kapitel eins - aerosol-junkies & bahnbullen


scherzhafte selbstbezeichnung einiger sprayer
&
polizist, der im dienst einer bahngesellschaft steht

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DAS KLAPPERN IN DER SPRÜHDOSE klang wie das Ticken einer Uhr, die einen Countdown herunterzählte. Je öfter die Mischkugel gegen die Wände aus Aluminium und Weißblech schlug, je lauter sie die Stille der Nacht störte, desto ruckartiger warf Jimin Blicke über seine Schulter, hinein in die neblige Dunkelheit, die über dem Oncheoncheon waberte.

Der Fluss dümpelte vor sich hin, warf das Mondlicht noch träger zurück als die Sichel am Himmel es absonderte, von finsteren Wolken verdeckt und Regen ankündigend. Dongnae, eben. Bevor der verschlafene Stadtteil aufwachte, wären seine Vandalen schon davon und die Mauer entlang der Oncheoncheon-ro pink gesprüht.

Aus der Ferne sahen die Paintings pink aus, hieß das. So wie er den Graffiti-Künstler kannte, dürfte die gähnende Einsamkeit hier seine Synapsen zu etwas Anspruchsvollerem angespornt haben als ein einfaches Street-Bombing, sonst wäre er längst schon fertig und hätte nicht bereits die dritte Dose angebrochen.

Jimin hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben, wippte vor und zurück auf den Fußballen, damit sein Kreislauf nicht in den Keller kippte.

Für eine Aprilnacht herrschten nur noch laue neun Grad und seine rote College-Jacke wurde vom Gestank der Innenstadt regelrecht perforiert. Hinter seinem Mund-Nasen-Schutz rümpfte er die Nase, bemitleidete sie um ihre Hilflosigkeit, den Ausdünstungen eines schmutzigen Abwasserkanals ausgeliefert zu sein.

Er hatte Myeon darum gebeten, an dem Piece mitzuarbeiten, aber der erfahrenere Writer hatte in der U-Bahn nur über seinen Vorschlag gelacht.

„Du bist noch ein Toy", hatte er gelächelt, als sie die Station verlassen hatten, den Rucksack gestrafft, das verräterische Klattern der Spraydosen darin mit einem heiteren Pfeifen übertönt. Jimin mochte den Szenebegriff für blutige Anfänger nicht. „Nächstes Mal darfst du vielleicht biten, aber dieses Mal stehst du wieder Wache."

Biten. Auch jetzt konnte Jimin über die Art, wie sein Lerneifer vertröstet worden war, nur die Augen verdrehen.

In ihrer Szene praktizierten Amateure die geringwertige Kunst der Nachahmung von Styles und Tags etablierterer Künstler. Anfänger, die beim Kopieren erwischt wurden, waren genauso angesehen wie gern gesehen und wurden den Schandfleck des Biter-Seins nur schwer wieder los. Jimin wusste, dass er lernen musste; dass er den Unterschied zwischen Fat-, Skinny- und Soft-Caps noch nicht so makellos verstand wie ein Myeon, der so oft zwischen den Ventilen wechselte wie ein Schulkind zwischen Buntstiften. Er wollte seinen Unmut durch mehr zum Ausdruck bringen als das Seufzen, das seinen Mund in regelmäßigen Abständen verließ. Aber da er sich glücklich schätzen konnte, als Toy überhaupt in eine Crew, den Zusammenschluss von Writern, aufgenommen worden zu sein, hielt er gezwungenermaßen die Klappe und verbiss sich alle ungeduldigen Kommentare, die auf seiner schlagfertigen Zunge auf ihren Einsatz warteten.

Die BSK, die Busan Street Kids, hatten in der Hafenstadt noch nicht den Titel des „All City King" errungen, auf den sie mit ihren Murals, Bombings und Paintings hinarbeiteten. Das mochte daran liegen, dass die Hälfte ihres Quintetts nicht einmal aus Busan stammte-und weil einzelne Köpfe im Syndikat lieber im Alleingang die Straßen unsicher machten als zusammen in einer Art Yardrain.

