kapitel zwei - geisterbild
bild, das nach dem reinigen immer noch zu erkennen ist
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„ER REDET NICHT MIT UNS. Der Junge sitzt seit drei Uhr morgens in der Zentrale und weigert sich, mit den Beamten zu kooperieren."
Sein Kopfschmerz hämmerte zum Glück penetranter gegen seine Stirn als die Stimme seiner Arbeitskollegin in seinen Ohren piepte, sonst hätte Yoongi seine Genervtheit nicht so leicht im schwarzen Kaffee ertränkt.
Er brummte irgendeine Form von Resonanz in seine Tasse und tat unheimlich beschäftigt dabei, wie er die Karte wieder und wieder las, die auf seinem Stuhl gelegen hatte. Eigentlich konnte Yoongi behaupten, dass seine emotionsbefreiten Mienen immer ihren Zweck erfüllten und zumeist wortlos ausdrückten, allein gelassen werden zu wollen. Heute schien der Alkohol an ihrer Garantie genagt zu haben.
„Du solltest es versuchen", bohrte sie weiter. „Vielleicht redet er nur nicht mit uns, weil wir bisher nur weibliche Kolleginnen auf seine Abhörung angesetzt haben. Womöglich hast du einen besseren Draht zu ihm."
„Warum noch gleich lassen wir ihn nicht gehen?"
„Du weißt, warum. A. C. A. B." Augenrollend schüttelte Aran den Kopf und sortierte die Dokumente in ihrem Arm. „Wenn wir jeden freiließen, der mit Propaganda gegen die Polizeiinstitution um sich wirft, verlieren wir unseren Biss. Führ einfach nur die Befragung durch, alles was du brauchst, steht hier drin."
Die Akte und ihre ach so vernichtenden Beweislagen sahen kläglich dünn aus. Wenigstens nur ein Möchtegern-Graffiti-Künstler und kein versierter Taschendieb oder Schlägertyp, der zum wiederholten Male in der Polizeiwache auflief. Yoongi hätte herzlich wenig Lust darauf gehabt, einen etablierten Kriminellen zu verhören, wenn seine Zunge sich nur träge und reibend um die Konsonanten wand, die es benötigte, um echte Wörter zu formen.
Tief durchatmend schob er den Kuchen beiseite, der auf seinem Platz im Dienstraum gestanden hatte. Irgendjemand hatte scheinbar ein durchzechteres Wochenende hinter sich als er, denn der Geburtstagskuchen war auch dann schon angeschnitten gewesen, als er heute Morgen ins Präsidium von Dongnae eingecheckt hatte. Wahrlich unzeremoniell war vom Schriftzug übrig geblieben: Happy Birthday, Yo
Entweder das oder seine Kollegen hielten sich für besonders witzig, ihn im amateurhaften Jugend-Slang zu seinem achtundzwanzigsten Geburtstag beglückwünschen.
„Ich schau nach ihm", versprach Yoongi Aran mit rauer Stimme, die wohl Zeugnis dafür ablegen musste, dass er mindestens genauso lange heute Nacht wachgeblieben war wie der Unglückselige, der beim Sprayen in Oncheon-dong erwischt worden war. Aran nickte, stand noch immer im Türrahmen zum Pausenraum und setzte den Überbleibseln des Buttercremekuchens auf dem Tisch ihren schmachtenden Blicken aus.
Yoongi wappnete sich gegen die Tatsache, heute Mittag wahrscheinlich kein Stück mehr abzubekommen, während er die Räumlichkeit verließ. Ihm machte es nichts aus. Sein Magen hätte es ihm sowieso nicht gedankt.
Die Tür zum Verhörzimmer hob sich grau und unspektakulär zwischen den weißen Tapeten ab. Yoongi drückte die Klinke herunter und betrat den fensterlosen, schlichten Raum, der lediglich mit einem Tisch, zwei Stühlen und einer gellend hellen Tischlampe ausgestattet worden war. Das einzige Bild an der Wand wirkte vor dieser Prämisse fast lachhaft gewählt, denn es stellte einen Strand dar, über dem Möwen kreisten—gelinde gesagt den Inbegriff vom Freisein.
