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Hell war der Gesang der Vögel am frühen Morgen zu hören, welche bereits vor Sonnenaufgang beschlossen hatten, dass die Nacht jetzt vorbei zu sein hatte.

Noch verschlafen und leise grummelnd drehte ich mich erneut im Bett um und versuchte verzweifelt wieder einzuschlafen. Seit etwa einer halben Stunde lag ich bereits wach, fühlte mich unfähig zu denken, mich zu bewegen und sah wieder und wieder meinen Vater vor mir, alt und geschlagen, mich warnend, aber vor was?

Mein Kopf schmerzte, der Rücken tat weh und aufächzend trat ich das dünne Lacken von mir, mich aufsetzend. Langsam und mit knackenden Gliedern stand ich auf und trat an das offenstehende Fenster.

Am Horizont zeichnete sich bereits ein erster, beinahe nicht erkennbarer, feiner Schimmer, der ersten Morgensonne ab.

Warm und angenehm griff der Südwind nach mir, umstrich mein Gesicht, fuhr mir durch die Haare und hinterließ diesen einmaligen Geruch von trockenem Gras.

Ich begann mit meinen Schulter zu rollen, um sie ein wenig zu entspannen, wandte mich vom Fenster ab und lief auf noch blanken Füßen und mit bloßem Oberkörper zur Zimmertür.

Ich musste sie, so wie immer, ein Stück anheben, damit sie beim Öffnen nicht quietschte.

Erneut das Patschen meiner Füße, dieses Mal auf den Dielen im Gang, welcher in die Küche mündete.

Die helle Holztüre zum Schlafzimmer meiner Eltern war geschlossen, sie war seit ich mich erinnern konnte nie zu gewesen. Nur leicht strich ich mit meinen Fingerkuppen über das glatte Holz. Sah die Türe eine Weile an und ging schließlich weiter.

Die Küche war in dieses trübe Licht getaucht, welches nur dann entstand, wenn Tag und Nacht verschmolzen, dieser einmaligen Zeit, in der das Leben des Tages und die Sorgen der Nacht so irreal wirkten.

So als hielte die Welt den Atem an.

Die Zeit war vergessen, die Realität ein Traum und kein Geräusch drang an mein Ohr, während ich noch gefangen war von dieser ausfüllenden Leere, dieser Zufriedenheit.

Lautlos bewegte ich mich zur Türe, öffnete diese und trat hinaus. Kein Wind zog an mir, die Grillen hatten aufgehört zu Zirpen und selbst die Vögel, welche zuvor noch nervtötend Gesungen hatten, waren verstummt.

Es regte sich nichts und ich starrte zum Horizont und war mir sicher, der einzige Mensch auf diesem ganzen Planeten zu sein. Der Schimmer wurde heller und heller, mit jeder Minute die verstrich und ich hatte meine blauen Augen nach wie vor darauf gerichtet.

Ich konnte nicht blinzeln, mich nicht bewegen, nicht atmen, nicht denken und mein ganzes Sein schien nur auf diesen einen Moment hinzustreben.

Und dann ging sie auf und mein Magen zog sich voller Freude zusammen, mein Atem entwich mir mit einem langen Seufzen und Tränen schossen mir in die Augen. Mein Körper bebte unter diesen heftigen Gefühlen, dem Glück, das mich durchströmte und der Wind fuhr über meine Haut, hinterließ eine Gänsehaut und das Rascheln des Grases, das Zirpen der Grillen und Singen der Vögel erfüllte meine Ohren.

Die Zeit lief weiter und ich stand einige Sekunden einfach nur sprachlos und mit offenem Mund da, genoss dieses Gefühl und schloss meine Augen, die wärmenden Strahlen auf meiner Haut genießend. Es war als wäre ich neu geboren worden und die Sehnsucht, Sehnsucht nach der Ferne, zog an mir stärker als jemals zuvor.

Ich wollte rennen, rennen bis ans Ende der Welt und darüber hinaus, ich wollte sehen und entdecken, ich wollte das Meer sehen und ich wollte existieren und nicht nur vor mich hin leben.

Und doch spürte ich mit einem Stich in meinem Herz, dass etwas auf mich lauern würde, denn alles hatte seinen Preis, den man zu zahlen hatte.

Nur was war der meine?

Nicht einmal heute bin ich mir sicher, ob ich diesen Preis bereit gewesen wäre zu zahlen, hätte ich ihn im Voraus gewusst.

