3. Ein neues Leben
Nachdem Emily und ihre Mutter gegangen, mein Vater wieder in seinem Schlafzimmer verschwunden und es dunkel geworden war, blieb ich noch eine Weile am Esstisch sitzen.
Dies war wohl einer der eigenartigsten und surrealsten Momente in meinem Leben. Ich war unfähig mich zu bewegen, sog alles in mich auf, was ich sah, hörte, wollte dies abspeichern, als eines der zahlreichen Bilder, welche bereits in meinem Kopf waren.
So viel hing an diesem Ort, was ich nie wahrgenommen hatte, Erinnerungen, Gefühle. Dieser Schritt, das Aufstehen, es hatte etwas Endgütiges. Ich konnte auch einfach sitzen bleiben, warten bis mein Vater wieder aufstand und der ganze Spuck war vorbei.
Jedoch, wenn ich jetzt aufstehen würde, dann hatte ich den letzten Schritt getan, den Weg betreten, welchen mir sieben andere bereits geebnet hatten.
Was also sollte ich tun?
Und genau wegen dieser Frage, war ich unfähig überhaupt etwas zu tun.
Die Nacht wurde schwärzer, der Morgen graute, die Dämmerung setzte ein und als der erste Hahnenschrei erklang, das erste Licht der Sonne bereits am Horizont zu erkennen war, da ging ein Ruck durch meinen Körper.
Ich entschied mich, stand auf, ging lautlos und bedacht in mein Zimmer, dabei mit den Händen über den Tisch, die Wand, das Sofa und die Bilder fahrend, als könnte ich so alles mitnehmen, was mich mit diesem Ort verband.
Ein letzter, tiefer Atemzug, den Duft einsaugend, meine Tasche bereits gepackt, mit den wenigen Dingen, die ich besaß. Leise knirschte das Holz unter meinen Füßen, so wie es dies immer tat, der Wind pfiff um das Häuschen und als ich eben dieses verließ, das typische Quietschen der Türe in den Ohren und das Wogen des Grasmeeres vor mir, da wurde mir eines bewusst.
Ganz genau hier fängt die Geschichte an.
Und ich tat den ersten Schritt.
Im Städtchen war es noch ruhig, die Läden geschlossen, keine ersten Geräusche von klirrendem Geschirr oder der Duft von Kaffee drangen zu mir durch. Es war als würde es noch schlafen und doch war der Lieferkarren, welcher ab und an bei uns hielt und einige, wenige, spezielle Lebensmittel zu Mrs. Summers brachte, gerade wieder dabei abzufahren.
„ Entschuldigen Sie, könnten sie mich ein Stück mitnehmen?", war meine ruhige Frage und scheel blickte mich der Fahrer an, die Zügel gerade in der Hand und bereit den Tieren die Sporen zu geben.
„ Wohin geht's en'?", war seine Antwort, die Stimme rau und etwas lallig. Er stank nach Alkohol, sah ungewaschen aus und war auch nicht rasiert, aber eben jene Umstände sollten mir zu gute kommen.
Ich schwieg, nicht weil ich es ihm nicht sagen wollte, sondern einfach selbst nicht wusste, wohin ich wollte. Hauptsache zum Meer.
„Is ja gut, komm hoch. Wie heißt'n Junge?", meinte er auffordernd und klopfte neben sich auf das dunkle Holz. Flinker als man es bei meiner Körpergröße annahm, saß ich neben ihm, stellte meine Tasche zwischen meinen Füßen ab und nannte ihm meinen Namen.
„ Nun Ethan, denn willkommn' an Bord", dabei ließ er die Zügel knallen und die Tiere setzten sich in Bewegung.
Er hieß Bill, zumindest sah er aus wie ein Bill. Seine Frau hatte ihn in dieser Nacht vor die Tür gesetzt, da er mal wieder betrunken nach Hause kam und über die Stunden hinweg erzählte er mir alles mögliche, nüchterte jedoch, dank des Flachmannes, welcher reichlich mit Schnaps gefüllt war, nicht aus.
Es war ein dunkles, stinkendes Gebräu, welches ihm nach jedem Schluck ein Zischen entlockte und er sich schüttelte, während ich dafür sorgte, dass der Karren nicht vom Weg abkam.
Holpernd bewegten wir uns also gen Horizont, langsam, beinahe gemächlich und mit aller Zeit die man scheinbar zu haben schien. Wo war der Stress geblieben, den ich einen jeden Morgen empfunden hatte, wenn von meiner Mutter geweckt und zur Schule gehetzt wurde.
Bill aber kannte dies nicht, er klapperte einfach gemütlich seine Runde ab, von Dorf zu Dorf und schließlich, nach einem langen, noch warmen Tag, kamen wir in der nächst größeren Stadt an.