Eine ältere Kollegin von ihm saß auf dem Stuhl gegenüber dem des Jungen und brütete so konzentriert über Papieren als plante sie in Gedanken eigentlich Züge bei Schiffe-Versenken—mit dem stillen Junge als Schiff. Beim leisen Schließen der Tür drehte Heeso in geradezu erleichterter Manier den Kopf. Die Ringe unter ihren Augen verrieten, dass sie sich alle Zähne an dem Sprayer ausgebissen hatte, und die freistehenden Kästchen auf ihrem Dokument untermauerten Yoongis Verdacht, dass die Zentrale bisher nicht mehr aus dem Kleinkriminellen herausgequetscht hatte als den obligatorischen THC-Test. Immerhin lautete das Ergebnis der Drogenkontrolle negativ.
Er fühlte ein Augenmerk quälend langsam an sich herunterschweifen, bevor sein stechendes Gewicht sich in der Luft verflüchtigte, die erfüllt war von Frustration und hartnäckiger Sturheit.
„Ich übernehme", murmelte Yoongi, wartete bis seine Kollegin den Raum verlassen hatte und ließ sich dann auf dem freigewordenen Stuhl nieder.
In der anderweitig sterilen, modernen Eintönigkeit des kleinen Zimmers stach die ungewöhnliche Haarfärbung des Jungen heraus wie eine verwaschene Anomalie. Pinke und violette Strähnen umfächerten in unzähligen Farbabstufungen sein rundliches Gesicht und Yoongi zwang sich die Erkenntnis ein, dass an niemand anderem ein gescheitertes Haarfärbeexperiment so gekonnt gewollt ausgesehen hätte wie an dem Jungen in der roten College-Jacke mit den Kratzern im Gesicht. Blondierte Enden fielen ihm vor die Augen, die er erst dann von seinen zusammengeschnürten, ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen Händen anhob, als die Tür ins Schloss fiel. Mit einer bemerkenswerten Präzision kamen sie durch seinen Pony auf Yoongis Augenmerk zum Erliegen.
Es behelligte Yoongi irgendwo, dass er dem entschlossenen Zug um seinen plumpen Schmollmund herum eine gewisse amüsierte Herausforderung nicht aberkennen konnte—fast so, als wollte der Junge herausfinden, wann er den nächsten Officer knacken könnte.
Er rechnete nicht damit, das Wort ausgerechnet an denjenigen Sturkopf zu verlieren, der sich seit sechs Stunden ein Schweigegelübde aufgebürdet hatte.
„Ist das sowas wie ein Level-Up?", fragte er gelangweilt, die Pupillen demonstrativ durch den schlichten Raum wandern lassend. Er klang jünger als er aussah, was bei seiner Haarfarbe und der typisch-jugendlichen Aggression, die er an diese Mauer geschmiert hatte, überraschend kam. Seine Haare sahen aus, als hätte er die Sprühventile vorher an ihnen ausgetestet.
Yoongi legte die Aktenmappe nieder und schlug sie auf. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich folgen kann."
„Wie in einem Videospiel. Die vorherigen Gegner habe ich besiegt, jetzt schicken sie den Endboss."
„Ah. Es scheint mir ein äußerst langweiliges Videospiel zu sein, wenn du die Levels durch Schweigen bestreitest."
Der Junge zuckte die Schultern. „Auf einmal ist es gar nicht mehr so langweilig", erwiderte er leichthin.
Eine Steilfalte tat sich zwischen Yoongis Augenbrauen auf. Kurz nur musterte er sein Gegenüber kritisch. Dann vergrub er die Nase wieder in seiner Akte.