Aber wer weiß das schon?

Wer weiß schon was die Zukunft bringt?

Das zweite große Ereignis, an das ich mich zurück erinnern kann und welches kurz nach dem Treffen auf Emily wohl am beeindruckendsten auf mich gewirkt hatte, war die kurze Reise gewesen, die meine Eltern mit mir unternommen hatten.

Raus aus den endlosen Weiden und Steppen, die sich bis zum Horizont erstreckten, kamen wir in hügeligeres Gelände, welches nicht von gelblich verbranntem Gras bedeckt war, sondern saftig grünen, langen Halmen, die sich im sanften Wind hin und her bewegten.

Ich, gerade einmal vier Jahre alt, konnte meinen Blick nicht von dieser Landschaft abwenden, das Fenster unseres Zugabteils weit aufgerissen, um ja nichts übersehen zu können.

Bäume, grün und schwer behangen von Obst, riesenhaft, uralt, und meine blauen Augen suchten weiterhin den Horizont ab.

Meine Mutter neben mir hatte sich die ganze Zugfahrt über köstlich über meine Faszination amüsiert und mir direkt nachdem wir eingestiegen waren etwas ins Ohr gewispert, was mein ganzes Leben vom Grund auf verändern und prägen sollte.

„Ethan", hatte sie gesagt und der süßliche Geruch von Orangen war mir in die Nase gestiegen, die ich noch etwas mehr in ihren langen, blonden Haaren vergraben hatte, viel zu überwältigt und auch etwas verschreckt von der neuartigen Umgebung.

„Ethan, mach die Augen auf, sonst wirst du das Wunder nicht sehen", hatte sie mich gelockt, ihre Stimme, wie das Wispern des Windes. Und wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte ich meine Augen sofort aufgerissen und sie fragend aus diesen angesehen.

Was für ein Wunder?

„Das Funkeln am Horizont, das Glitzern, wenn du nicht aufpasst, dann wirst du es nicht sehen, aber du musst Geduld haben", meine Augen wurden immer größer und größer, der Mund leicht geöffnet und aufgeregt. Die Angst, das Heimweh und die Sehnsucht nach Emily vergessend, hatte ich mich zum Fenster gewandt und gewartet, lange und ohne mich zu beschweren, die ganze Fahrt lang.

Und das nicht umsonst.

Die Sonne hatte bereits rot und tief gestanden, war beinahe mit dem Rand unserer Welt verschmolzen, als ich es plötzlich sah und die müden Augen erstaunt und fasziniert aufriss. Erst nur leicht und dann immer deutlicher hatte ich es gesehen, das Glitzern am Horizont, das immer und immer näher kam, silbern und glänzend und bis heute ist es das Schönste was ich je in meinem Leben gesehen habe.

Endlos bis zum Horizont erstreckte es sich, wie geschmolzenes Silber, wunderschön und in der tief stehenden Sonne glitzernd und strahlend, Wellen schlagend, plätschernd und rauschend.

Das Meer wurde für mich zu einem Wunder, von dessen Schönheit ich meine Augen nicht mehr abwenden konnte, von dessen heller Farbe, diesem beinahe durchsichtigen Blau, welches, kaum dass es nur noch einen Meter von den Schienen entfernt war, für mich sichtbar wurde.

„Ich habe doch immer gesagt, dass deine Augen nicht nur die Unendlichkeit des Himmels darstellen, Ethan", hörte ich ihre Stimme wieder dicht an meinem Ohr und sie hatte ja so recht gehabt.

Sie hatte mich gepackt, mit ihren salzigen Duft, dem Flüstern und Singen und ich konnte mich aus ihrem Griff nicht mehr befreien.

Kaum hatten wir uns dem kleinen Örtchen genähert, in welchem wir Verwandte über einige Tage besuchen wollten, da war es von Hügeln und Wäldern vertrieben worden, zwar hier und da hervor spähend, aber doch außer Sichtweite.

Mein Herz hatte sich zusammen gezogen und aufgeregt war ich, einem eingesperrten Tier gleich, auf und ab gelaufen, hatte das Quietschen der Bremsen herbei gesehnt und kaum dass dieses erklang, konnte mich nichts mehr halten.

Ich entkam den Armen meiner Mutter, die mich daran hindern wollte, das Abteil zu verlassen und zu meinem Glück und ihrer Fahrlässigkeit, war die Tür zum Gang offen.