„ Also Ethan, da wärn mer", und er hielt am Bahnhof. Von hier aus war ich damals auch mit meinen Eltern gefahren, als ich das erste Mal das Meer gesehen hatte. Seitdem träumte ich vom Glitzern am Horizont.
„ Willste dem alten Bill immer noch net sagn wohins geht?", er öffnete wieder einmal seinen Flachmann und legte den Kopf in den Nacken, die letzten Tropfen heraussaugend. Sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte, der Schweiß auf seinem Hals glitzerte in der untergehenden Sonne.
„ Ans Meer", war meine schlichte Antwort und er nickte.
„Ach das Meer, s' zieht ein schon in den Bann. Hat schon einige Herzen gebrochn un Männer verschlungn. Pass auf dich auf meen Joung."
Ich war bereits abgestiegen und Bill fasste sich zum Gruß an seine braune, schief sitzende Mütze, zog die Nase hoch und fuhr sich über die geschwollenen Augen.
Ich sah ihm hinterher bis das Karomuster seines Hemdes nicht mehr zu erkennen war und schließlich der Karren irgendwo in den Straßen verschwand.
Dann drehte ich mich um, trat in den Bahnhof und konnte hoffen, dass ich nicht bis morgens auf den nächsten Zug zu warten hatte.
Ob sie mein Verschwinden bereits realisiert hatten?
Das nahm ich stark an.
Ob sie bereits auf die Idee gekommen waren, dass ich gegangen war und nicht einfach nur irgendwo auf den Wiesen oder im Wald?
Emily vielleicht, mein Vater wahrscheinlich wenn er mein Zimmer genauer ansah.
Aber sie würden es spätestens in ein, vielleicht zwei Tagen sicher wissen. Zumindest Emily musste etwas ahnen.
Der dickliche, bereits ergraute Mann hinter dem Schalter sah mich über seine Nickelbrille hinweg an, die auf seiner Kartoffelgroßen Nase immer wieder hinab rutschte und schien sich nicht ganz schlüssig zu sein, ob ich ein Ausreißer oder bereits erwachsen war.
Bis vor etwas mehr als einem Jahr hatte ich noch recht kindlich gewirkt, jedoch war dies relativ schnell von mir abgefallen und nun mit 16 beinahe 17 wirkte ich bereits recht alt, was durch den Dreitagebart, die verbrannte, dunkle und beinahe ledrige Haut, so wie meine Größe noch verstärkt wurde.
Schließlich ließ er mich ohne zu fragen ein Ticket kaufen, nickte mit seinem dicken Kopf in Richtung des gerade einfahrenden Zuges und wandte sich dann wieder seiner Lektüre zu, mich nicht mehr weiter beachtend.
Laut hallte das Pfeifen des Schaffners über den Bahnhof, welcher lediglich drei Gleise vorzuweisen hatte, die allesamt schon einmal bessere Zeiten gesehen hatten. Meine schnellen Schritte hämmerten auf dem Pflaster, das Quietschen und Rattern setzte bereits ein und der Zug fuhr langsam, aber stetig los. Mein Atem raste und doch, an dem komplett in schwarz gekleideten Herrn vorbeihetzend, erreichte ich die noch offene Tür und zog mich hinein in den Wagon.
Das Abteil war klein, die Sitze aus einem bereits ausgeblichenen, einst vielleicht braunen Stoff, der nun gräulich aussah und Staub aus allen Poren blies, kam dass man sich darauf nieder ließ.
Die Luft war verbraucht, eine ältere Frau schreckte auf, sah sich blinzelnd um und registrierte mich, die müden Augen nur kurz auf mich gerichtet. Diese waren glasig und dunkel, von abertausenden Falten umgeben und unter den tief hängenden Lidern versteckt. Ein leises Gähnen, kaum erkennbar öffnete sie die faltigen, schmalen Lippen und dann schloss sie die Augen wieder und döste weiter.
Die grauen Locken waren unter einem grünlichen Hut versteckt und wippten leicht, als der Zug ratternd über die Gleise raste. Sie trug für diese Jahreszeit erstaunlich warme Sachen, einen langen, braunen Rock, aus dickem Stoff, eine helle Bluse, die jedoch zum größten Teil von einem ebenfalls in dem gleichen grün gehaltenen Mantel bedeckt wurde.
Die Handtasche hatte sie auf dem Schoß, die Hände am Verschluss und ihr Kopf war wieder auf ihre Brust gesunken. Sie war so klein, dass sie mit den Füßen nicht einmal den Boden berührte und auch diese wippten leicht hin und her.
