Die Vergangenheit schläft (nicht)
»Uriel! Uriel, was tust du da?!« Er sieht sich um und findet sich auf einer Lichtung, verborgen in einem dichten Tannenwald, wieder. Wie sterbende Riesen strecken sich die Bäume mit geschwächter Nadelpracht einer gnadenlos herabrennenden Sonne entgegen.
Er wirft einen Blick zurück über seine Schultern auf ein weißhaariges junges Mädchen – Aria, seine Zwillingsschwester. Danach wandert sein Blick über seinen Oberarm nach unten auf seine rechte Hand. In dieser hält er einen etwa faustgroßen Stein, von dem eine dunkelrote Flüssigkeit zu Boden tropft. Und da merkt er, dass jemand – übel zugerichtet – zwischen den hüfthohen Farnblättern weilt.
Ohne ein Anzeichen von Furcht oder Schrecken, noch von Bedauern oder Reue, lässt Uriel den Stein neben der Leiche fallen und dreht sich blutbefleckt um. »Keine Sorge, Aria. Es ist vorbei. Er wird dir jetzt nichts mehr antun können.«
Ringsum wachsen Blumen, deren einladende weiße Blütenpracht schon begonnen hat dahinzuwelken. In einem Spinnennetz neben ihnen zuckt ein farbenfroher Schmetterling – darauf aus, sich vor dem sicheren Tod zu retten. Doch endet er alsbald als gelegenes Mahl für das achtbeinige Raubtier darin.
Aria weiß noch nicht, was sie sagen soll, und zittert ein wenig bei dem Versuch, einen Blick auf das Opfer zu erhaschen.
Uriel atmet tief ein – Kein Anzeichen einer kühlen Brise, der ihm frische Lebenskraft verleihen kann – nur der Geruch eines nach Wasser lechzenden Waldes, zu dem sich ein aufdringlich blutiger Duft hinzumischt. Dieser lässt ihn erst jetzt begreifen, was er soeben getan hat.
Bevor er die Chance dafür hat, die Nerven zu verlieren, spricht Aria plötzlich mit einer beruhigenden und zuversichtlichen Stimme zu ihm: »Uriel. Danke, dass du immer auf mich aufpasst und immer so nett zu mir bist.« In der Stille des Waldes, in der man nunmehr nur das Zirpen ferner Grillen und das versiegende Gluckern eines Wildbaches vernehmen kann, wirft sie ihm ein engelsgleiches Lächeln zu. Währenddessen blickt sie ihm voller Vertrauen mit ihren eisblauen Augen in die seinen. Sie bewegt ihre Lippen und teilt ihm noch etwas mit. Danach streckt sie ihm freundlich gesinnt ihre Hand entgegen.
Uriel denkt gar nicht mehr daran, die Leiche und die Spuren seiner Tat zu beseitigen und geht seelenruhig auf Aria zu. Als er nach ihrer Hand greifen will, zerbrechen aufdringliche Stimmen, die zwischen den spröden Stämmen hervorströmen, die angenehme Stille. »Mörder! Mörder! Sie ist schuld, dass unser Dorf dem Untergang geweiht ist. Bestraft sie!«
Uriels Sicht beginnt zu verschwimmen. Das aufgebrachte Geschrei, das aus allen Himmelsrichtungen erschallt, wird lauter und lauter und verwandelt sich schlussendlich in ein aufwühlendes Brodeln.
***
Zehn Jahre später ...
Ein verheerender Regensturm, begleitet von hell aufleuchtenden Blitzschlägen und rollendem Gewittertosen, hatte sich über das Tal gelegt. Die bereits dunkel vorherrschende Nacht war dadurch noch furchterregender geworden. Zumindest schien es dadurch so, als würde sie nichts Gutes verheißen. Doch was sollte schon passieren? – Immerhin hatten die unbescholtenen Bürger schon ihre Häuser aufgesucht, und verharrten nun dort, wartend auf einen hoffungsvollen Morgen und auf ein erwünschtes Ende dieses Unwetters. Doch gerade dieses barg äußerst wünschenswerte Umstände für schleichende, todbringende Schatten. Und just in diesem Moment bahnten sie sich ihren Weg zu ihren auserkorenen Opfern. Jener zog sich mittels einer Landstraße durch einen fruchtbaren Wald, bestehend aus mächtigen und prachtvoll grünenden Nadelbäumen.
Plötzlich zerriss ein sich über den Himmel schlängelnder Blitz die Finsternis der Nacht. Als wieder Dunkelheit eingekehrt war, ertönte ein lautes Donnergrollen.
»Beste Voraussetzungen für den heutigen Auftrag«, sprach ein Mann in Schwarz gekleidet. Dieser war ebenso der Lenker des unauffälligen PKWs, in dem sie bis jetzt lautlos nebeneinandergesessen waren. Mit seinen Worten hatte er versucht das erdrückende Schweigen in diesem Metallkäfig zu brechen. Doch hatte er keine Antwort von seinem Mitfahrer bekommen. Daher fügte er mit etwas lauterer Stimme hinzu: »Nicht wahr, Uriel?«
Uriel – Der Name des anderen und bedeutend jüngeren Mannes, auch gekleidet in Schwarz. Dieser hielt seinen Blick unbeeindruckt von ihm abgewandt, und betrachtete wie die Wassertropfen auf dem Fenster seiner Seite über das Glas vor rabenschwarzem Hintergrund tanzten. Auf Uriel hatte dieses für viele unscheinbare Spektakel fast magische Wirkung, die ihn in den Bann zu ziehen schien. Oder waren es doch nur seine schwerwiegenden Gedanken und Erinnerungen, die wie der Regen auf der Scheibe unaufhörlich an ihm vorbeizogen. Ein weiteres helles Blitzen am Nachthimmel riss ihn sodann aus seinem tranceartigen Zustand. Und nach dem Verhallen des darauffolgenden Donners war er nun endlich bereit zu sprechen. »Wir müssen das nicht tun. Und wir sollten es auch nicht, Levi.«
Levis Blick schweifte für einen Moment von der Straße, auf den jungen Mann neben ihn. Dieser, gemütlich in den Sitz zurückgelehnt und seinen Kopf mit einer Hand lässig abgestützt, schaute nunmehr gerade aus. Uriel verzog keine Miene seines tiefsinnig wirkenden Gesichtsausdruckes. Levi richtete seine Augen wieder nach vorne, und führte das Gespräch fort: »Du hast recht, Uriel. Aber was wäre die Alternative?«
»Nichts. Genauso, wie es Vendela wünscht. Und ihr Wunsch ist uns Befehl. Alles andere wäre Selbstmord«, schoss es sofort in neutralem Ton zurück.
