich mir fast schon ein die verbrannte Haut an ihrem Arm riechen zu können.

Sie musterte mich eine Weile mit ihren unirdischen Augen, nickte dann erneut und wandte sich von mir ab, woraufhin ich zum ersten Mal ihren Rücken betrachten konnte, dessen Anblick sich in meinen Schädel fraß und mich erschaudern ließ.

Die Rückenpartie der Kreatur zeugte von einer vergangenen Pracht, wo nun nur noch ein stummes Echo von ihrem selbst zu erkennen war. Feine Narben zogen sich über ihren gesamten Rücken und schimmerten silbern im Licht der Sonne, dass ihre bläuliche Haut küsste. Was jedoch noch viel erschreckender war, waren die unsauber zurückgelassenen Stümpfe, die aus ihren Schulterblättern wuchsen. Wo einst majestätische Flügel sich in den Himmel erhoben, klaffte nun ein dunkler Abgrund der Grausamkeit. Ihre ehemalige Erhabenheit war zu einer traurigen Erinnerung erblasst und als würde der Himmel selbst den Verlust beklagen, strich er mir über den Nacken und streichelte die Kälte fort.
Die Stumpen glichen den zerrissenen Träumen eines verlorenen Geistes und mir war, als ob die Finsternis selbst aus den Wunden dieses Wesens hervorbräche, und meine eigene Angst verschmolz mit der bitteren Realität dieser entsetzlichen Vision.

Es war keines Wegs so, dass ich mit dieser Kreatur vor mir sympathisierte aber in meinem tiefsten Inneren regte sich ein Gefühl, dass ich am liebsten verdrängt hätte.
Ich stellte mir vor wie es sich angefühlt haben musste, wie ihre aussichtslosen Schreie die Welt erschüttert hatten als ihre Tränen den Boden benetzten und sie begriffen hatte, dass ihr ein Teil ihres Körpers gestohlen wurde, der ein Stück ihrer Seele war. Ich empfand Mitleid und als ich mir dessen bewusst wurde, drehte ich meinen Kopf von der Kreatur und der Missgestaltung ihres Körpers.

»Du hasst sie, oder? Ihr alle tut das.«
Ich verstand sofort wen sie meinte, sah aber nicht erneut auf, als ich antwortete: »Wir haben allen Grund, oder etwa nicht? Sie waren.. sind nur an unserer Magie interessiert und eine Begegnung bedeutet unseren sicheren, qualvollen Missbrauch der mit dem Tod endet. Sag du mir lieber; wie sollte ich da keinen abgrundtiefen Hass empfinden?« Ihre Augen verengten sich etwas und mir war, als würde sich mehr Dunkelheit um ihre Füße sammeln als ich hinzufügte: »Ihr alle seid Fehler einer experimentierfreudigen Gottheit die sich selbst an dem Leid ihrer Kinder ergötzt.«

Ich erwartete schon erneut ihre kalten Klauen an meinem Geist zu spüren, denn ich bewegte mich waghalsig auf dünnem Eis. Mich hätte es nun sogar nicht wirklich gewundert, wenn sie mich gefragt hätte, ob ich nicht lebensmüde sei, doch auch wenn ich gefesselt und selbst ohne diesen Aspekt nichts gegen sie ausrichten konnte, hatte ich dennoch nicht meinen Stolz verloren und so blickte ich ihr standhaft in die schmalen Augen.
Für eine viel zu lange Zeit in der sie wahrscheinlich abschätzte, ob mein Tod ihre wenige Mühe wert war.

Ein tiefer Atemzug entwich dann schließlich ihrer Kehle und sie verschränkte die Arme vor der halbnackten Brust, als sie zu meiner Überraschung beherrscht fragte: »Würdest du sie gerne tot; ausgelöscht sehen?«

»Was?« Verwirrt von dieser Frage starrte ich sie etwas perplex an und wollte schon erneut ansetzen, als sich plötzlich die Peitsche von meinem Körper löste. Mit einem erstickten Schrei fiel ich ins weiche Moos und sah dann mit den Worten »Was ist das denn für eine Frage.. natürlich möchte ich das« verärgert auf.