Keiner der ansonsten Anwesenden, ein dicker Mann mit Pfeife, der in einen schicken Anzug gehüllt war und sicherlich nur auf der Durchreise war, sowie zwei Herren, mit grimmigen Gesichtern, beachtete mich.
Vier Abteile gab es, alle waren von einer Person belegt und doch war mir die alte Dame da wohl die beste Wahl. Diese schnarchte leise vor sich hin, ein seeliges Lächeln auf den Lippen und scheinbar wieder tief in ihrer Traumwelt versunken.
Lautlos schob ich mein Tisch über mir auf die Gepäckablage, öffnete das obere der beiden Fenster, um etwas frische Luft herein zu lassen und ließ mich schließlich auf der Sitzbank nieder.
Und dann sah ich aus dem Fenster, bis die Sonne irgendwann versank, der Mond aufstieg und wieder sank, fahler wurde und die Dämmerung einsetzte. Hell zeichneten sich die ersten Strahlen der Sonne ab, als ich schließlich endlich das Glitzern sah.
Aufgeregt wie ich als Kind war, zog sich auch nun mein Magen zusammen, mein Herz begann schneller zu hämmern und mir musste wohl vor Faszination an dieser Schönheit, der Mund offen gestanden sein, da plötzlich und so dünn, wie das Knistern von Papier, eine Stimme erklang.
„ Ja, es zieht einen doch jedes Mal in seinen Bann", die hellen, braunen Augen der Frau waren nur halb geöffnet, sie lächelte sanft und erinnerte mich in diesem Moment ungemein an meine Mutter.
Ich sagte nichts, nickte nur und sah erneut hinaus auf das Meer. Irgendwann wurde ihr Atem wieder gleichmäßiger und sie schlief weiter.
Es vergingen noch drei weitere Stunden, in denen die Sonne immer weiter aufstieg, es wärmer wurde im Abteil und wir Küsten passierten. Mal waren die Gleise sehr nahe am Wasser gebaut, mal verschwand das Meer hinter Hügeln oder Wäldern, kleineren Dörfern oder funkelte wieder in einigere Entfernung hinter unebenem Land.
Der dicke Herr hatte in der letzten halben Stunde begonnen zu Schnarchen, tief und beinahe grunzend, sein Atem rasselte und ein paar Mal verschluckte er sich an seinem eigenen Speichel, rang nach Luft, um kurz darauf, nicht minder leise, weiter zu schnarchen.
In den vergangenen Zehn Minuten hatte ich das leise Rascheln einer Zeitung vernommen und einer der dünneren Herren, dieser trug einen Zylinder, hatte jedoch an den Schläfen bereits lichtes Jahr, was verriet, dass er mit dem Hut lediglich seine Halbglatze versteckte, war aufgewacht.
Sein Oberlippenbärtchen sollte seriös wirken, war jedoch schon länger nicht mehr richtig gestutzt worden und hing über seine Lippe, ob er beim Essen wohl die Haare in den Mund bekam?
Sein Gesicht war rot und er hatte es sicherlich warm in seinem Anzug, was man auch an den feinen Schweißperlen sah, die an seinen Schläfen glitzerten.
Angestrengt, die Augenbrauen zusammen gezogen, sodass sich einigen Falten zwischen diesen bildeten und einem eher ein Schmunzeln auf die Lippen zauberten, statt ihn wirklich ernst zu nehmen.
Der andere Herr, welcher ebenfalls ein Abteil für sich beansprucht hatte, lehnte mit dem Gesicht an der Scheibe. Seine Melone war von seinem Kopf gerutscht, das braune Haar sah plattgedrückt aus und deutlich war der Abdruck der Melone auf diesem zu sehen.
Er war nicht ganz so vornehm gekleidet wie die anderen beiden, seine Hose war bereits leicht abgenutzt, die Weste nicht aus dem feinsten Stoff und das Hemd hatte winzigste Löcher an den Nähten, die aber wahrscheinlich niemandem außer mir aufgefallen wären.
Sein Mund war leicht geöffnet, die Fensterscheibe beschlug ein jedes Mal, wenn er ausatmete und feine Tröpfchen hatten sich bereits auf dieser gebildet, so wie der an ihr lehnenden Gesichtshälfte des Mannes.
Die alte Dame vor mir, regte sich seit etwa 3 Minuten. Immer wieder zuckten ihre Augenlider, öffneten sich etwas und schlossen sich wieder. Ein leises Murren kam über ihre Lippen, sich leckte über diese, um sie etwas zu befeuchten und schien doch noch nicht gewillt, wieder aufzuwachen.