Levi verfiel dem Grübeln. Und dann verschwamm seine Sicht allmählich im Zuge des Hin- und Herpendelns der Scheibenwischer. Eher schlecht als recht wurden diese mit den gewaltigen Wassermassen von oben fertig. Jedoch vermochten sie, Levi wie ein Hypnosetrick dem Hier und Jetzt zu entlocken. »Das gefällt mir nicht.« Er kniff seine Augen zusammen, als hätte er etwas auf der Straße erspäht. Dann griff er nach seinem silbernen Etui auf der Mittelkonsole, um sich daraus einen Zigarillo zu genehmigen. »Auch einen?«, fragte er kurz und prägnant, jedoch zuvorkommend.
Angewidert lehnte Uriel ab: »Nein danke. Mir missfällt schon genug, wenn ich bloß Vendela damit sehe, wie sie beinahe die ganze Zeit diesen Qualm hinter sich herträgt.« Er hielt inne. Erst als Levi sein Feuerzeug zum Mund führte, um seine Tabakware zu entzünden, entließ er seine nächsten Worte in kühler Manier: »Und ich bin ehrlich gesagt enttäuscht, dass du dich auch diesem Zeug hingibst.«
Mit Zigarillo zwischen den Lippen, entfuhr Levi ein amüsiertes Grinsen. Daraufhin brachte er sein Räucherwerk mit Stil zum Qualmen und genehmigte sich sogleich einen genüsslichen Zug.
Uriel warf ihm dabei einen verurteilenden Blick zu. Danach seufzte er, und schaute wieder teilnahmslos aus dem Beifahrerfenster.
Levi zuckte mit den Schultern und ließ unbekümmert, nahezu friedvoll, eine ruhige Rauchwolke in die Fahrerkabine strömen. Zufrieden nahm er dann einen tiefen Atemzug, bevor er wenige Augenblicke danach wieder das Wort ergriff: »Sie mag damit zwar über die Stränge schlagen, aber dafür weiß deine Großmutter, was wahrlich edle Tabakwaren sind.«
Für geraume Zeit schien es so, als bliebe es nun wieder totenstill zwischen den beiden. Jedoch entglitten Uriel dann doch ein paar Worte – leise, als wären sie nur für ihn selbst bestimmt. »Dann hat sie wenigstens eine Sache in ihrem Leben erreicht, die nicht nur ihre Begierde stillt.« Eine weitere Rauchwolke bahnte sich einen Weg durch die Fahrerkabine und ließ diese nach aromatisch süßem Tabak riechen – ein in besonderer Art und Weise angenehmer und heimeliger Geruch für viele. Für Uriel jedoch nichts als beißender Rauch, der schlechte Erinnerungen mit sich brachte. Und als draußen abermals ein heller Blitz aufleuchtete und ein gewaltiger Donnerschlag folgte, wiederholte er mit neutraler Stimmlage den Anfang ihres Gesprächs: »Beste Voraussetzungen für den heutigen Auftrag.« – Ein Wink, den nur Levi verstehen würde.
***
»Vater! Nein! Es ist nicht Arias Schuld – Das weißt du doch.« Ein Junge – wahrscheinlich um die zehn Jahre alt – klammert sich an den Arm seines Vaters und fleht ihn an, zu handeln. Ein hilfloses Mädchen im selben Alter wird an ihrem unüblich weißen Haar in Richtung Dorfzentrum gezerrt, welches sehr an eine Hinrichtungsstätte erinnert.
»Mörder!«
»Nieder mit der Dämonin!«
»Ihr Leben für das Leben meines Sohnes und das des Dorfes!« Aus den Reihen der wütenden Meute, die mit Sicheln, Fleischermessern und gar Fackeln und Forken bewaffnet ist, wirft eine Frau mit ausgedörrten Augen den ersten Kieselstein. Daraufhin geht ein schmerzhafter Hagel auf das fälschlich angeprangerte Mädchen nieder, das nun vor lauter Pein zu schreien und wie wild um sich zu schlagen beginnt. Der Scharfrichter erhebt seine mächtige Hand, um sie damit zum Schweigen zu bringen.
»Aria!« Er will hervorstürzen, um sie vor diesem ungerechten Ende, das sie erwartet, zu bewahren.
Doch sein Vater legt beide Arme fest um ihn und hält ihn zurück. »Nein, Uriel! Bitte nicht! Ich ... Ich will dich nicht auch noch verlieren.« Sein schwarzes, etwas längeres, zerzaustes Haar, wirft einen bedrückenden Schatten auf sein Gesicht. Dahinter stechen seine graublauen, mit Traurigkeit überquellenden und vom Schicksal geschlagenen Augen hervor.
»Aber Vater. Wir müssen doch etwas tun. Du weißt doch, dass sie nicht schuld ist. Ich –«
»Ich weiß, mein Junge. Aber wir können nicht anders, als das Urteil des Dorfes zu akzeptieren, wenn wir mehr Blut und Chaos verhindern wollen. Deine Mutter hätte es auch so gewollt.« Seine Umklammerung lockert sich, nachdem er sie erwähnt hat. Und als ihm die Tränen unentwegt über die Wangen kullern, gesteht er sich nun endlich die schweren Gedanken seiner Frau ein, die sie in den Wahnsinn, schlussendlich in den Tod getrieben haben. »Sie werden Aria nie als ein Teil von uns ansehen. Sie wird immer die Dämonin des Dorfes bleiben und darunter leiden müssen, wie auch ihre gesamte Familie. Sie ... Dem muss ein Ende gesetzt werden, Uriel. Ihr Leben für das Leben des Dorfes. Der Himmel möge uns dafür verzeihen.«
Sein kleines Ebenbild kann es kaum fassen und sinkt mit ihm auf die Knie hinab. Der Vater nur mehr ein jämmerlicher Schatten des großartigen Mannes, zu dem er immer aufgeblickt hat. »Aber Vater. Ich –« Seine Worte bleiben ihm im Hals stecken. Verzweifelt verschließt er seine Augen, als er abermals Arias Wehgeschrei vernehmen muss.
»Uriel! Bitte hilf mir, Uriel! U–«
Der Scharfrichter lässt sie mit einem gewaltigen Fausthieb verstummen, woraufhin die Menge der abgemagerten und wahnsinnig gewordenen Dorfbewohner jubeln.
Und jetzt jagen Uriel die verschiedensten Gedanken durch den Kopf, welche laut und unerträglich seinen Schädel queren, sodass er nicht einmal mehr die herrschende Unruhe um sich wahrnehmen kann.
Warum hat es so weit kommen müssen? Warum muss Aria sterben, obwohl sie nie etwas falsch gemacht hat?
Sie ist nicht schuld an alledem – am Tod des Nachbarsjungen und am Elend des Dorfes. Uriel weiß das.