Ich streckte meine eingeschlafenen Beine etwas durch und stand dann langsam und so gefasst auf wie ich es meinem verspannten Körper zutraute. Angewidert klopfte ich mir die öligen, rauchigen Schliere von dem Leinenumhang und nahm meine Peitsche auf, dessen Feuer mit ihrer Lösung erloschen war. »Dann müsstest du meine Worte ja wirklich begehren, wenn ich dir nun sagen würde, dass es da eventuell eine Möglichkeit gibt.«

»Eure Sippe auszulöschen..?« Sie verzog kurz den Mund, nickte dann jedoch mit einem verführerischen Lächeln und fing an erneut um mich herum zu streichen, wie ein lauerndes Raubtier. Ihr Rücken erzählte dabei eine Geschichte von Vergänglichkeit und verlorenen Horizonten, denn nun, da ich ihn einmal gesehen hatte, fiel es mir weitaus schwerer wegzusehen. Es war wie ein Unfall, von dem man einfach nicht absehen konnte.

Ihre seidenweiche Stimme zerschnitt erneut die Lichtung.
»Ganz recht. Es gibt tatsächlich einen einzigen Weg, durch den man die Seite der Nacht, Nocturnia, Dämonen und all die anderen..« Sie legte eine kurze Pause ein und setzte ihren nächsten Worten eine Schärfe bei, die mich erschaudern ließ. »..meiner Sippe auslöschen kann.«

Ich drehte mich mit ihr, nun da ich es konnte, und versuchte sie nicht aus den Augen zu lassen, während sie weiter um mich herum ihre Kreise zog. Sie sprach von Worten die ich nicht verstand aber ich wagte es nicht nachzufragen, stattdessen sprach mein Misstrauen: »Und aus welchem Grund erzählst du mir das? Wieso sollte einer von ihnen wollen, dass man ihr gesamtes Reich in den Abgrund stürzt? Seid ihr lebensmüde da drüben? Verstehen könnte ich es. Vielleicht erstickt man ja irgendwann selbst an all den zugefügten Qualen der Vorfahren und Ahnen, an den mörderischen und gierigen Gedanken.«

In einem einzigen Augenblick, in dem ich glaubte, geblinzelt zu haben, sah ich ihr Gesicht vor mir und spürte ihre kräftigen Hände an dem Kragen meines Leinenumhangs, an dem sie mich unsanft näher an sich heranzog. Mein Körper verkrampfte sich und ich atmete keuchend aus, als der Ruck mich zum zweiten Mal an diesem Abend gegen ihren Körper schleuderte. Ihre Mundwinkel verzogen sich verärgert und ließen ihre weißen Zähne aufblitzen, die sich von ihrem dunklen Körper so sehr abhoben, als wären sie völlig fehl am Platz. Das Wesen holte Luft, wollte mir etwas entgegen fauchen, besann sich jedoch kurz vorher und schloss für wenige Sekunden knurrend die Augen. Sekunden auf die ich gewartet hatte.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung griff ich an meinen Oberschenkel und entsicherte den versteckten Dolch aus seinem Holster. Sie öffnete flackernd die Augenlider und stöhnte erschrocken auf, als ich ihr im nächsten Moment auch schon die Schneide in die Schulter schlug.

Das Metall durchbohrte sie wie Butter und steckte tief in ihrer blassen Haut, als ich mich von ihr wegstieß und mehrere Schritte auf Abstand ging.
Mein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig und trotz der wachsenden Angst unter meiner Haut fauchte ich ihr entgegen: »Fass mich verdammt nochmal nicht an!«

Die Kreatur jedoch starrte nur an sich hinab und umfasste dann mit einem tiefen Seufzen den Dolch, ehe sie diesen mit einer Leichtigkeit wieder aus ihrer Schulter zog. Das Blut floss wie triefendes Öl aus der Wunde und durchnässte ihre dunkle Tracht, als ihre starren blauen Augen erneut mein Selbst fokussierten. Ein eiskalter Schauer lief mir daraufhin den Rücken hinab und ich spürte schon den Ansatz der Klauen an meinem Geist, als sie schließlich ihre Schultern straffte und sich ihr Gesicht auch wieder entspannte. Fast so, als müsste sie um ihre eigene Kontrolle ringen.