Schließlich, nach eben besagten drei Minuten, in denen sie um den Schlaf rang, dann aber doch entschied, dass sie wach war, öffnete sie unwillig die braunen Augen, blinzelte verschlafen und gähnte einmal hinter vorgehaltener Hand, dabei ein recht hohes Geräusch von sich gebend, welches man als niedlich bezeichnen konnte.
„ Gute Morgen", sagte sie mit einem freundlichen Lächeln, blinzelte erneut, um den Schlaf endgültig zu vertreiben und streckte die Glieder. Ich konnte mir damals nur allzu gut vorstellen, dass solch eine Reiseart in diesem Alter nicht unbedingt angenehm war und vor allem ihre Schlafposition zu verspannten Muskeln geführt hatte.
„Morgen", erwiderte ich ihren Gruß und sah sie mit unverholener Neugier an. Spätestens jetzt hätte mich meine Mutter wieder ermahnt, dass man so etwas nicht tat und sich bei der betroffenen Person wegen meines Verhaltens entschuldigt.
Dieser Gedanke verursachte unangenehmen Stich und Schmerzhaft verzog ich das Gesicht.
Die Frau schien irritiert und doch schien man in meinen Augen die Trauer über den Verlust mehr als deutlich zu sehen.
Nur kurz schien sie unschlüssig, wusste nicht was sie tun sollte, wusste nicht ob sie etwas tun sollte und legte dann doch ihre Hand auf mein Knie, was mich überrascht zusammenzucken ließ.
Ich hatte Berührungen noch nie sonderlich gemocht. Wenn ich Menschen von mir aus anfasste, den Körperkontakt begann, war es für mich angenehm, beinahe, aber wenn ein Mensch mich ohne mein Einverständnis anfasst, war es mir nicht nur unangenehm.
Nein, manchmal brach ich in Panik aus, fand es widerlich oder abstoßend. Ich mochte es einfach nicht.
Was aber erstaunlich war an dieser ganzen Situation und eigenartig zu gleich, war der Fakt, dass ich es dieses Mal nicht abstoßend fand. Ich war überrascht, dass ich nach dem ersten Zusammenzucken, ruhig blieb. Vielleicht reagierte ich nur so, weil ihre und meine Haut der dicke Stoff meiner Hose trennte, vielleicht aber auch weil sie mich so sehr an meine Mutter erinnerte und sie mich beruhigend, tröstend ansah.
„ Ist schon gut, mein Junge", murmelte sie, ihre Stimme rau, etwas krächzig, wie es viele Stimmen im Alter wurden.
Ich hatte mir das immer ganz einfach erklärt. Man besaß Stimmbänder und diese wurden älter und älter und man benutzte sie und benutzte sie. Irgendwann würde sie wohl kaputt gehen, auch wenn alle sagten dies sei absurd. Aber warum sollte sie sich nicht abnutzen?
Außerdem war ich mir sicher, dass wenn ein Mensch wenig oder gar nicht sprach, er im hohen Alter bestimmt immer noch die Stimmfarbe eines Kindes hatte. Selbst Emily hatte über diese Theorie lachen müssen, meine Hand genommen und dann gemeint, dass dies wohl eine schöne Vorstellung wäre, eine schöne Geschichte.
Diese Frau aber klang alt, die Stimme, als würde sie brechen, als würde man Schmirgelpapier aneinander reiben, oder das Knacken von bereits vertrocknetem Holz, das Rascheln der braunen Blätter im späten Herbst.
Sie hatte viel geredet, ihr ganzes Leben lang und schreckte auch jetzt nicht davor zurück. Ich weiß nicht wie ich sie hätte nennen sollen, sie stellte alles dar, was ein Leben bereit halten konnte, alles Vergangene, Erlebte.
Und es war schön ihr zuzuhören.
Ann hatte zwei Kinder, ihr Sohn war den Kampf gezogen, so sagte sie es, in einen Kampf um Freiheit und angebliche Gerechtigkeit. Bei diesen Worten verzog beinahe spöttisch das Gesicht und doch konnte sie dieses traurige Lächeln nicht unterdrücken, als ob sie es damals hätte besser wissen müssen. Reue.
Sie bereute gehofft zu haben, von ganzem Herzen geliebt zu haben und doch, trotz all ihrer Gebete, der Versprechungen, die ihr gemacht wurden, wieder und wieder, hunderten anderen Müttern auch, bangend, sie waren nicht zurück gekehrt.
Nun war es an mir die Hand zu heben und vorsichtig, bedacht, als könnte ich etwas falsch machen, ahmte ich ihre vorige Geste nach, zutiefst unsicher, ob ich es richtig machte.
Und Ann lächelte, traurig, die Augen so voller Schmerz und bereits mit Tränen gefüllt, welche sie wegblinzelte und geräuschvoll die Luft aus ihrer Lunge entließ. Sie schien zu ringen und gewann an Fassung.