Wie bereits erwartet gab es herzlich wenig über den Jungen zu erfahren. Er konsumierte keine Drogen, war nüchtern und schien abgesehen von dem aufsässigen Gedankengut in seinem Kopf auch sonst geistig auf einer Höhe zu sein, in der man eigentlich meinen sollte, dass Vernehmungen sich nicht sechs Stunden in die Länge ziehen müssten. Mit Blitzlicht war der Beweis seiner kleinkriminellen Machenschaften noch in der gestrigen Tatnacht aufgefangen worden, schwarz auf weiß hatte sich die Sprühfarbe wortwörtlich ins Mauerwerk in Dongnae gefressen. Stirnrunzelnd schob Yoongi die Fotografien zurück hinter die Büroklammer, die mehr festhalten wollte als ein größtenteils unbeschriebenes Blatt Papier und einen Graffiti-Schriftzug, der in dieser unoriginellen Form zu tausenden schon an Wände gesprüht worden war. Es war nicht das erste Mal, dass Yoongi revoltierende Sprayer ins Kreuzverhör nahm, und es würde höchstwahrscheinlich auch nicht das letzte Mal sein—spätestens nach der Freilassung der selbsternannten Künstler würde irgendwo bereits einer von dessen Komplizen zur Rache den Teufelskreis vom Katz-und-Maus-Spiel von vorne gestartet haben. Entnervt massierte er sich die Schläfen.
Das unangerührte Glas Wasser vor dem Jungen sah in seinen entnüchternden Augen köstlich aus. „Lass uns das Ganze schnell hinter uns bringen. Auf welchen Namen hörst du?", fing er lahm an, den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern schnell und gestresst hin und her pendeln lassend.
„Ich war das nicht", antwortete der Junge plump. Yoongi wollte genervt ausatmen, schluckte das Geräusch aber herunter. Wenigstens redete er, damit sollte er anfangen.
„Sehr exotischer Name."
„Ich rede eben nicht ohne Anwalt."
„Lass dir versichert sein, dass du keinen Anwalt brauchen wirst. Wenn wir für jeden illegalen Sprayer Gerichtsprozesse aufrollten, hätten wir keine Gerichtssäle mehr, um die wirklich wichtigen Verfahren im Land zu vollstrecken."
Es hatte eine subtile Degradation sein sollen, die Herabstufung aller Sprayer auf etwas Bedeutungsloses, das trotz seiner Hinterlassenschaften auf Gemäuern und Gebilden nicht der Rede wert war; etwas, das einen Reiz in dem Jungen anstacheln sollte, um mehr aus ihm hervorzukitzeln als schläfrige Blicke und süffisante, vermeintlich überlegene Schmunzeln. Irgendwie kam seine Wortgewandtheit heute nicht so an wie intendiert.
„Dann kann ich ja genauso gut nach Hause gehen", schlussfolgerte der Junge keck und Yoongi warf ihm einen scharfen Blick durch seinen Wimpernvorhang zu.
„Nicht bevor ich deine Personalien bekommen habe. Du ersparst dir und mir sehr viel Kopfschmerz, wenn du mir deinen Namen, dein Alter, deine Anschrift und das Tatmotiv verrätst."
„Hören Sie, Officer..." Der Bursche machte eine Show daraus, wie langsam seine Augen sich auf den wenigen Silbenblöcken, die in sein silbernes Namensschild eingraviert waren, räkeln konnten. „Min Yoongi-ssi. Ich bin mir meiner Rechte ziemlich bewusst, also können Sie sich den kleinkarierten Moralvortrag sparen. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich jetzt gerne nach Hause fahren wollen, wir verschwenden hier beide nämlich nur unsere kostbare Zeit, von der wir nicht mehr so viel haben, richtig?"
Was für ein Miststück.