»Hör zu, wenn du heute noch vor hast mich umzubringen, stell dich darauf ein, dass ich mich dir nicht wehrlos hingeben werde. So aussichtslos es auch zu sein scheint.«

Meine Stimme war kaum mehr als der Wind, der durch die Bäume strich, als ich in den Starrwettbewerb mit einstieg. »Das merke ich.«

Das Wesen löste ihren Blick nach mehreren ziehenden Sekunden als erste und atmete genervt aus. Sie sah an sich hinab und inspizierte erst ihren Arm und dann ihre Schulter, ehe sie seufzend murmelte: »Um Tenebras Willen.. er wird mich umbringen.«

Ich zog eine Augenbraue hoch und musterte die abstrakte Gestalt vor mir, die sich keinerlei Schmerzen ansehen ließ und auch nicht so wirkte, als würde sie mir in den nächsten Minuten das Leben aushauchen.

Ihr gesamtes Wesen wirkte so vollkommen falsch an diesem Ort und doch war dort eine gewisse Vertrautheit in ihrem Sein, die selbst die Vögel irritierte, denn sie begannen leise wieder mit ihren Gesängen und übergingen die Abstraktheit vor mir.

Ein autoritäres Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und so wanderten meine Augen wieder hinauf, als ich bemerkte, dass mein Blick unwissentlich erneut über ihren Körper gewandert war. Ihre nächsten Worte setzten wieder bei unserem eigentlichen Gespräch an.

»Wieso ich zulassen würde, dass ein kleiner Dawner für die Ausrottung unseres gesamten Reiches verantwortlich ist?«
Die Kreatur machte eine kurze Pause, doch als sich schon der Ansatz einer Bestätigung auf meinem Gesicht zeigen wollte, hob sie nur die Hand und unterbrach jeglichen Gedanken. »Berechtigte Frage, aber du musst verstehen, dass ich meine eigenen Gründe habe. Ergreife lediglich die Chance oder lebe mit den Schuldgefühlen, deinem Reich niemals der Retter zu sein, den sie doch in all ihrer Furcht am dringendsten ersehen.«

Ich blinzelte und dachte trotz der Dringlichkeit in ihren Worten über diese nach.
Es war so leicht und stellte sich in jenem Moment als die schwerste Entscheidung meines gesamten Lebens heraus. Gerade weil es doch so verführerisch und einfach wäre.. sollte mir meine Vorsicht diese Wahl da nicht abnehmen?

»Unentschlossenheit ist genauso eine Antwort wie der Entschluss an sich«, meinte das Schattenwesen dann schlussendlich, nachdem es vermutlich in meinen Gedanken herumgekramt hatte und wandte sich ab. Ihr abscheuliches Rückenmassaker stellte sie mir damit willentlich zur Schau und entkräftete meine innere Unsicherheit, als mir bewusst wurde, dass dies ein nonverbaler Abschied war.

Meine Lunge verkrampfte sich und meine Nägel stachen schmerzhaft in meine Handinnenflächen, als ich unweigerlich einen Schritt auf sie und die Schatten zuging und die Entscheidung fällte, die vermutlich mein gesamtes Leben verändern würde, als ich leise hauchte: »Warte!«

Ihr dunkler Schwanz zuckte kurz, doch innehalten tat die Kreatur nicht, als sie mit geschmeidigen Schritten weiter auf die pulsierende Wand aus Magie zuschritt. Ihre Bewegungen waren dabei so fließend und unnahbar, dass ich mich nicht traute, sie mit einer einzelnen Berührung aufzuhalten. Stattdessen atmete ich zittrig aus und sprach so gefasst wie ich nur konnte: »Bitte.. sag mir wie ich dein gesamtes Reich auslöschen kann.«

Ein einziger Schritt trennte sie nur noch von der Nacht und ebenso nah war ich auch der Erleichterung, als sie tatsächlich innehielt und sich in der nächsten Sekunde zu mir umdrehte. Ihre unnatürlichen Augen fanden erneut die meinen und als sie in diesen las, schenkte das Wesen mir ein Lächeln das mir verriet, dass sie tatsächlich bereit war, für ihre Gründe in den Tod zu gehen.

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