Er weiß, dass das ganze Dorf aufgrund des Krieges und der langanhaltenden Dürre Hunger leiden muss. Und dass sie Aria dafür die Schuld geben. Sie alle sagen, sie sei eine Dämonin – ihre Geburt allein sei schon ein schlechtes Omen gewesen, und der Grund dafür, warum das Dorf nun am Rande des Abgrundes steht.
Doch sind nicht in Wirklichkeit sie die Schuldigen? – Er hat eines Nachts gesehen, wie sie wie wilde Teufel auf die trockenen Felder gezogen sind, um da selbst eine jede einzelne Ähre, die für das Überleben des Dorfes sorgen hätte können, in Brand zu stecken.
Und er weiß, dass er schuld am Tod des Nachbarsjungen ist, da er ihn eigenhändig getötet hat, um Aria zu beschützen. Uriel ist der einzige gewesen, der ihr bis jetzt wirklich zur Seite gestanden ist. Die anderen Jungen des Dorfes haben sich schon früh genug einen Spaß daraus gemacht, sie leiden zu lassen, wann immer möglich.
Er hat sie nie leiden sehen wollen. Und so hat er nicht anders gekonnt, als dieser verdorbene Nachbarsjunge ihr dann sogar auf eine verwerfliche Art und Weise nähergekommen ist, um ihr auch noch den letzten Rest an Würde zu nehmen. Er hat nicht anders gekonnt als ihn zu töten, als er in der Stille des Waldes, in der niemand ihre Hilferufe gehört hat, sein böses Treiben erblickt hat. Und so sind es dann die Hilferufe dieses Jungens gewesen, die alsdann durch den Wald gehallt sind und niemand gehört hat.
Uriel kann sich noch klar daran erinnern, wie er ihm mit einem Stein aufgelauert und somit Aria aus seinen Fängen befreit hat. Er kann sich noch daran erinnern, wie sein Opfer dann angefangen hat, lauthals zu flehen. Doch ein Mensch wie er – ein seelenloses Monster – hat es nicht verdient weiterzuleben. Das ist ihm damals wie auch heute durch den Kopf gegangen. Und rachsüchtig hat er dann diesem Monster das Gesicht zu Brei geschlagen, bis es keinen Laut mehr von sich gegeben hat. Das alles für Arias Wohlergehen, für das nur er wirklich gesorgt hat; und um gegen die Ungerechtigkeit, die ihr zuteil geworden ist, anzukämpfen.
Warum hat es so weit kommen müssen? Warum muss sie leiden? Warum lässt man sie im Stich? Und nun soll auch er sie im Stich lassen?
[»Uriel. Danke, dass du immer auf mich aufpasst und immer so nett zu mir bist. ... Du bist mein allerbester Freund. Ich habe dich so sehr lieb.«]
»U- Uriel! B- Bitte hilf –« Gewaltsam wird sie an den Haaren herbeigezogen, wodurch ihre Stimme für kurze Zeit versagt.
»Wirst du wohl endlich still sein?!« Der Scharfrichter erhebt seine Hand, um sie abermals zu bestrafen – das unschuldige Mädchen, übersät von blauen Flecken, Schrammen und Blut.
»Uriel. B- Bitte.« Am Ende ihrer Kräfte verstummt ihr hoffnungsloses Flehen und erneut erhebt sich ein pietätloser Triumphchor der Genugtuung.
Nein. Nein! Er wird sie nicht im Stich lassen. Niemals! ... Diese Monster – Wie können sie nur?! Sie verdienen nicht, zu leben. Nein. Sie müssen alle sterben.
Uriel öffnet seine Augen, flammend vor Wut und Missgunst, und kennt nur mehr ein Ziel: Arias Rettung – was es auch kosten möge. Daraufhin fällt sein Blick auf eine schillernde Klinge, angebracht an dem Gürtel eines Monsters aus der Menge. Jene soll alsbald verdorbenes Blut schmecken, um diesem kranken Albtraum ein Ende zu setzen.
***
[»Beste Voraussetzungen für den heutigen Auftrag.«]
Eine Chance, um dieses Gespräch nun anders verlaufen zu lassen. Und um dadurch womöglich Wissenswertes über sein Gegenüber zu erfahren. Aber zuerst nahm sich Levi noch gemächlich die Zeit dafür, seinen glühenden Zigarillo zu löschen, den er nicht einmal bis zur Hälfte geraucht hatte. – Aus irgendeinem Grund war ihm der Appetit darauf vergangen. Nach dem Verhallen des nächsten Gewitterschlages war er sodann bereit zu sprechen. »Es wären auch die besten Voraussetzungen, den Auftrag zu sabotieren; zu Gunsten der Allianz zu handeln. Und dann unterzutauchen.«
Uriel erschien überrascht durch diese Worte. »Was genau ist diese Allianz, von der du sprichst?« Er visierte ihn mit kritischem Augenpaar an, als wollte er genauestens die Reaktionen seines Gegenübers analysieren.
Aber Levi entglitt bloß ein amüsiertes Schmunzeln, wobei er seinen Kopf für kurze Zeit zur Seite schwenkte, um jene stechenden Augen mit einem unbekümmerten, jedoch herausfordernden Blick zu konfrontieren. »Sag du es mir, Uriel.« Spätestens als Levi sich danach wieder auf die Straße konzentrierte, hob sich das prüfende Augenpaar Uriels von ihm ab, welches nicht in der Lage gewesen war, etwas Verdächtiges auszumachen.
Uriel, nun auch wieder mit Blick auf die Straße, antwortete ihm: »Sind wir deshalb entgegen allen üblichen Umständen zusammen auf diesen Auftrag angesetzt worden?« Erneut eine Pause. Die nächsten Worte übermittelt mit konsterniertem Beiklang: »Bist etwa du einer der besagten Verräter in unseren Reihen?«
Dieses Mal entfuhr Levi ein amüsierter Seufzer, woraufhin er mit gemächlicher Stimme sprach: »Du kennst mich. Außerdem schulde ich der Organisation mein Leben. Meine Schwester ebenfalls. Und wenn dem so wäre, dann hätte dir der oberste Rat, zumindest deine Großmutter, von dieser Möglichkeit und die wahren Hintergründe dieses Auftrages erzählt.«
»Nicht, wenn ich ebenfalls als potenzieller Verräter angesehen werde.« Aufgrund dieser Worte wurde er für einen kurzen Moment von Levi beäugelt. Jener sagte aber nichts dazu, weshalb Uriel nachhakte: »Bist du denn näher davon in Kenntnis gesetzt worden?«
Er verneinte mit einem kaum merklichen Kopfschütteln. »Mir scheint, ich weiß über diesen Auftrag ebenso wenig wie du.«
Uriel betrachtete wieder die herabtanzenden Regentropfen vor schwarzem Hintergrund. Erst nach einer Weile setzte er das Gespräch fort, aber in relativ leiser Manier, als wäre er sich unsicher, ob sein Gesprächspartner seine Worte wirklich zu Ohren bekommen sollte: »Levi, ich glaube dir. Und ich vertraue dir – mehr als den Spielchen, die die Organisation gerade mit uns zu treiben scheint.«
Jetzt blieb es vorerst wieder still zwischen den beiden. Und es erweckte den Anschein, als würde es das nun für die restliche Fahrt über so sein. Nur mehr der Scheibenwischer und der prasselnde Niederschlag auf der Scheibe waren zu hören.