Es sei vergangen und sie erinnere sich an schöne Dinge, die so von ihrem Sohn noch wusste. Seine ersten Worte, als er das Gehen lernte, wie oft er mit dem Rad gefallen war oder sein Lachen. Er habe sich immer fast verschluckt, wenn er wirklich gelacht hätte. Hätte nach Luft geschnappt und sich den Bauch gehalten.
Ihre Tochter, meinte sie, sei sehr hübsch. Blondes, lockiges Haar, 30 Jahre jung, grüne Augen und :" das Gesicht eines Engels", sagte sie mit einem sanften Lächeln.
Mütterlich erwiderte sie meinen Blick, legte ihre Hand vorsichtig auf die meine, welche nach wie vor auf ihrem Knie ruhte: „ Du kannst deine Hand jetzt wegnehmen, mein Junge."
Hastig nickte ich, war bereits zusammen gezuckt, als ich warme Haut auf der meinen spürte und konnte es nur mit Mühe und Not unterdrücken, ihr meine nicht zu entreißen und panisch zurück zu weichen.
Etwas blitzte in ihren Augen auf, sie legte den Kopf schief und entließ meine Hand, welche ich zurück zog und mich dabei ertappte, wie ich ihrem Blick auswich, beinahe beschämt oder unsicher.
„ Was hast du, mein Junge?", ich zuckte lediglich mit den Schultern, bis mir auf die Unterlippe und sah hinaus auf die vorbei fliegende Landschaft.
„ Dafür muss man sich nicht schämen. Der liebe Gott hat seine Gründe und ein jeder Mensch ist mit all seinen Makeln doch perfekt", ich sah sie überrascht und fragend zugleich an.
„ Ich bin dumm", gab ich das wieder, was man mir all die Jahre eingeredet hatte und entschieden schüttelte sie den Kopf. „Nein, du bist anders. Aufmerksam, still, aber nicht dumm", kurz hielt sie inne, musterte mich und fuhr dann fort:" Aber es war schon immer so, dass der Mensch das fürchtet und entwertet, was er nicht kennt."
Mein fragender Blick brachte sie zum Lachen, leise, kichernd, aber begriff einfach nicht, was sie meinte.
„ Irgendwann wirst du es verstehen", und kurz darauf vernahmen wir das laute Kreischen der Bremsen.
Das Meer war nicht minder schön, als ich es in Erinnerung hatte und übte nach wie vor die gleiche Faszination auf mich aus. Das Ziehen, welches ein ständiger Bestandteil meines Seins war, mich ausmachte, wurde nur noch stärker, als ich vor dieser endlosen Schönheit stand und gen Horizont blickte.
Mein Herz zog sich zusammen, das Atmen fiel mir so viel schwerer und die Tränen stiegen mir in die Augen.
Der Wind zog an mir, als wollte er mich mitnehmen und mein Entschluss, welcher vor wenigen Stunden noch ins Wanken gebracht wurde, festigte sich.
Die Stadt war größer als alles was ich bis jetzt gesehen hatte. Die Häuser waren hoch, sie pulsierte und fasziniert, sowie geschockt wanderte ich am Hafen entlang.
Mit dem wenigen Geld, welches ich noch besaß, konnte ich mich zwei, vielleicht drei Tage über Wasser halten.
Viel länger würde dieses aber nicht reichen und bis dahin musste ich einen Job gefunden haben.
Die Häuser am Hafen waren alt, etwas verschmutzt aber doch bunt. Ein jedes schien mit den anderen zu wetteifern, um Aufmerksamkeit zu kämpfen, in den schönsten, grellsten Farben.
Schiffe fuhren ein und aus, große wie kleine, dickbäuchig, schmal, Segelschiffe und Kähne, edel oder teilweiße kleine Fischerkutter, bei denen bereits der Lack abblätterte.
Von der Mermaid bis zur Atlantica waren alle Namen vertreten, meist Frauennamen, wie es mir auffiel.
Ein reges Treiben herrschte, über die alten, verwitterten Planken der Stege liefen geschäftig Leute hin und her, in schwere Stiefeln, die bei jedem Schritt leicht quietschten. Breit gebaute Männer, braun gebrannt, die Haut ledrig und die Hände von Hornhaut überzogen.
Männer, so breit wie Schränke, mit Kübeln voll Fischen in den Armen, Zigaretten oder Pfeifen im Mund, Drei-Tage- oder Vollbärten.
Nur kurz wurde ich gemustert, mich durch die Menge schiebend und versuchte dabei mit niemandem zusammen zu stoßen. Dies wollte mir jedoch nicht so wirklich gelingen.