Mit meiner damaligen Größe kam ich noch nicht einmal bis zur Tischkante, wie sollte ich da eine Türe öffnen?

Schneller als man es meinen kurzen Beinen zutraute raste ich aus dem Abteil, stolpernd durch das plötzliche Verringern der Geschwindigkeit und die lauten Stimmen meiner Eltern, meiner Mutter hell, lockend und beinahe singend, die meines Vaters tief, brummend und kräftig, hinter mir.

„Ethan", riefen sie und ich rannte an Abteilen vorbei, aus denen die ersten Leute kamen schwer mit Koffern beladen.

„Ethan", schlüpfte an diesen vorbei, mir meinen Weg schlängelnd, zwischen Beinen und unter Röcken hindurch, überraschte Ausrufe folgten mir.

„Ethan", bog um eine Ecke und blieb vor der noch geschlossenen Tür stehen, mit einem Ruck kam der Zug zum Stillstand und der Ruf eines Mannes erschall, der auf den Gleisen auf und ab ging, den Zug betitelnd.

Eine Frau schob sich an mir vorbei, öffnete die Türe und stieg langsam die Stufen hinab. Ihr Haar glänzte im Sonnenlicht, war pechschwarz und das Kleid bauschte sich auf, als es vom Wind erfasst wurde. Leise klackerten ihre Absätze und mich hinsetzend, rutschte ich die Stufen hinab, kam auf der Letzten zum Stehen und starrte hinab auf die Schienen.

Es war ein gutes Stück bis zum Bahnsteig und für mich erschien dieser Spalt damals wie eine Schlucht. Mein Herz raste, der Mund stand mir offen und noch bevor der ältere Herr dicht hinter mir nach mir greifen konnte, da er scheinbar erkannt hatte, dass der gerufene Namen der meine war, machte ich einen für mich übermenschlichen Satz und kam hart auf der anderen Seite auf.

Mein Herz blieb stehen, mir stand der Mund offen, nach Luft hechelnd und dann schlug es wieder, raste und gab mir den Takt vor, zu welchem ich rannte. Das kleine Gebäude umrundend, zwischen Beinen hindurch quetschend, verschiedenste Gerüche in der Nase von Vanille, Blumen, bis zu Moschus und anderen, brennenden Männerdüften, frisch geputzte Schuhe, neue Klamotten, heißer Stein, Staub.

Das Stimmengewirr beeinträchtigte mich ebenfalls, verstopfte meine Ohren und mein Herz pochte noch schneller, dieses Mal wieder aus bloßer Panik. Es war alles zu viel, viel zu viel und doch konnte man es damals noch auf meine Größe schieben.

Stolpernd und wankend wurde ich mitgezogen, unfähig mich zu regen und musste darauf achten, nicht doch noch zu fallen. Angst, nichts als Angst und all diese erschlagenden Eindrücke, die auf mich einstürmten und dann plötzlich tat sich eine Lücke vor mir auf, kam dem Sonnenlicht am Ende des Tunnels gleich und ich stolperte durch diese in das Licht.

Die Sonne brannte auf meiner gebräunten Haut, stach in den Augen und doch war alles besser als der Krach, den die Menschen erzeugten, der nur langsam abschwoll in meinen Ohren.

Mein Atem ging schnell gehetzt und mir die Sonne aufs Gesicht scheinen lassend hatte ich mein Ziel kurzzeitig aus den Augen verloren, bis ich diese träge wieder öffnete, kaum dass sich mein Herz wieder beruhigt hatte.

Und da sah ich es und meine Augen wurden größer und größer, ein Lächeln auf den Lippen und einen hellen, gellenden Schrei loslassend, der vor Glück nur so strotzte und in dieser Weise nur von Kindern ausgestoßen werden konnte.

Es war schön, so viel schöner als man es beschreiben kann. Der Strand lag direkt hinter dem Bahnhofshäuschen und ein kleiner Weg führte nach links ab in das Städtchen, auf dem die meisten Leute liefen, blind für diese Schönheit.

Meine Füße waren losgestürmt, sich beinahe verheddernd, stolpernd und halb im Sand versinkend. Meine Schuhe füllten sich mit diesem und ich zog sie mir aus, lief auf bloßen Füßen durch den Sand und blieb dicht vor dem Wasser stehen.