Jeder wollte den Ruhm, der mit der Krönung zum König einer ganzen Stadt einherging. Deswegen sprayten auch alle in so vielen Distrikten einer Kommune wie möglich-um mit ihrer Kunst allgegenwärtig die Kultur und Gedächtnisse der Menschen zu prägen. Selten nur schafften es Crews als Kollektiv an die Spitze. Dafür gab es dann doch zu viele Eigenbrötler, die lieber ihre alleinige Signatur auf den bekanntesten Bildern der Stadt sehen wollten.

Jimin hegte nicht zum ersten Mal den Verdacht, dass es auch Myeon gerade aus diesem Grund des Nachts in den nördlichen Distrikt von Dongnae verschlagen hatte. Hier dominierte keine Gang die Subkultur, der sie sich mit Haut und-in Jimins Fall-Haaren verschworen hatten, und hier, auf der Mauer entlang der Oncheoncheon-ro bis zur PNU-U-Bahn-Station, gab es massenhaft Bilder anderer Sprayer, regelrechter Szene-Idole zu würdigen-oder zu übersprühen, wenn man es satt hatte, auf Anerkennung für seine Arbeit zu warten, und stattdessen auf Aufmerksamkeit aus Verachtung pochte.

Außerdem war es nicht so, dass Jimin wirklich Besseres zu tun hatte, als Myeons Angebot, ihn heute Nacht zu begleiten, abzulehnen. Er schlief selten gut und war eben wirklich nur ein Amateur, der alle Lehrstunden, die er bekommen konnte, mitnehmen musste. Ihm fehlten die nötigen Scheine in den Hosentaschen, um selbst Farbe zu kaufen, und seine Klappe war zwar groß, aber zu feige, um Bogarting zu betreiben; anderen Sprayern ihre Sprühdosen zu klauen.

Selbst wenn er sich den Arsch dabei abfror und stille Flüche in den Nachthimmel schickte. Jimin brillierte genauso gut in seinen Pokerfaces wie in seinem Spraywissen und genau deswegen war es vermutlich besser so, dass er es war, der Wache schob und sich nicht an den Leinwänden aus Mörtel und Stein verausgabte. Obwohl sein Herz blutete, während er still zusah, wie dicke Farbtropfen aus dem Schriftzug troffen und an der Wand herunterliefen.

Vier weiße, sauber gekantete Highlighter-Lines zwischen den aus der Ferne willkürlich aussehenden Linien vollendeten das Werk. Myeon setzte die Maske ab, trat zurück und betrachtete das Bild. Jimin nahm das Ausbleiben von Beleidigungen als Anlass dazu, seinen Posten verlassen und sich dem Piece nähern zu dürfen.

Er hatte tatsächlich mutwillig die Ächtung ihrer Szenekollegen in Kauf genommen, um seinem Kunstwerk Platz auf der zugesprühten Mauer einzuräumen. Sein Künstlername MMixx stand verzerrt unter dem Bild, doch Jimin war nicht naiv genug, geradewegs in den Fallstrick einer Crew-Gemeinschaft hineinzulaufen, wenn er aus beleidigtem Trotz behauptete, er hätte nicht die Bravado verdient, die ihm zustanden. Wie etwas, das an die Bravur der Mona Lisa herangereicht hätte, aber das sich beim letzten Schliff dazu entschlossen hatte, etwas Anderes, Schrilleres werden zu wollen, prangten die Flügel pink, lila und ockerfarben über einem anderen Piece. Es erinnerte Jimin an einen Vogel, der im Zement feststeckte und die Federn winkelte, um sich mit voller Wucht vom Boden abzustoßen.