***
Unbemerkt hat sich Uriel aus der schwachen Umklammerung seines Vaters befreit und sich daraufhin des frischgeschliffenen Fleischermessers am Gürtel des Monsters bemächtigt. Währenddessen hat das hilflose Mädchen mit der unüblich weißen Haarpracht den Ort ihrer Hinrichtung schon fast erreicht. Die Dorfbewohner jubeln. Sie hingegen weint bitterlich.
Er will sie auf jeden Fall aus dieser misslichen Lage befreien, weiß aber nicht, wie er das anstellen soll. Er weiß nur, dass es jetzt geschehen muss. Vor Anspannung pulsieren seine Adern rasend schnell, als er dann ohne einen Plan – aber voller Hass auf diesen Abschaum – zwischen die Meute tritt, die sich am Pfad zum Hinrichtungsort zusammengeschart hat.
Ein leichter Wind kommt auf, der ihm einen fauligen Geruch in die Nase steigen lässt – Vermutlich der bestialische Gestank der Monster um ihn, deren Seelen unwiderruflich verrottet und verloren sind.
Anfangs nehmen ihn jene noch gar nicht wahr, erst als der Blick des zum Tode verurteilten Mädchens in seine Richtung schwenkt und von einer Sekunde zur nächsten mit größter Hoffnung erfüllt wird. Jedoch führen sie unberührt ihr verwerfliches Treiben fort.
Uriel sieht ihr tief in die Augen, und will ihr auf diesem Wege übermitteln, dass alles gut werden wird. Eine ihrer Tränen perlt ihr über die Wange und tropft zu Boden. Mit seinen Augen verfolgt er den Weg der glitzernden Sphäre, bis diese am Grund zerbirst. Im selben Moment pocht sein Herz lautstark. Tief aus seinem Inneren strömt eine unbändige Kraft durch seine Venen, die ihn rotsehend zum Handeln drängt. Er atmet noch einmal tief ein und aus, konzentriert sich auf sein Ziel und rast sodann instinktiv darauf zu, während er dabei mutig seine Stimme erhebt: »Lasst sie in Ruhe!«
Wie gebannt verfolgen die durch ihn verstummten Bestien den Weg seiner Klinge, die er sodann von hinten in den Unterleib des überwältigten Scharfrichters treibt. Dieser bricht daraufhin die erzwungene Stille mit einem nervenzerreißenden Aufschrei. Dabei lässt er Aria zu Boden fallen.
Für einen vergänglichen Augenblick denkt Uriel, er habe sie bereits gerettet. Doch er lässt sich nicht zu schnell beirren und weicht gerade noch rechtzeitig dem Handrücken seines Kontrahenten aus, der ihn beinahe mit voller Wucht getroffen und betäubend zu Boden geschleudert hätte. »Du elende Made! Wie kannst du es nur wagen, dich gegen das Wohl des Dorfes zu stellen?!« Voller Zorn geht er jetzt zähneknirschend auf ihn zu. »Nun mein Junge, ist es Zeit für dich, zu sterben.«
»Ja! Nieder mit diesem Frevler! Nieder mit dem Fürsprecher der Dämonin! Für das Wohl des Dorfes!« Die Bande Verrückter jubelt wieder, als sich ihm der Scharfrichter in den Weg stellt und ihm das teuflischste Grinsen, das er zu bieten hat, zeigt.
Jedoch ist der Kampf in einem flüchtigen Moment bereits entschieden. Und da verstummt die wütende Meute, als sie zu sehen bekommen, wie der Scharfrichter mit aufgeschnittener Kehle zusammenbricht, um sodann im Dreck seinem räudigen Ende zu begegnen.
Uriel ist es mit Leichtigkeit gelungen, dem vorhersehbaren Angriff seines Gegners zu entrinnen und gleich darauf den vernichtenden Gegenschlag zu tätigen. Doch was folgt, kann er weder vorhersehen noch auf eigene Faust verhindern. Plötzlich bricht vollkommenes Chaos um ihn aus, und von allen Seiten strömen sie heran.
Vereinzelt hätte er vielleicht eine Chance gegen sie gehabt. Aber so kann er nur die ersten paar Angreifer zu Fall bringen, bis er schlussendlich überrannt und hinterrücks niedergeschlagen wird.
Sein Kopf dröhnt von dem gewaltigen Aufschlag und die gesamte Welt dreht sich schwindelerregend schnell um ihn. Er droht in Ohnmacht zu fallen, kämpft jedoch mit all seinen Kräften dagegen an. Doch ist es ihm unmöglich, sich erneut zu sammeln, während zahllose Tritte auf ihn niederregnen.
Hat er sein Leben etwa umsonst für Aria aufs Spiel gesetzt? – Das kann nicht wahr sein!
Uriel will nicht so sterben – Zwecklos, ohne für Arias endgültige Rettung gesorgt, und ihr einen Platz gegeben zu haben, an dem sie willkommen ist und glücklich sein kann. Doch trotz seiner Willensstärke und dieses brennenden Wunsches im Herzen, kann er nicht mehr den Fängen seines scheinbar unausweichlichen Schicksals entrinnen. Und so steckt er seine verbleibende Kraft in ein schwermütiges, aber haarsträubendes Gebrüll; ähnlich dem Todesschrei eines sterbenden Wolfes, der mächtig durchs Tal heult, um dessen Feinde noch ein letztes Mal erzittern zu lassen, bevor er diese gnadenlose Welt hinter sich lässt.