„Du befindest dich in unserer Obhutsgewahrsam, die noch sehr lange andauern kann, wenn du deine Kooperation mit uns weiterhin verweigerst." Yoongi bemühte sich nicht mehr darum, die Enervierung aus seinen Gesichtszügen zu tilgen. Im Pausenraum aßen sie wahrscheinlich gerade seine Buttercremetorte und er durfte sich mit einem pubertären Möchtegern-Michelangelo herumschlagen. „Also wie alt warst du noch gleich, hast du gesagt?"
„17", antwortete der Junge überraschenderweise plötzlich handzahm.
Yoongi massierte sich wieder die Schläfe, beschloss aber, seinen Sinneswandel nicht zu hinterfragen. „17", wiederholte er murmelnd, mit dem Kugelschreiber die Ziffern auf das Papier kritzelnd. „Hast du einen Erziehungsberechtigten, der dich vermisst und vom Revier abholen kann? Den wir informieren können, dass du hier bist?"
Er schüttelte den Kopf.
„Geschwister? Freunde, Verwandte, Geld für einen Bus nach Hause?"
„So viele Kästchen gibt es gar nicht auf Ihrem Zettel wie Sie Fragen stellen."
Das Seufzen verkeilte sich in seiner Kehle. Für dreiste Jugendliche, die zwar gestürzt aber nicht auf den Mund gefallen waren, war es noch entschieden zu früh. „Dann stellen wir dir eine Mitfahrgelegenheit", schloss Yoongi halbherzig. „Und lassen dich noch einmal mit einer Verwarnung davonkommen. Lebst du allein?"
Jetzt nickte er. „In Haeundae-gu."
„Ah. Mit Ausblick auf die Küste, nehme ich an."
„Schon, aber ich hab jetzt auch nicht vorgehabt, mir meine Kaution durch den Umstieg ins Ferienhaus-Business zu erkaufen."
Gott, konnte er nicht einmal seine Fresse halten?
Unablässig tippte Yoongi das Metallende des Kugelschreibers gegen sein Kinn, ignorierte völlig den stichelnden Randkommentar. „Hier steht, dass du gestern Nacht nicht allein warst", machte er ausdruckslos weiter. „Kannst du uns Auskunft zu deinem Mittäter geben?"
Noch ein Kopfschütteln, wenn auch etwas verzögerter.
Yoongi blieb hartnäckig. Er arbeitete nicht auf den Posten des Kommissars hin, um an einem starrsinnigen Teenager zu verzweifeln. „Wenn du sagst, dass du es nicht gewesen bist, der die Parole gesprüht hat, dann muss es dein Komplize gewesen sein, richtig?"
Der Junge verschränkte wie zur Antwort—oder zur Provokation—die Arme vor der Brust; lehnte sich eine Idee tiefer in den Stuhl, als wollte er herausfinden, wie lang er den Polizisten mit seinem Schweigen quälen konnte.
Nicht lange. Yoongi konnte spüren, dass ihm seine Contenance schon jetzt entglitt. „Angaben zu seiner Person können den Verdacht von dir ablenken", führte er weiter mit einer Eindringlichkeit an, von der er nur hoffen konnte, dass sie auch durch Sturköpfe wie das Paradebeispiel unter seinem bunten Schopf vorstoßen könnte.
Der Junge blinzelte ihn betont gleichgültig an.
In seinen schläfrig-schönen Augen leuchtete förmlich ein Versuch's doch, es aus mir rauszukriegen.
„Schön", murmelte Yoongi, der allmählich spürte, wie ihm die Geduld schwand. „Keine Angaben." Mit einem beherzten Strich durchzog er den Satz.
„Dein Name?"
Erst schien er zu überlegen. Dann rollte er die Schultern zurück und legte den Kopf schief. „Park Jimin."
Yoongi schoss das Bauchgefühl, alles anzuzweifeln, was den sinnlichen Mund des Jungen verlassen würde, restlos in den Wind. Er nahm, was er kriegen konnte, um die Anzahl der leerstehenden Textfelder auf dem auszufüllenden Dokumenten zu minimieren.