Eine Schulter streifte seine und wäre Jimin nicht so beeindruckt von dem Zusammenspiel von Neonfarben mit Realismus gewesen, hätte er bemerkt, dass Myeon ihn kumpelhaft angestupst hatte.

„Erst war ich geblockt", gab der Künstler zu, während er seine Sprühdosen zuschraubte und im Knien wieder in seinem Rucksack verstaute. Sein zäher Gwangju-Satoori machte Jimin in diesem Augenblick gar nicht so viel aus wie sonst. „Aber dann hab ich dich da hinten stehen gesehen und danach sprühte es sich wie von selbst. Sieh es als kleine Hommage an, kkachi."

Es war eine Elster, die an sein Andenken an die Mauer gemalt worden war. Fast schon verlegen vertrat Jimin sich die Füße.

Der Verdienst seines Spitznamens baumelte an seinen Ohren in Form von tropfenförmigen, funkelnden Ohrringen; zierte seine Hände, die auf der Suche nach Restwärme in seinen Hosentaschen steckten. Von fremden Sprühdosen mochte er die Finger lassen, aber an glänzenden, schimmernden und vor allem teuren Schmuck konnte Jimin nicht einfach so vorbeigehen. Er hatte immer schon einen Sinn für die schönen Dinge im Leben besessen, ein äußerst geschicktes Paar von leicht zu faszinierenden Händen noch dazu.

Diebstahl war eine treue Freundin von Jimin und er fand, dass jeder Tag ein Tag war, um Freundschaften zu pflegen.

Es waren keine systematischen Raubzüge, die er durchführte. Eine hübsches Armband hier, ein ungesichertes Fahrrad da, eine unbeobachtete Designer-Handtasche auf dem Tisch vor dem Café und er erbeutete genug Mäuse, um sich für die nächste Woche mit Ramyeon über die Runden zu bringen.

Wenn man sich den Luxus nicht leisten konnte, ergaunerte man ihn sich eben. Er war nicht der einzige, der seinen Lebensunterhalt auf unkonventionelle Weise bestritt: Myeon verzockte das Erbe seiner Eltern solange in Spielotheken, bis er wahlweise durch seine Graffitis oder den Sechser im Lotto stinkreich würde, und über Jun wurde gemunkelt, eine Bank in Daegu ausgeraubt zu haben. Ihren weißen Westen lasteten allesamt das ein oder andere Schandmal an. Jimin bildete sich viel darauf ein, mit ihrem Provokationshang mithalten zu können; die schnellsten Beine und das unschuldigste Lächeln zu besitzen. Das, womit sich Myeon, Jun, Soul und Duri in ihren Fingern brüsteten, machten Jimins Sturheit und sein Wille wett. Er mochte noch nicht der geübteste Sprayer sein, aber dafür war er fest dazu entschlossen, im Feinstaubnebel der Farben seine Welt zu errichten; ein ganzes Imperium, wenn es sein musste, um die BSK von seinem Potenzial zu überzeugen.

Das alles unter der Signatur von kkachi. Er konnte es sich vor seinen Augen entfalten sehen: scharfe Linien, willkürliche Drops, eine Handschrift, deretwegen nicht nur Busan angekrochen käme, um ihre Magnum opi in ihren bescheidenen Stadtmauern ausfindig zu machen, sondern Kunstliebhaber aus der ganzen Welt, vielleicht sogar aus den Staaten. Jimin malte seit er denken konnte und hegte noch viel länger die ganz großen Träume. Es juckte ihm in den Fingern, sich in seiner Heimat zu verewigen, bevor die Welt auf ihn aufmerksam würde; mit seinem Pseudonym endlich anzufangen.