Und da wird es ihm allmählich schwarz vor Augen. – Wie durch ein dunkles Tuch hindurch sieht er bei seinem letzten Aufbegehren noch eine weibliche Silhouette durch die Szenerie streifen, die einige der Monster abschlachtet und dadurch ihm und Aria zum Überleben verhilft. Bevor er daraufhin das Bewusstsein verliert, spricht jene Silhouette noch zu ihm: »Das war das erste Mal, dass du dem Tod in die Augen geblickt hast. Schwache Menschen geben sich ihrem Schicksal hin. Doch du hast dir das Recht angeeignet, darüber zu bestimmen, wer lebt und wer stirbt. Nicht schlecht, Junge.«
***
Wie aus dem Nichts, erhob Levi wieder seine Stimme – ruhig wie eh und je: »Wir sitzen also im selben Boot.« Er nahm eine Hand vom Lenkrad, und kratzte sich unterm Kinn. »Was wäre denn deine Vorgehensweise bezüglich dieses Spielchens der Organisation?«
»Alles was ich dazu zu sagen habe ist, dass ich wie mein Vater versuchen werde das Richtige zu tun.« Da wollte Levi auch schon das Wort ergreifen, doch fügte Uriel zuvor noch etwas hinzu, was seine Aussage noch eindringlicher auf ihn wirken ließ: »Und ich hoffe, das wirst du auch.«
»Ich ... verstehe.« Plötzlich trug er einen äußerst nachdenklichen, auch etwas schwermütigen Gesichtsausdruck. »Du weißt, ich hatte nie einen Vater. Auch keine Mutter. Zumindest kann ich mich nicht an sie erinnern. Aber Ephraim war wie ein Vater für mich. Und es schmerzt mich immer noch, wie die Organisation mit ihm umgesprungen ist.« Mit einem schwerwiegenden Seufzer verschaffte er sich etwas Luft, bevor er seine Aussage zu Ende führte: »Das war schlichtweg falsch.«
Uriel erschien kaum betroffen von dem plötzlichen Wesenswandels seines Gegenübers. – Weiterhin, scheinbar desinteressiert, schaute er hinaus ins Schwarze, und gab mit neutraler Tonlage von sich: »Dann ist es jetzt wohl auch für dich an der Zeit, das Richtige zu tun.«
Erneut entglitt Levi ein schwerwiegender Seufzer. »Was ist schon das Richtige, Uriel?« Danach legte er seine Hand auf die Stirn, als wäre ihm soeben etwas in den Sinn gekommen, was ihm irrsinnige Kopfschmerzen bereitete. Und dann sprach er in kleinlauter, nahezu bemitleidenswerter Manier: »Nach allem scheine ich das nicht mehr wirklich zu wissen. Oder mit der Zeit ist es mir gleichgültig geworden. Doch möchte ich zumindest dafür sorgen, dass meine Schwester ein sicheres und gutes Leben führen kann.« Er strich sich mit der Handfläche übers Gesicht. Dann umklammerte er wieder mit beiden Händen das Lenkrad, über das er jetzt mit in Melancholie getränkten Augen hinwegsah. »Du, der du mir wie ein kleiner Bruder bist und ebenfalls eine Schwester hast, wirst das doch verstehen können. Oder nicht?«
»Ich kann dich sogar sehr gut verstehen, Levi«, antworte Uriel mit zuversichtlicher Stimme. »Ich möchte nämlich dasselbe für Aria.«
»Dann ist sie bei der Organisation doch bestens aufgehoben.«
Ein hoffnungsvolles Funkeln erschien in Levis rehbraunen Augen, nur um von Uriels trostloser Antwort wieder hinweggefegt zu werden. »Das dachte ich auch. Bis ich erkannt habe, dass wir nichts weiter sind als Werkzeuge. Und schon bald werden wir nicht mehr von Nutzen sein.«
»Wovon redest du, Uriel?« Rätselnde Unsicherheit erfüllte von einem Moment auf den anderen Levis Mimik. »Ihr seid doch die Enkelkinder Vendelas. Außerdem kann sich die Organisation glücklich schätzen, Talente wie euch zu besitzen. Niemals wird sie –«
»Unser Blut, Levi«, fiel ihm Uriel plötzlich aufbrausend ins Wort. »Unser Blut ist das, was sie will. Und was sie ebenso verachtet. Bald schon wird sie es vollständig entschlüsselt haben, um es für ihre geheimen Pläne zu verwenden. Wäre mein Vater nicht zur Allianz übergelaufen ...« Er schüttelte eben gedachten Gedanken ab, und schaute stattdessen seinen Gesprächspartner eindringlich an. »Aria und ich, wir werden Beide tot sein. Verstehst du denn nicht?«
Levi wich seinem aufwühlenden Blick aus, und schaute betrübt auf die Straße vor ihnen. »Ich weiß nicht, was ich dir darauf antworten soll.«
»Doch ich weiß, dass sie dir aufgetragen hat, mich auszuschalten. Ist es nicht so?« Uriels Stimme erklang nun dominierend in dem fahrenden Metallkäfig, in dem sie saßen. Das Prasseln schwerer Regentropfen auf den Scheiben, zu dem sich immer wieder einmal ein kräftiger Donnerschlag mischte, war spätestens jetzt Teil einer unbeachteten Hintergrundkulisse.
»Uriel, ich ...« Levis schien schon fast dasselbe Schicksal zu ereilen.
Doch Uriel ließ nicht von ihm ab. »Hast du dich damals auch gegen ihn entschieden? Ich will eine simple und klare Antwort darauf, Levi. – Ja oder Nein?«
»Nein, Uriel!«, platze es da Levi lauthals heraus. »Ich habe mich nicht gegen Ephraim entschieden. Aber um dir die ganze Wahrheit zu sagen: Ich wusste damals auch nichts von seinem ... Ich wusste nicht, dass er zusammen mit deiner Mutter die Organisation verlassen will.«
»Du hättest dich damals also gegen ihn entschieden.« Uriels Augenbraue schob sich prüfend in Richtung Haaransatz. »Egal unter welchen Umständen?«
Levi schüttelte zuerst vehement den Kopf als Antwort. Dann entgegnete er etwas beruhigter, beinahe flehend: »Verurteile mich nicht. Das eigen Fleisch und Blut sollte immer Vorrang haben. Ja, ich hätte es zum Schutz meiner Schwester getan. Aber sag mir, Uriel: Was sonst hätte ich tun sollen? Wie sollte sie den Klauen der Organisation entkommen können?«
Uriel antwortete bloß in pragmatischer Manier: »Es gibt mehrere Wege, das zu bewerkstelligen. Und ich –«
»Nein, Uriel«, sprach da Levi bestimmt. »Für deine Schwester sehe ich einen Weg. Aber nicht für meine.«
»Was meinst du?«, fragte Uriel im Gegenzug, dessen Stimmlaut und Mimik wieder ein Stück menschlicher wirkte.
