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Es war einer der letzten, warmen Tage im Jahr. Ich erwischte mich dabei, wie ich immer öfter gen Horizont blickte, mir das Meer in Erinnerung rief und weiter, weiter hinaus wollte. Was gab es noch dahinter?
Was erwartete einen?
Frage, so viele Frage, so viele Ideen, so viele Bilder, die wir gezeichnet in unseren Schulbüchern sahen, in der kleinen Bibliothek in dicken Wälzern über unbekannte Länder.
Und immer öfter musste ich mich an das erinnern, was mich hier hielt. Es war nicht viel, meine Mutter, Emily und mein Vater, ein bisschen zumindest.
Aber diese Leute waren so viel wert, bedeuteten mir mein Leben.
Das leise Rascheln des Grases, als sich jemand neben mir nieder ließ, weckte mich schließlich aus meinen Tagträumen und diese hinterließen wie immer einen bitteren Geschmack im Mund.
Emilys dunkle Augen hatten sich starr auf mich gerichtet, erwiderten meinen Blick bohrend und ich fühlte mich seltsam ertappt.
Ich hatte sie nicht kommen hören und das war eigenartig, für sie wie für mich. Und wieder dachte ich daran, wie sie sagte, dass meine Augen ihr bereits verrieten, wohin es mich ziehen würde.
„ Woran hast du gedacht?", kam die Frage und ich antwortete, aufrichtig, so wie immer: „ An das Meer und das dahinter."
Sie nickte, als würde es ihre Annahme bestätigen und eine gewisse Bitterkeit zeichnete sich in ihren Augen ab. Und ich fühlte mich wieder einmal schuldig. „ Das mit dem Baby, wie funktioniert das?", fragte ich plötzlich und überrascht hoben sich ihre Brauen.
Fragend sah sie mich an, während ich selbst mir großen Augen und ernst, sie anblickte. „Was?", kam es tonlos über ihre Lippen und sie räusperte sich um präziser nachzuhacken: „Was meinst du?"
Dann aber schien der Groschen bei ihr zu fallen und Emily schloss kurz die Augen, leise seufzend. Gerade wenn sie dachte, sie hätte sich an meine plötzlichen Themenwechsel gewöhnt, wurde sie von einem weiteren überrascht.
Und doch wusste sie, dass ich dies nicht tat um sie abzulenken, sondern schlicht, weil ich das sagte, was ich dachte, zumindest wenn sie bei mir war.
„ Es tut mir Lei...", begann ich, wurde jedoch von ihr unterbrochen: „Nein, nein das muss es nicht. Ich.... Ach... Ethan... Ich weiß es doch auch nicht genau."
Sie hob beinahe entschuldigend die Achseln und rupfte einen Grashalm aus, diesen zwischen ihren schlanken Fingern drehend.
„ Aber du weißt mehr als ich", stellte ich fest, wandte das Gesicht wieder ab und sah eine Weile abwesend, zwischen meinen angewinkelten Füßen, auf den Boden.
Emily entließ hörbar laut die Luft, blies wahrscheinlich wieder einmal die lange, blonde und leicht gelockte Strähne aus ihrem Gesicht, welche sich oft aus ihrem Zopf löste.
Ihren Gesichtsausdruck sah ich so lebhaft vor mir, als würde ich sie gerade ansehen. Und doch wurde mir ihr Einfluss auf mich nur langsam bewusst. Emily war meine Welt gewesen, was ich damals nicht bemerkt hatte.
Als könnte ich nicht ohne sie atmen, nicht leben, als würde mein Herz einfach aufhören zu pumpen, als wäre sie der Motor.
Eine leichte Berührung an meiner Schulter, sie strich mir langsam durch die Haare und ich wandte ihr wieder mein Gesicht zu, dieses leicht schief gelegt und sie nun aus meinen hellen Augen musternd.
Ihr Blick war anders, die Augen dunkler als sonst und den tiefen Höhlen meines Vaters so ähnlich, nur dass in ihnen etwas zu brodeln schien, was ich noch nie in Emilys Gesicht gesehen hatte.
Sie hatte die Lippen leicht geöffnet, musterte mich und ich erwiderte ihren Blick einfach. Aber ich begriff nicht. Ich glaube, dass ich zu dieser Zeit bereits wieder vergessen hatte, was ich sie zuvor gefragt hatte.
Als würde sie aus einer Starre erwachen beugte sie sich leicht nach vorne und drückte ihre Lippen auf die meinen. Es war nichts neues, jedoch nach wie vor etwas ungewohnt. Ich mochte es nicht sonderlich wenn mich andere Leute von sich aus berührten, ohne mein Einverständnis. Meist musste ich die Person sein, welche den ersten Schritt tat, einfach damit es für mich angenehm war.
Der Kuss war aber anders als sonst, er hatte nichts unschuldiges mehr an sich, sondern war beinahe drängend, weswegen ich mich erschrocken von ihr löste, zurück zuckte und sie aus geweiteten Augen fragend ansah.