Salzig und warm zog der Wind an mir, fuhr durch meine dunklen Haare und wisperte, erzählte, sang, frohlockte, ließ mich Träumen, mit glänzenden Augen zum endlosen Horizont blickend, über welchem die Sonne hing.

Und ich spürte das erste Mal dieses Ziehen in meinem Bauch, dieses Ziehen, welches mein Leben bestimmen würde. Diese Schönheit, diese Geliebte, hatte mich eingefangen, mich gefesselt und ich erlag ihr mit einem Lächeln.

Die Schritte und Rufe meiner Eltern hinter mir hörte ich nicht, war zu fasziniert, bis zu dem Knöcheln im Wasser stehend und wurde plötzlich gepackt, herum gedreht und starrte in das dunkle meinem eigenen so ähnliche Gesicht meines Vaters, die dunklen, schwarzen Augen in meine bohrend.

Er öffnete seinen Mund, wollte ansetzen zu schreien und doch hielt er inne, sah mich einfach nur an und so etwas wie Erkenntnis blitzte in seinen harten Zügen auf, es schien ein Schatten darüber zu wandern.

Sein Mund schloss sich wieder, er zog mich mit sich und doch ist es mir bis heute unmöglich in den Augen meines Vaters zu lesen, diesen Löchern, die alles zu verschlucken schienen, selbst das Licht.

Wir blieben drei Tage bei dem Bruder meines Vaters, der so gar nichts mit diesem gemein hatte. Er war schwarzhaarig, dick, wirklich dick, auch wenn meine Mutter mir verbat dies zu sagen, schwitzte und hasste Kinder.

Von mir schien er positiv überrascht zu sein, da ich doch äußerst still für ein Kind war, dafür aber schon immer das getan hatte, wonach mir der Sinn stand. Einen jeden Tag verbrachte ich am Strand und doch konnte ich mich nicht satt sehen an ihr, würde ich wohl nie können.

Es war das schönste Erlebnis meiner Kindheit und auch das einzige Mal, dass ich mit meinen Eltern am Meer war.

Mit Fräulein Merles Verschwinden hatte sich etwas geändert. Dieser Ausbruch hatte das Ziehen zurück gebracht, welches ich vergessen hatte, welches sich über die Jahre hinweg gelegt hatte und wann immer ich hinaus sah wartete ich darauf, das Glitzern am Horizont zu sehen.

Emily bemerkte etwas, so wie sie immer realisierte was in Menschen vorging. Sie hatte ein Feingefühl dafür und obwohl ich immer mit ihr unterwegs war, umher zog und das gleiche sah, die selben Menschen beobachtete, so blieb mir doch der Grund, weswegen wir diese beobachteten verwehrt.

Sie lachte,kaum dass wir aus den dunklen Gassen heraus waren, hatte noch einen interessierten Blick auf Mr. Philipps geworfen, den Schmied, ihn mit ihren dunklen Augen lange angesehen und war dann plötzlich losgelaufen.

Überrascht hatte ich ihr nachgesehen, mich wieder zu Philipps gewandt, welcher vielleicht etwas jünger war als mein Vater, mit blondem Haar, glatt rasiertem Kinn und dessen grüne Augen meinen Blick erwidert hatten.

Ich konnte nichts an ihm finden, was ihr Interesse erweckt hätte und doch schenkte er mir ein kurzes Schmunzeln und kleine Fältchen bildeten sich um seine Mundwinkel, daraufhin schlug er wieder auf das Stück Metall ein.

Ihr Lachen hallte durch die Gassen und ich lief los, folgte diesem, hörte meine Schritte hallen und fühlte mich im Schatten der Wände eingesperrter als zuvor, das laute Hämmern hinter mir lassend.

Helligkeit empfing mich und ich schloss zu ihr auf, zog sie in meine Arme, die von der schweren Arbeit bereits muskulös waren und stellte mit Bedauern und einem Blick zum Himmel fest, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte, bis ich meinem Vater wieder helfen musste.

Bereits jetzt griff dieses ungute Gefühl nach mir und ich wandte mein Gesicht von ihr ab, sah zurück zum Städtchen und dachte an die verwinkelten, einengenden Gassen, die Häuser, die Wände, die mich gefangen hielten.

Ich hatte Angst und wusste nicht wieso.