„Pass doch auf", „ Kannste nich kicken wo de hin lufst?", und einige andere, weniger freundliche Worte wurden mir während einiger Zusammenstoße entgegen oder hinterher gerufen.
Sie hatten eine komische Aussprache, warfen die Worte unvollendet von sich und doch verstanden sie einander. Es war eine andere Sprache und es kam mir beinahe so vor, als würden sich all diese Leute kennen.
Ich kam falsch vor, wie ein Fremder am Stammtisch. Ein Eindringling, der geduldet wurde, sich aber keine Fehler erlauben sollte. Aber doch, es reizte mich, das alles.
Es waren Knochenjobs, das sah man ihnen an, harte Arbeit, aber irgendwie wirkten sie auf mich glücklich. Mit dem gellenden, rauen Lachen, den schmutzigen Witzen, wie sie sich gegenseitig beschimpften, aber sich im selben Moment wieder in den Armen lagen.
Und dann natürlich das Meer.
Etwa in der Mitte des Hafens, an einigen Zubern voll mit Tintenfischen vorbei stolpernd, ließ ich mich auf einer Bank nieder. Sie war grün gestrichen, der Lack blätterte ab, schien aber die zwei älteren Herren, die dort zufrieden inmitten des Treibens mit ihrer Pfeife saßen und gemütlich vor sich hinrauchten, nicht wirklich zu interessieren.
Beide hatten lange, weiße Bärte, trugen ebenfalls abgewetzt Kleider und die hohen Lederschuhe, waren aber wahrscheinlich zu alt, als dass man sie noch wirklich auf Deck brauchen konnte.
Ich hingegen schien genau richtig.
So jedenfalls entschied der Herr, welcher vor der Bank kurz auf und ab spazierte und schließlich mit tiefer und vom vielen Whiskey- und Zigarettenkonsum verbrauchter Stimme, gellend ausrief.
„ Wer von euch Landratten hät Interesse an nem Job?"
Er zog die E eigenartig lang, rollte das R sehr ungewohnt und das J schien seltsam sprunghaft. Ich kann diesen Akzent nicht genau beschreiben, aber ich finde ihn nach wie vor faszinierend.
Damals wie heute drückt er für mich Freiheit aus. Dieser kleine Satz und mein hastiges Aufblicken. Er hatte grüne Augen, hellgrün und so komisch ausgewaschen, sein Kinn war mehr schlecht als recht rasiert, die hellen Stoppeln seines blonden Bartes schimmerten auf der dunklen Haut.
Seine Haare hatte er kurz geschoren, eine dunkle Schildkappe darüber gezogen, welche wohl einst blau gewesen war. Der Stoff war abgetragen, verwaschen und gräulich, so wie seine große, aus dickem Leder gefertigte Jacke.
Er hatte die Arme provokativ in die Hüften gestützt und ließ seinen Blick über die drei Gestalten vor sich schweifen, zu welchen ich gehörte.
„ Ich Mr."
Ich nannte ihn White, Mr. White. Er war ein herzensguter, ehrlicher und vor allem direkter Mensch, der nicht oft ein Blatt vor den Mund nahm und einer jeden Frau hinterher sah, die an ihm vorbei ging.
Er konnte durch seine Flirtversuche meist nicht landen, die Alkoholfahne, die er dabei vor sich her trug und durch den Rum verursacht wurde, half nicht unbedingt und, auch wenn er etwas aufdringlich werden konnte, meinte er es doch nicht böse oder wurde gar aggressiv.
Mr. White stellte mich ein, hob abschätzend den rechten Daumen und zog dabei die linke Seite seiner Oberlippe hoch, mich, an diesem vorbei spähend, betrachtend.
„ Na, mien Jung, da müss mer dich aber arbeitstauglich machen", hatte er zu mir gesagt und dabei seinen Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen, bei welchem mir eine Reihe gelblicher Zähne entgegen sprang.
White war schon lange, sehr lange Seemann, ein richtiger Seebär könnte man sagen, wäre er nicht so dünn gewesen. Er sah nicht so aus, wie man es aus den Geschichten kannte.
Er war hellhäutig, schlaksig, aber nicht unbedingt groß, maß vielleicht knappe 1.80m und war somit um einiges kleiner als ich.
Seine Haare waren blond-braun, wobei die Farbe nicht so wirklich definierbar war und seltsam ausgewaschen wirkte. Die Bartstoppeln, welche ab und an sein Gesicht zierten, hatten dieselbe Farbe und ließen ihn manchmal noch fahler wirken.
Man sollte nicht annehmen, dass er ein meist betrunkener, aber doch guter Käpten war.