„ Was...?", brachte ich heraus, meine Stimme war brüchig und doch ließ mich Emily nicht weiter kommen. Sie saß schneller auf meinem Schoß als ich es ihr zugetraut hatte, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste mich erneut, sanfter und nicht ganz so begierig.
Meine Verwirrung stieg schließlich ins Unermessliche als sie mit ihren Händen meinen Nacken hinab wanderte, leicht an den feinen, kurzen Härchen zog und weiter hinab, über meinen Rücken strich, jeden einzelnen Wirbel entlang und unter den Saum meines Hemdes.
Erneut löste ich mich, sah sie aus große, kindlichen Augen entsetzt an und doch hob sie eine Hand, die andere nach wie vor warm auf der Haut meines Rückens liegend und hielt mir einen Finger vor die Lippen, mich dabei sanft ansehend.
„Vertraust du mir?", wisperte sie und eine feine Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus, sodass es mich leicht schüttelte.
Was sollte diese Frage?
„ Ich verstehe nicht", stammelte ich, leckte mir unsicher über die Lippe und nickte doch. Sie wusste, dass ich ihr vertraute, vollkommen und blind.
Emily nickte schließlich bestätigend, neigte sich wieder vor und legte ihre Lippen sanft auf die meinen, löste sich nur, um mir das Hemd über den Kopf zu ziehen.
Es war seltsam, aber eine jede Berührung verursachte ein Kribbeln, eine Hitze, die sich über meinen Körper ausbreitete und von der ich erst annahm, ich würde einen Sonnenbrand bekommen.
Mein Atem ging schneller, der ihre auch und unsicher ließ ich sie meine Hände nehmen, mit welchen sie über ihren Körper strich, sie dann wieder entließ, mit der stummen Aufforderung selbst zu handeln.
Ihre dunklen Augen hielten mich gefangen, ich war nicht imstande überhaupt zu denken, richtig zu handeln, spürte ein jedes Härchen, welches sich aufstellte, beobachtete fasziniert, als sich auch auf ihrer Haut eine deutliche Gänsehaut bildete. Ihr schneller Atem, das heben des Brustkorbes, die leicht geröteten Lippen und dieser Ausdruck in ihren Augen, den ich heute als Verlangen betiteln kann.
Zu unserem Glück sah uns keiner, zu unserem Glück wurde sie nicht schwanger. Ich selbst fand diese Erfahrung seltsam, abstoßend, aber auch unglaublich schön. Bis heute scheue ich mich vor sexuellem Kontakt, zu intensiv sind die Gefühle, zu viel für mich.
Verschwitzte Körper, aneinander klebend, reibend, aufbegehrend, stöhnend. Nur leicht nahm ich den kühlen Wind auf meiner Haut war, schlang die Arme um sie, presste meine Lippen auf ihre und war völlige dem Rausch verfallen, den süßlichen Geruch ihres Körpers in der Nase.
Nach wie vor wollte ich mich nur langsam wieder beruhigen, hatte mich aufgesetzt und fuhr mir durch die Haare, wieder gen Horizont starrend, nicht begreifend, was hier geschehen war.
Emily lag noch im Gras, sah mich mit einem zufriedenen Lächeln an und streckte ihre Hände nach mir aus, ließ sich hoch ziehen und lehnte sich leicht an mich.
Sie sagte:„ Ich liebe dich". Ich nickte nur, wusste nicht wie ich mit all diesen Gefühlen umgehen sollte, war überfordert und ertrug ihre Berührungen damals nicht, auch wenn sie beruhigend sein sollten, als sie über meinen Rücken fuhr.
Ich weiß noch wie heute, wie verletzt sie aussah, als ich einfach aufstand, beinahe fluchtartig, in meine Hose schlüpfte und mich stammelnd zu rechtfertigen versuchte, zu entschuldigen, aber dann doch ging.
Sie sah so unglaublich verletzt aus, die Augen glasig, der Mund verzogen, verkrampft und der Wind zerrte an ihrer dünnen Gestalt, die so verloren in dieser großen Welt aussah.
Der siebte Vorfall, welcher sich ereignete, prägte mich wohl am meisten. Und bis heute tut es weh, über diesen Vorfall zu sprechen.
Die Auseinandersetzungen mit meinem Vater wurden immer häufiger, wir schrien einander an und es wurde immer offensichtlicher, wie sehr dies meine Mutter belastete.
Ihr Mann hatte alles für sie aufgegeben, seine eigenen Träume, sein Leben und es war nicht mehr viel von ihm übrig. Dies wurde mir immer mehr bewusst und doch hatte ich kein Mitleid. Unverständnis war alles was ich aufbrachte, manchmal sogar Hass.
Ich weiß selbst nicht wieso sich die Konflikte so zuspitzten, wieso wir nicht aufhörten, bis sie begann zu weinen. Ich bekenne mich schuldig, damals, heute und für immer.