„In Ordnung, Park Jimin-ssi, wichtig ist, dass du verstehst, warum wir zwischen Kunst und beleidigenden Paroli differenzieren müssen."
„Tu ich ehrlich gesagt nicht so ganz", fiel ihm der Junge schroff ins Wort.
Yoongi runzelte unbeeindruckt die Stirn. „War meine Wortwahl nicht eindeutig genug?"
„Wenn's geht, hätte ich die Differenzierung gerne schriftlich, bitte."
Pisser.
Der Kugelschreiber fuhr die Spitze geräuschvoll ein und wieder aus in seinen Fingern. „Du bekommst es mündlich: provokante und oftmals mit Gewaltverherrlichung assoziierte Aussprüche gegen eine bestimmte Subkultur in einer Gesellschaft werden nicht geduldet. Du weißt aber schon, was du da für ein Akronym an die Wand gekritzelt hast, oder?", schob Yoongi sarkastisch hinterher, weil es ihm allmählich bedeutend auf den Sack ging, mit was für einem süffisanten Ausdruck Jimin seinem genervten Blick standhielt.
Kaum merklich lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. „Sicher, sein Musterbeispiel sitzt direkt vor mir. All cops are beautiful, natürlich."
Yoongi glaubte, dass sein Lid zucken musste. „Dünnes Eis", entschlüpfte es ihm unwillkürlich eine kleine Spur zu barsch und eine noch kleinere Idee zu unprofessionell.
„Mein Fehler, dann war es doch Always carry a bible."
„Hör auf mit dem Scheiß."
„Ich hab meine dummerweise auf dem Weg hierher verloren, deine Kollegen haben mich ziemlich unbiblisch überwältigt."
„Jimin-"
„Ich wusste ja nicht, dass sie Auge um Auge, Zahn um Zahn so wörtlich nehmen-"
„Schön", grollte Yoongi laut und ließ die Spitze seines Kugelschreibers jetzt nicht mehr genervt, sondern regelrecht angepisst über dem Textfeld kreisen. „Deine Scherze finden hier ein Ende, du kommst mit einem rotzfrechen Mundwerk nicht einmal so viel wie einen Zentimeter näher zur Tür in die Außenwelt, falls du das immer noch nicht begriffen hast. Ohne mein Freischreiben sitzt du hier solange fest, bis dir deine dummen Sprüche ausgehen werden und jemand kommen wird, der dir den Lösungsvorschlag nicht so gnädig unterbreitet wie ich es tue. Also halt die Klappe und beantworte einfach nur meine Fragen."
Jimin murmelte etwas in den Kragen seiner Jacke. Erst bei Yoongis brüsker Aufforderung, sich zu wiederholen, hob er die Stimme. „Das war paradox", sagte er nur schulterzuckend.
Yoongi fiel der Mund offen.
„Ist dir die Blondierung ins Hirn gesickert?"
Amateurhaft schlecht imitierte Jimin ein erschrockenes Japsen. „Ein Beamter, der auf mein Erscheinungsbild losgeht—so viel zu die Polizei ist dein Freund und Helfer, hah, vielleicht ist an dem Schriftzug ja doch was dran."
„Kann schon sein", entgegnete Yoongi zwischen zusammengebissenen Zähnen, den Kugelschreiber in seinen Händen erwürgend. „Kriegen sie dich für Vandalismus und Beamtenbeleidigung dran, wird das einzige, was du neben deinem Urteil mit dir herumtragen wirst, nämlich deine Bibel sein, wenn sie dich im Jugendgefängnis damit rehabilitieren. Und dann wirst du dir wünschen, deine vorlaute Klappe nicht so weit aufgerissen zu haben, und dein kleiner Sprayer-Freund wird weiterhin ohne dich ungestraft und schadenfroh mehr Straßen beschmieren, klingt das nach einer erstrebenswerten Zukunft für einen jungen Menschen wie dich?"