So erklärte ihm Levi in ruhigem, hoffnungslosen Ton: »Wenn deine Großmutter der König wäre, dann wäre deine Schwester wohl die Königin – die zweitwichtigste Figur im Spiel; wenn nicht sogar die wichtigste. Meine Schwester hingegen ist im Vergleich ein kleines, austauschbares Rädchen in der Maschine; bloß ein Bauer.«
»Nichtsdestotrotz erfüllt sie wie jeder andere, egal ob höheren oder niederen Ranges, eine wichtige Rolle«, versuchte Uriel möglichst erbauend zu klingen. »Ohne ihr könnte die Organisation ebenso zusammenbrechen. Mit ihr noch mehr erblühen. Durch die richtigen Züge kann aus einem simplen Bauern eine Königin werden.«
»Ich wünschte, dass wäre so einfach. Aber die Welt, in der wir leben ...« Levi kniff die Augen zusammen, und senkte seinen Kopf ein wenig. »Es ist nun mal so: Wer sich zu weit von der Herde entfernt, den frisst der Wolf. Und keines der anderen wird diesem verirrten Schaf folgen, geschweige denn darum trauern.«
Uriel richtete seinen Blick nun auch wieder geradeaus, und fragte dann ruhig: »So wirst du blind der Herde folgen, auch wenn du gerade deshalb dem Verderben in die Arme läufst?«
»Du glaubst wirklich nicht, dass es einen anderen Weg für uns geben könnte, oder?«, konterte Levi mit einer ruhigen Gegenfrage.
Uriel zuckte mit den Schultern und seufzte. Danach richtete er sich bewusst auf. »Mein Weg steht bereits fest. Der Rest liegt an dir.«
»Ich verstehe.« Als wäre es Schicksal gewesen, fanden sie sich jetzt an jenem Punkt ein, an dem sie ihr Fahrzeug zurücklassen mussten. Bevor sie sodann das Auto verließen, erhob Levi noch einmal seine Stimme: »Uriel, es war mir eine Freude und außerordentliche Ehre, dein Mentor gewesen zu sein.«
Uriel nickte. »Egal wie diese Nacht heute zu Ende geht ... Vielen Dank für alles, Levi. Und bitte entschuldige.«
Levi wusste, wie er das meinte, und nickte ebenfalls mit einem nahezu emotionslosen Gesichtsausdruck. Nur ein kaum erkennbares Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab, welches Uriel zu verstehen gab, dass es in Ordnung wäre und Levi ebenso fühlte.
***
Aria und Uriel sind in eine Welt hineingedrängt worden, in der nur zählt wie sehr man dem System dienlich ist. Sie wurden indoktriniert zu glauben, dass man ansonsten ein Nichts ist, nicht fähig zu überleben. Das ist es, was ihnen die Organisation als Grundsatz ihres Lebens eingetrichtert hat.
Angefangen hat alles damit, dass die Organisation, einen Hinweis bekommen hat, wo sich Ephraim aufhält. Jahre zuvor hat er die Organisation hinter sich gelassen, um deren blutigen Taten nicht mehr länger auf seinen Schultern tragen zu müssen. Und um mit seiner Frau ein neues Leben zu beginnen. Diese hat damals Zwillinge in sich getragen – Ein Mädchen und einen Jungen, Aria und Uriel.
Obwohl Ephraim gewusst hat, dass bis dato niemand ungeschoren der Organisation entflohen ist, hat er dennoch Hoffnung gehabt, dass alle gut gehen wird. Wahrscheinlich ist es in erster Linie seinen Kindern zu verdanken, dass er sich entschieden hat, diesen Schritt zu gehen. Sicherlich hat er nicht gewollt, dass sie ebenfalls als seelenlose Killermaschinen aufgezogen werden. Er hat den Fluch der Generationen brechen wollen. Und Aria und Uriel haben die ersten sein sollen, die ein normales Leben führen können.
Jahre sind vergangen, und sie haben die Möglichkeit erhalten, friedvoll fernab der Zivilisation aufzuwachsen. Ein abgelegenes Bergdorf umrandet von üppigen Tannenwäldern ist zu ihrem Zuhause auserkoren worden. Doch das Schicksal hat andere Pläne als Ephraim gehabt. Und dann ist es die Vergangenheit gewesen, die seine Familie zehn Jahre später schlussendlich doch noch eingeholt hat.
Eine Dürre, wie sie nur alle paar hundert Jahre auftritt, hat das Land auf grausame Art und Weise heimgesucht. Wie auch ein brutaler Bürgerkrieg, der von niemand anderem als der Organisation losgetreten worden ist. Ihr Dorf ist nicht direkt vom Krieg betroffen gewesen. Jedoch ist es von Hungersnot und in späterer Folge Wahnsinn befallen worden. Aria und Uriel haben beinahe den Tod gefunden.
Doch Vendela – die Frau, die jetzt die Organisation anführt und niemand anderes ist als Arias und Uriels Großmutter – hat die Beiden aus diesem gestörtem Albtraum gerettet. Nur um sie in den nächsten hineinzuwerfen. Mit Sicherheit hätte sie sie auf der Stelle getötet. Aber Aria und Uriel, sie sind anders. Sie tragen etwas in deren Blut, das ihr wie gelegen für ihre zukünftigen Pläne kommt. Und so sind sie ebenfalls zu todbringenden Werkzeugen der Organisation ausgebildet worden. Eine Organisation, die ein eigenes Leben nicht gewährt. Und eine Organisation, die sie schon bald beseitigen würde. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit.
***
[Dies wird mein letzter Auftrag sein. Ein Auftrag, den ich nicht erfüllen werde, da so viel mehr auf dem Spiel steht als meine bloße Existenz. Danach werde ich mich entweder dem Tode stellen, oder ein anderes Leben führen müssen – unfrei und ohne Erinnerung an mein altes Selbst. – Es obliegt der Organisation. Doch dieses Leben ist bereits verwirkt. Nun gibt es kein Zurück mehr. Nur mehr das Voranschreiten in eine neue Zeit.]
Levi und ich waren darauf angesetzt worden, ein bestimmtes Anwesen in den waldbedeckten Bergen aufzusuchen, und die Bewohner darin zu eliminieren. Es handelte sich dabei um drei Ziele, ein Ehepaar und deren Tochter. Vater und Mutter des unschuldigen Kindes waren beide angesehene Politiker. Was der Organisation schon länger ein Dorn im Fleisch gewesen war, war die Tatsache, dass sich diese Beiden insgeheim für die Allianz einsetzten.
Die Allianz war der direkter Gegenspieler der Organisation. Eine andere Geheimgesellschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Organisation und deren kriminellen wie auch unmenschlichen Machenschaften ein Ende zu setzen. Sie strebte die Art von politischem Wandel an, die unser von Krieg, Tod und Korruption zerrüttetes Land so bitter nötig hatte. Und just in dieser Nacht lag es an mir, dies zu ermöglichen.
Natürlich konnte sich Vendela schon vorstellen, dass ich eines Tages – wie mein Vater – der Organisation den Rücken zuwenden würde. Doch sicher konnte sie sich dabei nicht sein. Immerhin war ich einer ihrer vielversprechendsten Auftragsmörder. Außerdem hatte ihr bis jetzt noch keiner einen Beweis dafür liefern können, dass ich in Wahrheit ein Sympathisant der Allianz war. Und so war ein anderes Ziel dieses Auftrages, dies herauszufinden. Die Aufgabe meiner eventuellen Neutralisation galt Levi; jenem Menschen, der mir wie ein großer Bruder ans Herz gewachsen war.