White war oft mehr damit beschäftigt sich eine Zigarette zu drehen, als sich um den Kurs seines Schiffes zu kümmern. Es war ein Frachter, alt, gedrungen und schon längst überfällig erneuert zu werden.
Aber woher sollte man das Geld nehmen? Der Käpten versoff es schneller, als er es verdiente. Unter diesen Bedingungen lernte ich die hohe See kennen und genau so und nicht anders erschien es mir auch richtig.
Der alte Frachter schaffte gerade einmal 5 Knoten in der Stunde, nicht gerade viel und dabei wankte das ganze Schiff, auch wenn die See ruhig war. Es knackte und ächzte unter den Füßen, als würde das Meer es jeden Moment verschlingen und einen jeden mit ihm und doch, ich muss es zugeben, ich liebte es von Anfang an.
Wieso hätte ich also gehen sollen?
Auch wenn der bäuchige Frachter, welcher einst blau gestrichen war, bräunlich wirkte und der verblichene Lack in großen Stücken abblätterte. Und auch wenn durch einige Löcher immer wieder Wasser ins Innere drang, der Käpten johlend hinter dem Steuer stand, dieses mit einer Hand haltend, in der anderen eine Rumflasche.
Er hatte sie Coeur genannt, was soviel wie Herz bedeutete und, bereits sehr trunken, in einem düsteren Pub sitzend und der Bedienung unter den Rock starrend, hatte er mir erzählt, dass die See so schön wie sie ist, die grausamste Geliebte für einen Mann sein kann.
„Sie is' verzehrend, verschlingt dich, reißt ein in Stücke und spuckt kein Mann mehr aus. Sie is wunderschön und tödlich und...", dabei erhob er sich schwankend von seinem Stuhl, stützte sich mit einer Hand an dem alten Holztisch ab, wodurch die Kerze, welche auf diesem stand und wenig Licht spendete, gefährlich ins Wanken geriet, eine Hand, mit einer Flasche Bier, in die Luft reckend: „ Sie hat auch mich verschlungen. Hat ihre eiskalten Finger um mich geschlungen, aber ganz warm wars mir, det kann ich dir sagen. Es is alles dunkel gewesen und still, nur ihr leises singen, während sie mir die Luft abschnitt. Ich war bereit mich in ihre Arme sinken zu lassen", und er ließ sich wie ein nasser Sack wieder auf den Stuhl zurück sinken.
„ Aber... sie hat mich wieder von sich gestoßen. Dafür hat sie mir etwas gestohlen, was wesentlich mehr wert ist, als mein erbärmliches Leben", forschend sah er erst mir und dann den anderen Zuhörern ins Gesicht, welche sich, neugierig durch seine Lautstärke, um den Tisch versammelt hatten.
„ Sie hat mir mein Herz heraus gerissen. Für immer werde ich der ihre sein", gab er, ein letztes Mal lauter werdend, aufbegehrend, von sich und sank dann, mit einem Knall mit seinem Kopf auf den Tisch. Die Stille wurde durch sein Schnarchen unterbrochen und die Menge wandte sich wieder ab.
White war schwerer als er aussah und ich mir zuerst unsicher, wie ich ihn überhaupt zurück an Bord schaffen sollte. Nach wie vor waren mir Berührungen mehr als unangenehm.
Dank meiner Größe und dem bereits vorhandenen Bartwuchs, hinterfragte niemand mein Alter, nicht einmal der Käpten hatte dies getan, auch wenn ich öfter einen gewissen, forschen Blick registrierte, welchen ich nach wie vor nicht einordnen konnte.
Das Bier, sein fünftes in diesem Pub, wobei er schon einiges an Alkohol bereits an Bord getrunken hatte, war nur halb leer und mich beschlich eine gewisse Neugier. Bis jetzt hatte ich mich von Alkohol und Tabak fern gehalten, die Leute nur immer beobachtet, wenn sie das eine oder andere konsumierten.
Mit leicht zitternden Fingern umschloss ich den Krug, zog ihn meinem Käpten aus der erschlafften Hand und hob ihn unter meine Nase. Es roch leicht süßlich, jedoch auch bitter und schäumte fröhlich vor sich hin.
Vorsichtig, als könnte ich mich daran verbrennen, setzte ich das Glas an meine Lippen und nahm einen Schluck. Es schmeckte genau so wie es roch, bitter und doch auf eine gewisse Weise süß. Es schüttelte meinen Körper durch und ich war schon versucht das Bier wieder abzustellen, jedoch war ich mir nach wie vor nicht sicher, ob ich es nun mochte oder nicht.
Noch ein Schluck konnte nicht schaden, ich hatte ja an zur genüge gesehen, wie viel man benötigte um so betrunken zu sein, wie es der Käpten immer war. Der nächste Schluck war nicht besser und der dritte auch nicht, weswegen ich schließlich das Glas wieder absetzte und entschied, dass Bier eindeutig nichts für mich war.