Wenn er mit den anderen Mitgliedern der BSK über seine Ambitionen in ihrer Corner, dem Treffpunkt von Sprayern, redete, lachten sie zumeist. Soul hatte ihm nach ihrem Yardrain-dem Jimin wie so oft nur als Watchman beigewohnt hatte-ein Skizzenbuch geschenkt, das Jimin, verdrossen in die Wohnung seiner Mutter zurückgezogen, beleidigt zum neuen Staubfänger seines Zimmers auserkoren hatte. Mittlerweile gab es keine Minute mehr, wo keine Ideen für Murals oder Paintings durch seinen Kopf spukten, die er auf Papier festhalten musste; wie in einem ferngesteuerten Automatismus, dem er sich nicht erwehren konnte.

Das war bevor Soul für Vandalismus drangekriegt und mit einer saftigen Geldstrafe von einer halben Millionen Won belangt worden war. Meistens zuckten die Beamten nicht einmal mit der Wimper, wenn sie Sprayer bei der Arbeit erwischten. Koreas Blickwinkel auf die im Westen verpönte Kunstrichtung war ein anderer; ein geschmackvollerer. Kunst um der Kunst Willen wurde als solche anerkannt und geschätzt. Deswegen gab es auch so viel Hoffnung für Amateure wie Jimin, die sich ihren ganz großen Durchbruch in der Szene erhofften, denn ihre Heimat machte es ihnen einfach, sich zu entfalten. Manche Polizisten oder Bahnmitarbeiter gaben sogar Auskunft über Güterwaggons und Gebäudefassaden, die bald abgerissen würden und einen Anstrich vertragen könnten.

Bei nationalem Kulturgut musste man aufpassen, nicht geschnappt zu werden, denn auf Tempeln und Museen wurde Farbe nicht geduldet. Genauso niedrig im Kurs standen politische Doktrinen und gewaltverherrlichende Slogans.

Jimin verstand nicht, weshalb Soul eine solche Dummheit begangen hatte, aber dann, wenn er darüber nachdachte, war er letzten Endes auch immer nur noch ein Anfänger, der so frisch in die Szene gestolpert war wie die Farbe noch auf den Graffiti-Federn glänzte.

Sollte er in Zukunft gefragt werden, wann seine Karriere ihren Lauf genommen hatte, würde Jimin vermutlich diese Nacht als Marker dieser Zeitlinie auserwählen. Atemlos berührte er mit den Fingerspitzen die getrockneten Schwingen der Elsterflügel und hoffte, dass nur eine Unze des Talents, das in ihnen vergossen worden war, auf ihn abfärben würde.

Myeon schulterte seinen Rucksack. Leere Sprühdosen prallten aneinander, die Mischkugeln rollten geräuschvoll herum. Er knipste ein Foto, vermutlich für seine Künstlermappe, wie Jimin neidisch dachte, überlegte einen Moment lang. Dann ging er wieder in die Knie und zog eine schwarze Dose hervor.

„Wenn ich dich schon ehre", fing er gelassen an und jetzt störte Jimin sich wieder an seinem außerstädtischen Dialekt, der sich nicht-oder vielleicht gerade deswegen-mit seinem Künstlernamen vertrug. Busan wurde oft als Mix State bezeichnet. „Dann sollte ich auch Soul ehren, 's gehört sich nicht, hierbei nicht an ihn zu denken."

Vielleicht sprayte er doch gar nicht so sehr aus Eigennutz wie Jimin es von einem Einzelgänger wie ihn vermutet hatte.

„Woran denkst d-?", wollte Jimin fragen, dann fand er schon selbst die Antwort in dem untypisch ungenau gemalten, schwarzen A, das klobig auf der Mauer zu trocknen begann.

A. C. A. B.

All cops are bastards.

„Was stehst du da noch rum?", brummte Myeon konzentriert in seinen Mundschutz, auf dem schwarze Farbpartikel den Vliesstoff gräulich tönten.

Nicht zum ersten Mal verkniff Jimin sich den bissigen Kommentar, verdrehte die Augen und wollte sich dazu anschicken, wieder seinen Posten als Beobachter an der Weggablung zur Osige-ro einzunehmen. Der bestimmte Kick eines Fußes gegen den Rucksack ließ ihn innehalten.