Das Lächeln war verschwunden und Emily nahm sanft mein Gesicht in ihre so kleinen, weichen Hände, drehte es, sodass ich in ihre dunklen Augen sah, die mich fesselten, in denen ich mit den meinen versank, mich nicht wehren konnte.

„Du solltest frei sein, wie Vogel", meinte sie plötzlich und ihr Lächeln war so unendlich liebevoll, ich wusste nicht was sie meinte.

Und doch konnte ich nicht anders als ihr Lächeln zu erwidern, zog sie an mich und legte meine Lippen auf ihre Stirn, ihren zierlichen Körper an meinem spürend.

Meine Mutter hatte es immer eine Gabe Gottes genannt, ein Wunder, das ich hüten sollte und doch, es war meist eher eine Last als ein Wunder. Es war schwer zu tragen und unbequem, erdrückend zugleich.

Je älter ich wurde, desto größer wurde diese Welt und desto schneller. Ich war nicht nur als Kind mit meiner Umgebung schlicht überfordert gewesen, sondern bin dies bis heute. Ich sah Dinge, die anderen entgingen, einen kleinen Fleck am Oberarm, wo mein Sitznachbar von seinem Vater immer gepackt wurde, ein loser Faden, die wirren Haare eines Jungen vor mir, durch die kurz zuvor jemand gestrichen hatte, das kurze Naserümpfen des Lehrers, der sich vor Kreidestaub ekelte, dies jedoch niemandem zeigte oder das leise Rasseln beim Einatmen, wenn man krank war.

Und auch meine Angst vor geschlossenen Räumen wurde schlimmer. Ich war empfindlich gegenüber zu vielen Geräuschen, kam mit meiner Außenwelt und vor allem dem Menschen nicht klar. Es war schwer für mich einen klaren Gedanken zu fassen, wenn ich in Panik geriet und doch, wenn mich die Angst nicht überfiel, so war es erträglich, mehr zu sehen als der Rest.

Komischerweise entdeckte ich eine weitere Angst vor mir mit gerade einmal 7 Jahren, welche die vorigen noch um Weiten überstieg. Eine Tante, ich weiß ihren Namen nicht mehr, war plötzlich erkrankt und lag seitdem in dem kleinen Krankenhaus, welches gut 3 Stunden entfernt lag.

Eine Eigenart von mir ist, dass ich mir außerordentlich schwer tue mir Namen zu merken, jedoch keinerlei Probleme damit habe, kleine Eigenheiten innerhalb von Sekunden zu bemerken. Ein jeder Mensch hat diese kleinen Merkmale an sich, welche die meisten Leute erst nach Jahren realisierten.

Ob man nun etwas lispelte oder ein Wort ein jedes Mal anders aussprach, sich während dem Reden immer über die Lippen leckte, an seinem Ohrläppchen zupfte oder eine Haarsträhne um den Finger zwirbelte. Ich hatte schon Menschen gesehen, die ihre Augen etwas weiter aufrissen, wenn sie etwas besonders betonen wollten oder immer denselben Takt einhielten, wenn sie liefen.

Ein jeder Mensch hatte eine solche kleine Eigenheit, wenn nicht mehrere und das war wohl auch schlussendlich das, was sie für mich besonders machte. Diese Tante hatte immer zu den Menschen gehört, die ich sehr geschätzt hatte und auf eine gewisse Art auch faszinierend fand.

Sie liebte es Klavier zu spielen, war zwar nicht besonders gut darin, aber doch erfüllte sie ein jeder Ton, eine jede Melodie mit unbändiger Freude und Glücksgefühl. In solchen Momenten hellten sich ihre braunen Augen auf, die nicht einmal annähernd an die Schwärze denen meines Vaters heran kamen und ein Glitzern war in ihnen zu sehen.

Ihr Gesicht entspannte sich, kleine Fältchen bildeten sich um ihre Augen- und Mundwinkel und ihre Finger tänzelten über die Tasten. Die Fältchen waren nicht hässlich oder gar entstellend, sondern hauch fein und erzählten von einem meist glücklichen Leben, das Funkeln in den Augen bestätigte, dass sie zu einer jenen Kategorie Mensch gehörte, die man als Träumer bezeichnen konnte.

Tante Rose, ich nenne sie jetzt einfach einmal so, weil sie mit ihren dunklen, rötlichen Locken und ihrer scheinbaren Wildheit mich ungemein an diese Blume erinnerte. Nicht diese dürren Gestelle, die in Töpfen gezüchtet wurden, sondern die in der freien Natur wachsenden Exemplare.