Ich würde auch mein Leben lang nie ein wirklicher Alkoholtrinker werden, mochte diesen einfach nicht.
Schließlich raffte ich mich doch auf, nach wie vor mit mir hadernd, ob ich nicht doch jemanden am Nebentisch überzeugen konnte, ob sie mir helfen konnten Mr. White zurück an Bord zu schaffen.
Jedoch war ich mir sicher, dass sie mich einfach nur auslachen würden und so war ich wohl oder übel gezwungen meine Berührungsängste zu ignorieren.
Bis zu dem Frachter war es zwar nicht weit, jedoch war es mit dem langsam wieder erwachenden und vor allem nach wie vor sturzbetrunkenen Käpten ein ordentliches Stück, welches wir zu bewältigen hatten.
Da er doch einiges Wog und sich mehr oder weniger komplett auf mir abstützte, wankten wir doch beträchtlich hin und her, wobei ich auch darauf achten musste, dass wir niemanden dabei anrempelten, da selbst zu dieser späten Uhrzeit der Hafen noch gefüllt war.
Viele waren ebenfalls alkoholisiert, grölten Lieder, über längst vergangene Liebschaften oder über Geldknappheit, welche mit diesem Beruf einherging. Lallend gab Mr. White ein paar Töne von sich, schien mir etwas mitteilen zu wollen und sein anfängliches, wirres Gebrabbel, wurde irgendwann zu einigermaßen verständlichen Sätzen.
„... Bist noch jung, alles has... hast vor dir, mien Jung und nicht so Verlust gehabt. Ich hab viel verloren, erst Familie, dann Frau und jetzt hab ich nicht mal mehr Geld", während er so weiter über sein Leben schimpfte, im Selbstmitleid unterging, welches ich damals nicht benennen konnte, verkrampfte sich mein Magen.
Zumindest fühlte es sich so an, jedoch nicht als würde ich krank werden, was ich zuerst vermutete, sondern ein bitteres Gefühl. Ich wollte ihm Widersprechen, dass ich genau so verloren hatte und wollte ihn auslachen, wie sie es so oft bei mir getan hatten.
Jedoch wollte ich vor allem, dass er aufhörte, sich selbst zu bemitleiden oder eher darin zu suhlen. Ich mochte es nicht, das war mir klar und doch erschreckte mich dieses Gefühl, da ich es niemals zuvor empfunden hatte.
Erst einige Tage später sollte ich herausfinden, was das war.
Und doch ließ mich die Ungewissheit nicht schlafen, weswegen ich die ganze Nacht auf Deck verbrachte, nachdem ich den Käpten in seine Koje verschafft hatte und ihm die Schuhe von de Füßen zerrte.
Diese stanken, als hätte er die Socken seit Wochen an.
Nach wie vor war ich angespannt, meine Muskeln wollten sich nicht lockern und die Haut brannte unangenehm an den Stellen, wo ich ihn berührt hatte. Ich konnte nicht behaupten, dass ich es mochte, jedoch war ich nicht in Panik ausgebrochen, was schon einmal positiv war.
Ein Glücksgefühl durchströmte mich, als hätte ich etwas richtig gemacht und ich war wie berauscht davon, da mir Stolz auch fremd war.
Das laute Schnarchen der Crew drang bis hinauf an Bord und war in den frühern Morgenstunden umso deutlicher zu vernehmen. Seicht strich der Wind über mein bereits dunkel gebräuntes Gesicht.
Noch waren wir im Heimathafen der Coeur, hatten nur einige wenige Fracht in nahe liegende Städte verschifft und doch hatte an diesem Morgen Mr. White angedeutet, dass die nächste Reise länger werden würde.
Als die ersten Strahlen der Sonne am Horizont zu erkennen waren und somit die zeitlose Dämmerung aufhörte, begann sich mein Herz zusammen zu ziehen, vor lauter freudiger Erwartung.
Angst kannte ich damals noch nicht oder vielleicht nicht mehr wirklich, zumindest nicht die vor dem Ungewissen. In diesen Stunden wurde mir bewusst, dass man nicht alt sein, nicht viel gesehen haben und auch nicht besonders sein musste, um zu wissen was Verlust bedeutete.
Man konnte sich nicht davor schützen, man konnte es nicht aufhalten, dies ist wohl die Tragödie des Lebens, jedoch auch der stetige Antrieb. Ich hatte viel verloren, meinen Vater schon vor langer Zeit, meine Mutter und meine Liebe, mein Herz und würde, wegen dem Herz eines anderen, dieses Land verlassen.
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