Myeon zog den Bogen des C, setzte den Punkt und warf ihm einen erwartungsvollen Blick zu. Jimins Herz stolperte, als er die Dose auflas, die aus dem offenen Rucksack gekullert war. Er bot ihm an, mit ihm den Schriftzug zu sprühen.

Locker aus dem Handgelenk setzte Jimin die erste Line. Der rabenschwarze Sprühregen vermengte sich zu schnell für seinen Geschmack mit der Nachtluft, verblasste konturlos in der Dunkelheit. Eine Straßenlaterne warf über der Mauer an der Hauptstraße gelegen ihr schummriges Licht auf die beiden Sprayer, die in stiller Eintracht den Comment vollendeten. Sein Herz klopfte unerträglich laut in seinen Ohren, während Jimin die Dose schüttelte und konzentriert das B formte.

Der stechende Geruch nach Lösungsmitteln biss in seiner Nase, doch Jimin wusste, dass seine tranceartige Benommenheit beim Betrachten den schlichten Schriftzugs nicht aus der Sprühfarbe rührte. Er lebte hierfür: fürs Malen und Sprayen und Ausdrücken durch Graffitis. Wenn er könnte, würde er den ganzen Tag vor allen Fassaden, Mauern und Brücken von Busan stehen und ihnen seinen Stempel aufsetzen. Die Stadt war seine Leinwand und er hatte gerade erst seinen Pinsel in die Farben getaucht.

Es war ihm in diesem Augenblick egal, was hinter der Abkürzung stand und dass Politik eigentlich nichts in seiner persönlichen Note beim Klecksen zu suchen hatte. Jimin hatte genauso wenig Ahnung von Staatsführung wie von richtigen Zukunftsplänen oder gesitteten Lebensstilen. Er bewohnte die winzige Dachgeschosswohnung seiner Mutter, schlief bis in die Mittagsstunden und verzockte die Abende, wenn er nicht in die Corner der BSK zu Battles und Feiern geladen war. Und sonst malte er: am meisten in seinem Skizzenbuch, am liebsten auf dem verlassenen Güterbahnhof in Haeundae.

Irgendwann mal musste er Träume gehabt haben, die sich nicht auf Sprühdosen und Ruhm im Busan'schen Untergrund beschränkt hatten. Aber das war lange her und die Erinnerung an den Jungen, der es unbedingt in die Korea National University of Arts schaffen wollte, zwischen Geldsorgen und Beerdigungsplänen vergessen. Oder vielleicht war er auch dort begraben worden und hatte sich zwischen Neonfarben neu erfunden.

Die Mischkugel klimperte, als Jimin den Deckel zurück auf die Dose drückte. Myeon war zurückgetreten, die Lachfältchen unter seinen Augen sein wölfisches Grinsen verratend, während er Fotos von der zweiten Kreation der Nacht knipste. Dann klaubte er seinen Rucksack auf und Jimin verstand seine Drehung als Aufgabe, ihn wieder zu befüllen und zu verschließen.

„Jetzt kannst du dir ganz offiziell auch eine Künstlermappe zulegen, kkachi", schmunzelte er und Jimin versuchte nicht, sein diebisches Lächeln zu unterdrücken.

Er hielt die weiße Sprühdose in der Hand und warf einen Blick zurück zur Mauer. „Sollen wir auf die Buchstaben noch Highlights setzen?"

„Nein."

„Wieso nicht?"

„Du kannst provokante Parolen nicht ästhetisieren. Würdest du auf R.I.P. Highlights setzen? Eben", schloss er brüsk, als Jimin die Farbe stumm zurück in den Rucksack schob. „Lass die Worte für sich wirken. Und jetzt beeil dich, wir sollten los."