Also, Tante Rose war erkrankt, wie meinen Eltern durch ein Telegramm mitgeteilt wurde. Da Rose die Schwester meines Vaters war, gehörte es quasi zu unserer Pflicht sie zumindest einmal zu besuchen und nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen.

Mein Vater und Rose waren sich trotz ihrer augenscheinlichen Verschiedenheit in einigen Dingen erstaunlich gleich, was mir aber damals nicht auffiel.

Rose war ein zierliches Wesen, mit einer angenehm, melodiösen Stimme und diesen wunderschönen, strahlend braunen Augen, die einem das Gefühl von einem warmen Heim, mit flackerndem Feuer im Kamin vermittelten. Sie hatte eine recht helle Haut, Sommersprossen auf ihren hohen Wangen und fein geschwungene, ebenfalls helle Lippen. Ihre roten Haare waren lockig, hingen in langen, scheinbar unzähmbaren Strähnen über ihre Schultern und waren im Gegensatz zu den Haaren der meisten anderen Frauen, nie zu einem strengen Dutt oder einer aufwendigen Hochsteckfrisur zusammengefasst.

Von der lebensfrohen, etwas hibbeligen und aufgeweckten Frau war nicht mehr viel übrig. Sie lag leichenblass und zerbrechlich in dem viel zu großen Bett, mit den hellen Laken, ich selbst hätte mich direkt neben sie legen können, da mein Gesicht die gleiche Farbe hatte.

Schon vor dem weiß gestrichenen, großen Gebäude, wurde es mir unangenehm mulmig im Magen, konnte in meiner kindlichen Naivität aber noch nicht wissen, wovor ich angst hatte, ich wusste lediglich, dass ich angst hatte.

Mit einer ungeheuerlichen Furcht sträubte ich mich gegen die Hand meiner Mutter, die mich mit sich in das Gebäude zog und doch, sobald ich es betrat, wurde das Grauen spürbar.

Es packte mich, hielt mich gefangen, mit seinen weiß gestrichenen, endlosen und doch seltsam leeren Gängen, der Trostlosigkeit und dem Geruch von Arzneien, sowie Desinfektionsmitteln. Krankenhäuser sollten hell wirken, freundlich und ein rettender Anker sein, aber all dies, waren sie für mich nicht, nie gewesen.

Angst, tief wurzelnde Angst, die sich irgendwann Panik verwandelte.

Meine kleine Hand wurde kalt, eisig kalt, die warme Haut meiner Mutter brannte unangenehm und Schweiß brach mir aus, als ich stolpernd versuchte mit meinen kurzen Füßen, mit den ihren, so viel längeren, mitzuhalten. Sie lief, ungeachtete meiner Angst, einfach weiter und ihre Schritte hallten laut in dieser Leere wider. Es war wohl diese Leere, die ich schon immer unerträglich fand. Als wäre dieses Gebäude nicht belebt und selbst eine Bibliothek hatte mehr Charakter, mehr Leben in sich.

Wann immer der Herr Pfarrer vorbei kam, hielt er uns einen Vortrag über unseren lieben Herrn dort oben im Himmel, den bösen Herrn unter unseren Füßen und die schlimmen Dinge, die man nicht tun durfte. Zu aller erst gehörte es sich nicht, das Jungen mit Mädchen zusammen saßen, was ich schon damals recht lächerlich fand, aber diese Bemerkung noch für mich behielt.

Dann war es natürlich auch nicht gut, wenn man schmutzige Gedanken hatte, tötete und die ganze Palette, wie es wohl die meisten selbst wissen. Das mit dem Töten war noch einleuchtend, aber ich verstand nicht, was es denn für böse Gedanken geben könnte und auch wenn die älteren Jungen bei diesen Worten oft leise auflachten, die älteren Mädchen mit roten Wangen kicherten, so verstand ich nicht.

Ich verstand nicht, was schlimm daran war, an das zu Denken, was man liebte. An Emily, ihren Körper, ihre Augen, ihr Lächeln, ihre weiche Haut und den Geruch von dieser und egal wie oft sie mir erklärte, dass der liebe Herr Pfarrer genau das gemeint hatte, so konnte ich es nicht nachvollziehen.

Unrein, so nannte er es, für mich aber gab es nichts auf dieser Welt, was hätte reiner sein können.