Vendela und ihre Organisation hatte eine Raffinesse für solch teuflische Pläne entwickelt. Und sie wussten genau, dass ich mich dadurch in einer unausweichlichen Zwickmühle befand. Aber was sie nicht wussten, war, dass ich ebenfalls einen ausgeklügelten Plan hatte. Und das ich bereit war, Levi und mich dafür zu opfern.
Levi würde heute sein Ende finden, wenn er sich nicht doch noch für mich und die Allianz entscheiden würde. Ich könnte es ihm nicht übel nehmen, wenn er es nicht täte. Seine unumstößliche Treue und Sorge galt zu guter Letzt seiner Schwester. Was die Organisation im Falle seines Verrates mit ihr anstellen würde, konnten und wollten wir uns nicht ausmalen. Was mich betraf, war seine Entscheidung im Grunde einerlei – Mein Leben war bereits verwirkt. Mich derart gegen die Organisation und meine alten Verbündeten zu stellen, war nunmehr die einzige Gelegenheit, die Welt, in der wir lebten, zu verändern. Und eine erleuchtete Zukunft einzuläuten, die Aria nach ihrem Leben in der Dunkelheit mehr als verdient hatte.
***
Einer der hellen Blitze und das darauffolgende Donnergrollen zogen mich nun endlich aus meinen tiefgreifenden Gedanken und Erinnerungen. Der Regen peitschte noch immer gnadenlos auf die in Finsternis liegende Landschaft herab, während Sturmböen die nassen Tannen im Wind tanzen ließen.
»Wir sind auch ganz sicher allein?«, fragte ich, nachdem ich mich von den hohen Fenstern der Terrasse abwandte, um meinen Plan endlich in die Tat umzusetzen.
Levi und mir war wenige Minuten zuvor friedvoller Zutritt gewährt worden, da das Ehepaar mich in dieser Nacht erwartet hatte. Ich hatte nun schon längere Zeit Kontakt zu ihnen und der Allianz. Dieses Treffen war geplant. Es war jedoch nicht geplant, dass mir die Organisation auf derartige Art und Weise in die Quere kam. Die Organisation wusste, dass es einen Verräter in ihren eigenen Reihen gab, und fädelte diese Mission dahingehend ein. Ich hatte nichts dagegen unternehmen können, da ich sonst schon viel früher aufgeflogen wäre. Und so fanden sich anstatt drei nun vier Leute in dem großräumigen Wohnzimmer dieses Anwesens ein.
Das Ehepaar trug so wie wir Feuerwaffen an den Hüften, und war bereit, diese gegen uns einzusetzen, falls nötig. »Ja, wir sind allein. Nur wussten wir nicht, dass du einen Freund mitbringen würdest«, antwortete mir nun der Mann. Sein prüfender Blick wich nicht von Levi ab. Seine rechte Hand hatte er dabei auf seinem Holster ruhen.
Angespannter hätte die Lage nicht sein können. Und ich war mir im Klaren, dass die Situation jederzeit eskalieren könnte, wenn ich nicht versuchte, etwas daran zu ändern. Die Tatsache, dass es auch unser Auftrag war, während dieser Mission so viel wie möglich über die Allianz herauszufinden, ließ zumindest Levi noch seinen kühlen Kopf bewahren. Er tat aber nichts weiter als das. Er stand bloß da, und wartete auf meinen Zug. Also wandelte ich zu einer altmodischen Standpendeluhr mit Beistelltisch und legte dort meine Pistole vor ihnen allen ab. Levi und ich hätten sie schon mit Leichtigkeit erledigen können. Aber jetzt gab ich einfach so unseren Vorteil auf. Das war bereits Anzeichen genug gewesen, um zu wissen, auf welcher Seite ich stand. Jedoch nickte ich sodann Levi auch noch zu, um ihm das klar und deutlich zu signalisieren.
»Ich kenne ihn nun schon seit Jahren. Er ist wie ein großer Bruder für mich. Ich vertraue ihm«, sprach ich, während ich mich zu ihnen zurückbegab und meine Pistole hinter mir ließ. »Bitte lasst uns alle unsere Waffen ablegen, und dieses Gespräch in Ruhe fortführen.«
Die Frau lenkte im guten Glauben ein, und war somit die nächste, die zur erwartungsvoll tickenden Standpendeluhr hinüberging und sich ihrer Faustfeuerwaffe entledigte. Ihr Mann hingegen hatte bis jetzt noch keinen Muskel bewegt, und war noch immer vollkommen auf Levi konzentriert.
Ich nickte Levi abermals zu in der Hoffnung, dass er entgegen meinen Erwartungen, doch noch denselben Weg wie ich einschlagen würde. Zu meiner Überraschung setzte er sich sodann tatsächlich in Bewegung und wandte sich ebenfalls der Uhr zu, dessen Zeiger schon bald auf Zwölf stehen würden. Ein erleichterter Schnaufer entwich daraufhin dem Mann. In Wahrheit leise, aber dennoch hallte er folgenschwer durch die Szenerie. Ein eiskalter Schauer fuhr mir über den Rücken, denn ich wusste, was jetzt passieren würde, nun da der Mann unachtsam geworden war, auch wenn dies nur für einen kurzen Moment der Fall gewesen war.
Ein Moment lang genug für Levi, eine blitzschnelle Kehrtwende durchzuführen, in der er seine Pistole hervorzog und sogleich abfeuerte. Die Frau und ich zuckten zusammen, als wären wir ebenfalls von einem Schuss getroffen worden. Doch war nur der Mann Opfer von Levis Attacke. Nachdem sich der kurze, aber ohrenbetäubende Lärm in Luft aufgelöst hatte, füllten nun die schmerzgepeinigten Schreie des Mannes den Raum. Die Hand, die er auf seinem Halfter ruhen hatte, war nun blutig entstellt und konnte sich nicht mehr zur Wehr setzen. »Verdammt!«, brüllte er, und versuchte sodann, mit seiner noch intakten Hand, seine Pistole zu ziehen.
Hatten zuvor noch die Blitze und das tosende Gewitter, die Dunkelheit und Stille verdrängt, waren es nun die gnadenlos abgefeuerten Schüsse aus Levis Waffe. Eine in die andere Hand des Mannes, und jeweils einen in seine Knie. Der Geruch von Schmauch stieg mir in die Nase und ließ meinen Puls in die Höhe rasen. Und das tränenerfüllte Wehklagen des Ehepaares, welches sogar noch unerträglicher erklang als die explosionsartigen Knallgeräusche soeben, ließen mich rot sehen. Jener Zeitpunkt, den ich mir nie im Leben gewünscht hatte, aber wahrscheinlich wie so vieles darin unausweichlich gewesen war, trat nun ein.