Er wollte die Nacht noch nicht beenden, wenn er nur zwei Buchstaben gesprüht hatte. B und C, damit hätte er genauso gut die Datierung Before Christ meinen können. Und dennoch. Zähneknirschend zog Jimin an dem alten Reißverschluss, der mit ungesund klingenden Reiß-Geräuschen androhte, bei noch mehr Gewaltaufwand augenblicklich das Zeitliche zu segnen. Myeon widersprach man auch dann nicht, wenn einem der Kreativitätsdrang in flüssiger Form in den Fingerspitzen pulsierte, vor allem nicht als Neuling. Wohl oder übel würde er sich damit zufriedengeben müssen, erst nach einer halbstündigen U-Bahn-Fahrt zurück nach Hause, nach Haeundae, sich mit seinem Zeichenbuch vertrösten zu müssen.

„Es ist dein Rucksack, der uns aufhält", murmelte Jimin einfach nur aus Trotz und zog noch fester am streikenden Reißverschluss. „Du hast zu viele Dosen dabei-"

„Shit", stieß Myeon atemlos hervor. Seine Augen waren auf einen Punkt am Ende der Uferstraße gerichtet. „Shit, da sind Bullen! Beeil dich!"

Jimin wirbelte herum, die Krampen sprangen auseinander und der Verschluss ging kaputt. Von der Wucht seines Impulses aufgerissen, fielen die Sprühdosen nacheinander geräuschvoll herunter auf den Gehweg, der aus der Ferne von gleißenden Taschenlampen erhellt wurde. Er starrte wie ein Reh in die Scheinwerfer des nahenden Unglücks. Jemand zerrte an seiner Kapuze, bevor der Druck im nächsten Moment abfiel und lautes Fußgetrappel erklang. Myeon hatte ohne ihn die Flucht ergriffen.

Der Lichtkegel der Lampe traf auf die frisch angestrichene Wand, lingerte länger auf den trocknenden schwarzen vier Buchstaben als auf dem Meisterwerk der Elsterflügel.

Die Schritte beschleunigten sich augenblicklich.

Dumpf hörte Jimin, wie eine tiefe Stimme ihn, den überführten Zurückgebliebenen, anbrüllte, stehenzubleiben. Er dachte nicht dran.

Stolpernd wich er zurück, fing sich mit einer Hand gerade noch am Asphalt ab, als er im Sprint nach vorn kippte. Dann rannte Jimin los.

Seine Füße trugen ihn über die Oncheoncheon-ro, geradewegs über die Hauptstraße, auf der Autos laut hupend Vollbremsungen einlegten, um ihn nicht mitzunehmen. Jimin rutschte geschickt über eine Motorhaube, kam sicher am Boden auf und bog mit rasendem Herzen in die nächstbeste, dunkle Seitengasse ein.

Hinter sich konnte er die Kegel der Taschenlampen seinen Rücken anvisieren spüren wie Pfeile auf eine Zielscheibe gerichtet waren; jederzeit bereit, zuzuschlagen. Sein flauer Magen wollte sich ihm umdrehen, würgte und spuckte den einzigen Gedanken, den er in seinem Adrenalinrausch noch formen konnte, ätzend heraus.

Myeon war ohne ihn weggerannt.

Ein einziges Zerren an seinem Kragen und dann war er fort gewesen; wie von der Finsternis der Nacht verschluckt, der von blendenden Taschenlampenlichtern unwillkommener Einhalt geboten wurde. Keuchend schlidderte Jimin um die nächste Ecke, weiter in die dunkle, identische Fremdheit vom schlafenden Dongnae.

Crews ließen Mitglieder nicht zurück, deswegen formte man ja Zusammenkünfte von Szene-Künstlern. Er war es doch nicht einmal gewesen, der sich diesen dämlichen Schriftzug überhaupt ausgedacht hatte, er hatte nur das B und C geschrieben-nur das Before Christ, verstand sich.

Fuck, warum musste ausgerechnet er die Fährte von Cops auf sich gezogen haben? War doch klar gewesen, dass sie ihn genau dann erwischten, wenn er sich einmal aufs Sprühen gegen seine Prinzipien einließ.