Was er aber auch regelmäßig erklärte, war, wieso man in die Hölle kam, wie es dort aussah und was der Limbus war. Ich erfuhr dies erst einige Jahre nach meinem ersten Besuch im Krankenhaus, aber das erste, was mir zum Limbus einfiel, waren diese ewigen, kalten, nur durch wenige Fenster und flackernde Lampen erhellten Krankenhausgänge.

So stellte ich mir den Vorort zur Hölle vor und doch sollte es ein trostspendender Ort sein, sollte. Das war es wahrscheinlich auch für die meisten Menschen, nur für mich nicht.

Weiter stolperte ich meiner Mutter hinterher, alles zog schemenhaft vorbei, die Lichter blendeten mich, mein Herz hämmerte in einem schnellen, unregelmäßigen Takt und die Stimme meines Vaters drang an meine Ohren, der sich mit scheinbar mit meiner Mutter unterhielt, da sie ebenfalls ihre Stimme erhob.

Und doch, die Worte wollten keinen Sinn ergeben, ihre Stimmen tanzten, klangen in einer mir fremden Melodie und fügten sich nicht zu einem für mich begreiflichen Ganzen zusammen.

Schließlich wurde ich unsanft nach recht gezogen und plötzliche Helligkeit brach über uns herein, wie das Sonnenlicht, nach einer zu langen Nacht. Aber das Sonnenlicht brachte nicht die Erleichterung mit sich, verdrängte die Schatten der Nacht, zeigte aber auch mit ihrer Helligkeit, die eigentliche Entstellung und Grausamkeit, die einem bis jetzt verborgen blieb.

In dem kleinen, ebenfalls weiß gestrichenen Raum, stand ein schmales Bett, in weiß, ein kleiner Stuhl, in weiß und ein Schrank, in weiß. Meine Hand krallte sich noch etwas fester um die Finger meiner Mutter und ich wäre am liebsten wieder auf dem Absatz umgekehrt.

Es heißt im Limbus würden die Seelen warten. Dürr, hager die Körper und unendlich lange vegetierend. Das was dort in dem Bett lag, in den weißen Laken, das war eine dieser Seelen. Meine Tante war abgemagert, die Wangen eingefallen, die Augen traten hervor und wirkten wie zwei dunkle Perlen, hatten ihre Glanz verloren und waren eingestaubt.

Sie war so hell wie das Laken und brachte nur ein dünnes, kaum erkennbares Lächeln zustande, sah mich an und erkannte in meinen blauen, weiter aufgerissenen Augen, die Panik.

Roses Lächeln sollte beruhigen. Tiefe Falten hatten sich in ihre vor kurzem noch so glatte Haut gegraben, sie wirkte eingefallen, als hätte man aus ihr die Luft heraus gelassen und nichts war mehr übrig, außer Haut, Knochen, Zähne und ihre Augen.

„ Maya, Colin", ihre Stimme war rau, ein Abklatsch ihrer selbst und kaum lauter als ein Flüstern. Wo war das Leben geblieben, wo ging es hin?

Für diese Frage hatte mich meine Mutter geschlagen. Es war das einzige Mal, dass mich jemals geschlagen hatte und den pulsierenden, heißen Schmerz auf meiner Wange, würde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen.

Wir waren auf der Beerdigung ihrer Mutter gewesen, ich gerade groß genug, dass ich in den geöffneten Sarg spähen konnte und in das leere, eingefallene Gesicht meiner Großmutter blickte.

Das war nicht mehr sie, genau so wenig, wie das da Rose war. „Wo ist sie hin?", fragte ich, sah aus großen, blauen und ungläubigen Augen meine Mutter an, die in Tränen ausbrach und mir eine schallende Ohrfeige gab.

Sie hatte mir nie geantwortet und ich hatte es nicht noch einmal gewagt zu fragen, meinen Vater hätte ich nie gefragt und so blieb mir nur Emily, die nur ihren Kopf schüttelte, sodass ihre blonden Haare hin und her flogen, das Licht einfingen und glänzend leuchteten.

Sie wusste es nicht, niemand wusste es und ich bekam niemals eine mir ausreichende Antwort.