Irgendetwas schienen seine Worte in dem Jungen aufgerührt zu haben, denn der Metallring rasselte leise gegen seine Fixierung an den Tisch, als Jimin sich aufrichtete und die aufgeschürften Finger zu Fäusten ballte. Endlich, dachte Yoongi augenrollend bei sich. Hätte sein gesunder Menschenverstand noch länger auf Durchzug gestellt, hätte er sich in seine wohlverdiente Raucherpause entlassen und den Burschen noch länger in seiner idiotischen Agenda vor sich hinvegetieren lassen.
Zum ersten Mal klang richtige Emotion in seiner hellen Stimme durch; fast so etwas wie gereizte Defensive. „Alles klar, Sie Besserwisser, hat Ihnen schonmal jemand gesagt, dass die Mauer beim Oncheoncheon-Fluss besprüht werden soll? Es ist ein offenes Projekt von Busan, um die städtischen Künstler zu fördern, der ganze Kilometer zwischen der U-Bahn-Station bis zur PNU-Haltestelle wurde als Spielwiese den Graffiti-Künstlern zugewiesen und ist dafür vorgesehen, mit Paintings und Tags und Writings beschmiert zu werden."
„Mhm. Ich schreibe dann also Wiederholungstäter auf, ja?"
Grollend warf Jimin sich in den Stuhl. Er kippelte gefährlich weit zurück und Yoongi wäre nicht überrascht gewesen, hätte er sich mit einem dramatischen Abgang aus seinem Sichtfeld verabschiedet. Zufriedener als noch wenige Minuten zuvor setzte er den letzten Silbenblock und begutachtete sein Protokoll fahrig, bevor er den verärgerten Blicken des Jungen begegnete, die regelrechte Löcher in sein Gesicht zu starren vermochten.
„Sie haben offensichtlich keine Ahnung von Kunst", lautete dessen abschätzig klingendes Fazit. Yoongi widmete sich desinteressiert dem nächsten Blatt Papier, auf dem er in schneller, kursiver Handschrift die Randdatierungen dieser Vernehmung für ihr System festhielt.
„Graffiti ist keine Kunstform für mich."
„Weil Sie sich nicht mit ihr beschäftigen", vollendete Jimin ungebeten seinen Satz.
„Hm? Nein, ich meinte, was ich sagte, es ist in meinen Augen keine Kunst."
Jimin schnaubte verächtlich, wenn nicht sogar ein wenig pikiert. „Ja, sicher. Sie sind bestimmt jemand, der sich lieber Gemälde anschaut, deren Künstler seit Tausenden von Jahren tot sind."
„Wenn du wirklich solch einen Künstler finden solltest, der sich die letzte Eiszeit damit vertrieben hat, Gemälde anzufertigen, die wir nach 20 000 Jahren immer noch in Museen ausstellen, lass es mich wissen, das würde mich tatsächlich interessieren."
„Wozu irgendwelche Staubhaufen der Kunstgeschichte anhimmeln, wenn es lebende und vor allem bessere Äquivalente gibt, die von Unterstützung und Bewunderung auch noch etwas haben könnten?", bohrte Jimin unnachgiebig weiter.
Yoongi kritzelte konzentriert seine Signatur auf das Ende der Seite. „Weil diese Staubhaufen eure Vorreiter waren und ich eine Mona Lisa und Geburt der Venus bewundernswerter finde als Fußballvereins-Liebeserklärungen oder hingeklatschte Diskriminierungen. Du scheinst ziemlich viel von euch zu halten, wenn du die Pioniere in der Kunsthistorik, Erfinder von ganzen Epochen euch unterordnest."
Jimin kaute auf seiner Unterlippe herum. Irgendwie wünschte Yoongi sich, er würde es nicht tun. Sein Augenmerk fiel willenlos auf das geschwollene Lippenrot seiner Unterlippe, das nur widerwillig von seinen unmerklich schief stehenden Schneidezähnen entlassen wurde.