Es war im Frühling des kommenden Jahres, ich war 16 Jahre alt und verdammt groß für mein Alter. Und ein Tag würde mein Leben endgültig verändern.
Warm war es gewesen, abends war wieder ein Streit zwischen mir und meinem Vater entbrannt, ich weiß nicht mehr um was es ging, wir schrien.
„Hört auf, hört auf", wimmerte sie unter Tränen. Die blonden Strähnen klebten in ihrem Gesicht, die Augen waren gerötet, leicht geschwollen und der Rest ihres Körpers fahl.
Und wir hörten nicht auf, wir hörten einfach nicht auf. Die folgenden Worte verstand ich nicht, nahm sie wahrscheinlich gar nicht war: „ Ich halt das nicht mehr aus."
Sie hatte es gewispert und fassungslos hatte sie den Kopf geschüttelt. Meine Mutter war sehr zerbrechlich gewesen, was ich nie als solches wahrgenommen hatte. Sie hatte die Küche verlassen und wir hatten es nicht mitbekommen, sie hatte den Revolver meines Vater mitgenommen und wir hatten es nicht mitbekommen, war durch die Haustür gegangen und erst als Schuss erklang, verstummten wir.
Ich weiß noch ganz genau wie ihm das Gesicht entglitt. Eben noch die Wangen gerötet, die dunklen Augen aufgerissen und der Mund verzogen vor Wut, die Hände wild gestikulierend, drohend gehoben, ein jeder Muskel angespannt und dann plötzlich entspannte sich alles, als würden seine Muskeln ihm den Dienst versagen.
Entsetzen, nichts als Entsetzen blieb.
Und während er bereits zur Tür stürmte, diese aufriss und ihr schreiend hinterher lief, blieb ich stehen, starrte in die Luft, unfähig mich zu rühren. An seinen Schreien, seinem Schluchzen, hörte ich bereits das, was so offensichtlich war, wir aber beide nicht wahrhaben wollten.
Es schnürte mir die Luft ab, röchelnd versuchte ich zu atmen, mir wurde übel, mein Körper begann heftig zu zittern und leise tropften die Tränen auf den Boden, ohne dass ich sie auf meiner kalten Haut spürte.
Alles drehte sich und taumelnd ließ ich mich auf dem Sofa nieder, unfähig mich je wieder zu rühren. Ich würde einfach hier bleiben.
Die schweren Schritte meines Vaters weckten mich wieder aus dieser Schockstarre, als er an mir vorbei ging, dunkel gekleidet und auf seinen Armen ein weißes, regloses Geschöpf, dessen helles Kleid von roten Flecken bedeckt war.
Wie ein erschossener Vogel, den man vom Himmel geholt hatte, ein Engel, der zu tief gefallen war. Ihr Mund war leicht geöffnet, die blauen Augen geschlossen, das Gesicht so reglos wie das meines Vaters.
Er wirkte so unbeteiligt, abwesend und die getrockneten Spuren von Tränen reflektierten das flackernde Licht der Kerzen.
Ich war nicht ansprechbar, aß nicht, ging nicht mehr zur Schule und mein Vater war nicht mehr aus seinem Zimmer heraus gekommen. Die Eltern von Emily organisierten ihre Beerdigung, sie sollte in zwei Tagen stattfinden oder waren es doch drei?
Emily hatte sich nach einigen Tagen Sorgen gemacht, war vorbei gekommen und machte den Haushalt, sprach auf mich ein und doch reagierte ich nicht. Zu meinem Vater drang sie eher durch, hatte ihn am heutigen Tag so weit gebracht, dass er ihr beim Putzen etwas half.
Ihre Mutter war ebenfalls etwas später gekommen, die mitleidigen Blicke, welche sie mir zuwarf, ertrug ich beinahe nicht und dann, ganz plötzlich, stand ich auf wie von der Tarantel gestochen und verließ das Haus. Ich hielt es nicht mehr aus, hörte Emily hinter mir meinen Namen rufen und hielt doch nicht inne.
Ich lief, bis meine Beine bei jedem Schritt weh taten, die Muskeln aufschrien, sich verkrampften, meine Lunge um Luft bettelte, sich immer mehr zusammen zog und ich mehr über den Untergrund stolperte, als wirklich lief und schließlich stürzte.
Auf die Knie nieder gehend schrie ich laut und gellend auf, warf den Kopf in den Nacken und schrie so laut, wie es mein Körper zu ließ. Ich schnappte nach Luft und spürte wie mir die Tränen über die Wangen liefen.
Nach Tagen schien ich endlich wieder angekommen zu sein, aufgewacht und die Realität schlug in all ihrer Grausamkeit über mir ein.
Als es bereits dämmerte hatte ich mich wieder beruhigt, saß einfach dort und spürte den Wind auf meinem Gesicht.
Ich hatte drei Entschlüsse gefasst:
Erstens: Ich würde nicht zu der Beerdigung meiner Mutter gehen
Zweitens: Ich würde mich von niemandem verabschieden
und Drittens: Ich würde gehen.
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