Bis zum Äußersten bereit brachte ich meine unterarmlange Klinge, deren Scheide auf meinem unteren Rücken befestigt war, zum Vorschein, und sprintete auf Levi los. Aus seiner Reaktion darauf konnte ich schließen, dass er mit einem derartigen Vorgehen meinerseits nicht gerechnet hatte. Und wie ich wollte er einem solchen Schicksal nicht gegenübertreten, was seine Bewegung noch mehr lähmte.
Relativ langsam richtete er seine Pistole auf mich. Zu spät! Zwar konnte er noch einen Schuss abgeben, aber war es ein Kinderspiel für mich der vorhersehbaren Schussbahn zu entgehen. Aus meiner zur rechten Seite gelehnten und geduckten Haltung, ließ ich sodann meine Klinge diagonal nach oben auf seinen Rachen hin schnellen. In letzter Sekunde nahm er einen Schritt nach rechts hinten und ließ mit seiner linken Hand von seiner Pistole ab. Er war somit meinem tödlichen Angriff entgangen. Jedoch traf nun Stahl auf Stahl, wodurch das qualmende Schießeisen aus seiner Rechten geschlagen wurde.
Funken gingen auf. Wie in Zeitlupe bewegten sich die glühenden Partikel durch die Luft. Dann richtete sich mein Augenpaar wieder vollständig auf meinen Gegner. Ich bremste meine Bewegung gekonnt, und ließ sogleich einen Dolchschwung von links oben auf ihn herab. Dieser war abermals auf seinen Hals gerichtet. Er duckte sich unter meiner Klinge hindurch. Gekonnt wie er im Nahkampf war, lenkte er auch meinen gleich darauffolgenden Kniestoß mit der Außenseite seines rechten Armes ab. Danach ging er in die Offensive, ließ seinen linken Arm emporschnellen, und verpasste mir so einen fatalen Faustschlag in die Magengrube. Prustend zuckte ich zusammen und stolperte auf wackeligen Beinen ein paar Schritte zurück. Ein tiefer Atemzug und das forcierte Anspannen meiner Bauchmuskeln ließen mich sofort in einen passablen Kampfzustand zurückkehren. Daraufhin brachte ich meine Hände schützend nach oben. Den Dolch hatte ich nun im umgekehrten Griff in meiner rechten.
Unter Anbetracht dessen, dass es sich hier um einen Kampf um Leben und Tod handelte, hatte Levi eine eigentümlich lässige Haltung eingenommen. »Du bist mir ein wahrlich guter Schüler gewesen, Uriel«, sprach er ruhig, was mich noch mehr verwunderte. »Zu schade, dass du deinen Meister in der Organisation gefunden hast.« Nach diesen Worten verstummte er, schaute an mir vorbei, und hob seine zur Faust geballte Hand signalisierend in die Höhe.
Augenblicklich raste ein eiskaltes Gefühl durch meine Knochen, das gleich darauf von den zermürbenden Druckwellen eines mächtigen Aufschlages verdrängt wurde. Erst als ich benommen zu Boden fiel, erklang der Laut zerbrechenden Glases und der Knall eines in der Ferne abgeschossenen Gewehres in meinen Ohren. Nach zwei weiteren fernen Donnerschlägen, die todbringend durchs Tal hallten, fanden sich neben mir auch die bewegungslose Körper des Ehepaares am kalten Parkett ein. Unser Blut tauchte den bereits finsteren Fußboden aus Schwarzeichendielen in einen noch dunkleren Glanz.
Levi beugte sich über mich, und sprach: »Keine Sorge, das ist kein tödlicher Schuss – Vorausgesetzt wir stoppen die Blutung so bald wie möglich.« Nach einer kurzen Pause fügte er noch traurig hinzu: »Es tut mir leid, dass es so hatte kommen müssen, Uriel.«
Ich nahm seine bemitleidenswerte Entschuldigung nicht an. Stattdessen flammte alter, mich verzehrender Hass aus meinen Kindertagen in mir auf. Mit meinen letzten vorhanden Kräften, die ich in meine Gliedmaßen gebündelt hatte, richtete ich mich aus meiner Bauchlage auf. Dabei biss ich vor Schmerzen die Zähne zusammen, zwischen denen bereits frisches Rot emporquoll. Als er mich perplex anstarrte, schenkte ich ihm einen tiefen, verachtenden Blick. Dann fluchte ich: »Ihr seid nichts als Monster. Auch du, Levi. Und ihr verdient es nicht, zu leben. Nein. Ihr müsst alle sterben.«
Bevor er mir darauf antworten konnte, platzte plötzlich die Front seiner Stirn, weswegen er sofort aus dem Leben trat.
Etwas bewegte sich in den Schatten hinter ihm, trat jedoch nicht hervor. Eine gute Entscheidung, da der Scharfschütze von vorhin gleich in geregelten Abständen zu feuern begann. Die Schüsse gingen dadurch wie erwartet ins Leere. Und dann war es für eine kurze Weile still.
Der Attentäter in den Schatten, der sich dem Wohnzimmer durch den angrenzenden, im Dunkeln liegenden Flur genähert hatte, wusste das jene Stille nichts anderes war als die Zeit, die sein Gegner zum Laden eines neuen Magazins benötigte. Er ergriff diese Chance und handelte schnell. Drei Lichtblitze aus seiner Deckung ließen die eingeschalteten Deckenleuchten im Wohnzimmer in ihre Einzelteile zerspringen. Danach kam etwas in den Raum geflogen, was wie eine Blechbüchse tönte, als es in meiner Nähe aufprallte. Erst dann bewegte er sich schnellen Schrittes zu mir hin und zog mich aus dem Schussbereich, während uns eine immer größer werdende weiße Wand aus künstlichem Rauch Schutz bot.
Weitere Schüsse fielen, die ziellos über uns hinweg rauschten. »Halte durch, mein Junge. Gleich haben wir es geschafft«, hielt mich eine mir bekannte Stimme einen weiteren Moment bei Bewusstsein. Doch dann verblassten die Farben um mich vollständig und verwandelten sich in ein trostloses Schwarz-Weiß. Als es Mitternacht schlug, verfiel ich einem unausweichlichen Schlaf. Erst in diesem realisierte ich das Unglaubliche ...
... Mein Vater war noch am Leben.
---------------------------------------------------
ANMERKUNG DES VERFASSERS:
Die in dieser Geschichte erzählten Szenen ereignen sich Jahrzehnte nach dem, was ich für RUNDE 3 von Write To Rank geschrieben habe. Ich hoffe, dir hat diese Art der Fortsetzung gefallen. Teil mir gerne mit, was du darüber denkst und ob du daran interessiert wärest, eines Tages mehr über diese Geschichte und die Welt, in der sie sich abspielt, zu erfahren. Vielen Dank.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top