„Wenn wir immer nur die Vergangenheit in Ehren halten, verliert die Kraft der Moderne ihre Bedeutung. Muss ich erst unter der Erde versauern, bevor ich Ruhm ernten kann? Ist doch hirnrissig, dass man nur nach seinem Tod zu einem Wegbereiter erklärt wird. Ich bin den Weg doch zu Lebzeiten gegangen, warum fallen meine Fußspuren erst dann auf, wenn ich nicht mehr bin?"
Yoongi warf ihm einen prüfenden Blick zu. Jimin hatte sich dem gedruckten Ölbild mit dem Strand zugewandt. Er schwieg, senkte den Kopf wieder und schickte sich an die Beendigung seines Protokolls. Jimin ergriff nicht wieder das Wort und Yoongi arbeitete in äußerst willkommener Stille weiter, bis er sich durchatmend aufrichtete, die Schultern unter seiner Uniform straffte und die Blätter geräuschvoll sortierte.
„Damit hätte ich alles, was ich von dir benötige." Yoongi schloss die Akte, betätigte einen Knopf unterhalb des Tisches und legte den Kugelschreiber beiseite, um zu Jimin zu schauen. Er blickte ihn bereits an, genauso unbeeindruckt und ungerührt wie zuvor—mit dem verschwindend geringen Unterschied, dass Yoongi dieses Mal wusste, dass hinter seiner scharfzüngigen Attitüde mehr lockte als bloßer jugendlicher Trotz. Er faltete die Hände auf dem Tisch ineinander, die von Jimins Adleraugen sofortig ins Visier genommen wurden. „Ich reiche deine Akte durch und dann wird Personal kommen, das dir die Handschellen abnehmen und dich nach draußen geleiten wird, nachdem du dein Smartphone und deine Schlüssel und alles, was von dir beschlagnahmt wurde, von uns wiederbekommen hast."
Jimin klang skeptisch. „Das war's? Dann bin ich wieder auf freiem Fuß?"
„Nicht so ganz." Yoongi erhob sich vom Stuhl, der träge Sarkasmus aus seiner rauen Stimme träufelnd. „So religiös wie du bist, wird dich immer noch der Tag des Jüngsten Gerichts erwarten, aber keine Sorge. Wenn du einfach weiter den Aufruf verbreitest, immer die Bibel dabei haben zu müssen, sollte auch die Schuld irgendwann getilgt sein. Ah, danke, Heeso."
Die Handschellen klickten, als seine Kollegin die metallenen Fesseln aufschloss. Jimin dehnte seine Handgelenke und erhob sich dann, das kleine, amüsierte Grinsen auf seinen plumpen Lippen plötzlich zu intensiv für Yoongis Geschmack, jetzt wo der Junge sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte und ihm entschieden zu nah gekommen war. Er hielt den Plastikbeutel mit seinen wenigen Habseligkeiten und wusste genau, wie weit er seinen Kopf neigen musste, damit ihm pinke und violette Strähnen vor die Augen fallen würden. Ihren betörenden Ausdruck schränkten die fransigen Enden nicht ein.
„Vielen Dank, Officer. Für das aufschlussreiche Gespräch", säuselte er mit dem Anflug eines Lächelns, das sich überraschend gut neben seine Schrammen einfügte.
Yoongi hielt ihm die Tür offen. „Ich setze dich noch bei dir Zuhause ab, ", entgegnete er kurz angebunden, hinter Heeso das Verhörzimmer verlassend.
Jimin drehte sich im Gehen zu ihm um. „Mit Vergnügen", grinste er, bevor er sich auf dem Absatz seiner Sneakers wieder munter nach vorn wandte.
Auf die Hintertaschen seiner Jeans waren verzerrte Smiley-Gesichter mit weißem Filzstift gemalt worden. Yoongi hatte Mühe, seinen Blick von dem Kunstwerk fernzuhalten, während sie das Polizeipräsidium verließen und hinaus auf den Parkplatz traten, über dem ein bewölkter Aprilhimmel hing.
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