Nur widerwillig trat ich näher an das Bett und den so verloren wirkenden, dürren Körper. „Ethan", hauchte sie und meine Nackenhaare stellten sich auf. Mit leicht geöffneten Lippen sah ich sie an, wusste nicht was ich denken sollte. Sollte ich angewidert sein, entsetzt, traurig, panisch oder schlicht interessiert.

Ihre Hand zitterte, als sie diese hob, meine kleinen Finger mit ihren knochigen, dürren umschloss und mir dabei ein müdes Lächeln schenkte, Grübchen bildeten sich dabei, ihre Augen blitzten kurz auf und als sie ihre kalte zurück zog, befand sich in der meinen ein winziges Stückchen Schokolade.

Sie war nicht weg, noch nicht. Irgendwo dort, zwischen den Laken, befand sich Rose.

Seit diesem Tag, trage ich ein jedes Mal, wenn ich ein Krankenhaus betrete, ein Stückchen Schokolade mit mir. Halte diese in Papier gewickelte Süßigkeit in der nun so viel größeren, dunklen Hand, die überzogen von rauer Haut ist. Es ist seltsam beruhigend, beruhigte mich auch damals enorm und ich vermochte es nicht, meinen Blick von Rose zu nehmen, die Hand um diese Kostbarkeit geschlossen.

Die ganze, lange Stunde, die wir bei ihr waren, sagte ich nichts, mein Herz hämmerte, mir kalt und warm, Angst durchströmte mich und meine Faust pulsierte bereits, so verkrampft war sie und doch brach ich nicht in Panik aus. Dieses bereits geschmolzene Schokoladenstückchen gab mir Trost, auch wenn ich bis heute nicht weiß warum.

Ein jedes Mal denke ich an Rose Lächeln, ihre kalten Finger, wie mich der Schock durchfuhr und es doch ein Anker war, mein persönlicher Halt, in dieser Leere.

Fest hatten sich meine Augen auf das weiße Laken geheftet, die weiße, von dünner Haut überspannte Hand, deren Knöchel deutlich heraus traten, die seltsam alt wirkte, von beinahe grauen Härchen überzogen war und unter der blaue Adern deutlich zu erkennen waren.

Diese zittrige, schmale Hand war das letzte, was ich von Rose in Erinnerung hatte. Es heißt immer, man solle sich an die schönen Dinge erinnern, die Person so im Kopf behalten, wie sie war und Rose war nicht dieses Rippengestell gewesen, diese Leiche.

Emily bemerkte es, wir waren noch so klein und doch, kaum hatten wir Rose, das Krankenhaus und ein Leben uns gelassen, suchte sie mich instinktiv. Wie immer oder zumindest meist, hatte ich mich zwischen den hohen Halmen nieder gelassen, zwischen den Bergen hindurch, gen Horizont starrend und den endlosen Himmel betrachtend.

Ich hörte sie näher kommen, aber reagierte nicht, ging auch nicht. Emilys Schritte erkannte ich unter hunderten, auch wenn ich niemals so vielen Menschen auf einmal begegnet war.

Ohne etwas zu sagen setzte sie sich neben mich, drückte dabei weitere, hohe Halme platt und achtete nicht auf ihr weißes Kleid, welches ihr etwas zu groß war. Ihre Mutter hatte ihr nur zu große Kleidung gekauft, da sie momentan so schnell wuchs. Emily war nun etwas größer als ich, ihre Milchzähne verabschiedeten sich und die neuen kamen, bei mir wollte sich noch nicht so wirklich etwas tun.

Ich fand es unfair, sagte aber nichts.

Sie sah ebenfalls kurz nach vorne zum Himmel, wandte dann ihren Kopf zu mir, mich betrachtend und doch regte ich mich nicht, spürte wie der warme, trockene Wind durch meine dunklen Haare fuhr und sah im Augenwinkel, wie ihre blonden Locken tanzten und sich das Licht darin fing und sie zum glänzen brachte.

Wie gesponnenes Gold.

Die Berührung ihrer Finger auf meinem Handrücken war beinahe nicht zu spüren und doch wusste sie, dass ich mehr nicht ertragen hätte. Es wäre zu viel gewesen.

Das Streicheln, dieser stumme Trost und die Anteilnahme halfen, wenn auch nur ein bisschen, aber das Bild, welches sich für immer in meinen Kopf einbrannte konnte sie nicht verscheuchen.

Ich sah Rose nicht als starke, schöne Frau, sondern fahl und totengleich und so würde ich sie für immer in Erinnerung behalten.


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