Das war alles Souls Schuld. Hätte er nicht diesen dummen Tempel verhunzt und sich dabei ertappen lassen, hätten sie in erster Linie nie den Bedarf gefunden, sich an diesem Ausspruch zu vergreifen. Und jetzt wäre er der nächste aus ihrer Runde, der eine halbe Millionen Won abstottern müsste, weil er genau die Polizisten beleidigt hatte, die jetzt gefährlich nah an seiner Ferse hingen.

Wo auch immer Myeon gerade war, Jimin hoffte zutiefst aus seiner verbitterten, niederträchtigen Seele, dass er mit all seinen Alleingängen ordentlich auf die Fresse fallen würde.

Wie ein aufgescheuchtes Federvieh schlug er Haken in der verwinkelten Gegend von Dongnae, um die Verfolger in seinem Rücken abzuschütteln. Sein Herz lieferte sich einen haarsträubenden Wettkampf mit seinen Füßen um die Dominanz der Geräuschkulisse. Seine Sohlen schmerzten schon, als Jimin noch einmal abbog, die Orientierung zwar verloren, aber nicht die Entschlossenheit, dem Gesetz und seinen Konsequenzen auszubüxen.

Vor der Verantwortung in seinem Leben davonzurennen, gelang ihm in den meisten Fällen nämlich eigentlich ganz gut.

Heute sollte seine Glückssträhne allerdings ein jähes Ende finden.

Irgendwo zwischen der Seodong-ro und einem ärmlichen Wohnviertel, dessen Straßennamen er im Vorbeirennen nicht erhaschen hatte können, beging er den Fehler, zurückzublicken.

Sein Knöchel knickte, er stürzte und bevor er sich versah, hatte einer der Beamten ihn schon mit donnernder Stimme am Boden überwältigt.

Nicht, dass er in seinem Ermessen eine große Gefahr dargestellt hatte. Jimin kam sich geringfügig bedrohlich darin vor, wie er mit heruntergedrücktem Kopf, blutendem Knie und aufgerissener Jeans auf die Füße gezwungen wurde.

Lichter wurden in den Wohngebäuden angeknipst, Fenster aufgeschoben. Wie die Kirsche auf dem Sahnehäubchen kam gerade dann ein Polizeiwagen mit angeschaltetem, blau-rot rotierendem Sirenenlicht nach einer schlitternden Drehung auf der Straße zu einem dramatischen Halt.

Vielleicht waren doch alle Polizisten Bastarde, dachte Jimin sich gleichsam verdrossen wie genervt, während seine aufgeschürfte Wange unsanft gegen den Türrahmen des Autos gedrückt wurde. Handschellen klickten, schnitten unangenehm in seine auf dem Rücken zusammengeschnürten Handgelenke. Er stieß sich den Kopf beim Hineinzwängen auf die Rückbank des Wagens. Schmerzerfüllt und nur aus Stolz schluckte Jimin das Stöhnen in seiner Kehle herunter.

Damit besaß der schwarze Schriftzug wenigstens so etwas wie ein Existenzrecht, das machte dieses ganze unglückliche Unterfangen wenigstens irgendwo gerechtfertigt. Vielleicht würde jemand der Busan Street Kids dann das nächste Mal in seinem Andenken dieselbe Parole sprühen. Vorzugsweise nicht Myeon.

Enerviert atmete Jimin aus, lehnte sich zurück und warf einen Blick durch die getönten Fensterscheiben. Das rot-blaue Licht spiegelte sich in der Gläserung und sondierte die Aprilnacht.

Fuck.

Weltbekannt renommierte Künstler sollten ihre Karriere eigentlich nicht auf der gepolsterten Rückbank eines Streifenwagens beginnen.

Er hatte sich wirklich mächtig große Scheiße eingebrockt.

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