Tag 3 - Neevend

„Warum zum Teufel dachtest du ich wäre ein Mensch?"

„Gwen?" Einen Fuß vor den anderen setzend ging Cilia langsam nach draußen. Eine Vielzahl an Geräuschen empfing sie, von Vogelgezwitscher bis hin zu dem Wind der durch die Bäume fuhr.

Es verlieh ihr einen Sinn von Stabilität und Sicherheit, sodass sie ihre Orientierung behalten konnte. Versagten die Augen so musste man sich auf die anderen Sinne verlassen und die Geräusche hatten ihr schon immer sehr zugesprochen. Der Sumpf brachte den Geruch von nassem Gras mit sich.

So sehr sie auch lauschte, die Natur war das einzige was sie zu hören bekam. Keine Fußtritte auf der kleinen Holzbrücke die über den Fluss führte, kein glockenhelles Lachen oder auch nur ein einziges Schimpfwort, dass wütend ausgerufen wurde, als etwas mal nicht so funktionierte wie geplant.

Sie war alleine, in dem Punkt war sie sich sicher, nur wusste sie nicht warum. Seufzend ging sie auf dem etwas morschen Holzsteg, was sich durch ein Knarzen bemerkbar machte in die Hocke und reichte so weit hinunter, bis ihre Fingerspitzen die Wasseroberfläche berührten. Es war kühl, der Frühling hatte gerade erst begonnen und sie versuchte sich daran zu erinnern, wie Wellen aussahen, aber das Bild war verblasst, egal wie sehr sie noch daran fest gehalten hatte.

Sie schloss die ohnehin nutzlosen Augen und konzentrierte sich weiter, reichte mit ihrem Gehör weiter hinaus, während das Wasser um ihre Finger spielte. Ein Hirsch stelzte durch das Treibholz, dass sich an der flachen Stelle des Flusses angesammelt hatte. Nur Tiere und Natur, nichts, dass auf Gwen hätte hinweisen können.

„Gwen?", rief sie erneut und scheuchte dabei ein paar Vögel auf, während sie sich wieder aufrichtete. Als wie erwartet keine Antwort kam, drehte sie sich um und ging in die kleine Hütte zurück. Vielleicht war sie schon frühmorgens ins Dorf gegangen.

Lia musste nicht zu jedem Zeitpunkt genau wissen wo Gwen sich befand, auch wenn sie es manchmal gerne täte. In letzter Zeit war sie erstaunlich oft verschwunden und ließ sie mit der Stille zurück.

Obwohl diese noch nicht ganz so weit vorgedrungen war. Sie spürte nur ab und zu einen Hauch, einen Moment in dem die Zeit still zu stehen schien und alle Geräusche verstummten. Aber es war mehr wie ein Ausläufer des Großen Ganzen, eine Warnung was bevor stand. In diesen seltenen Momenten fühlte sie sich ohne einen weiteren Sinn machtlos. Alle was ihr dann noch weiter half war ihr Tastsinn.

Eine alte Frau aus dem Nachbardorf brachte ihnen ab und zu frische Kräuter und Obst.
„Man kann es nicht sehen und man braucht es nicht sehen. Es jagt einem so schon die Angst vor Gott ein. Wenn man alleine lebt so wie ich, nun denn ich schwöre Gott steh mir bei", hatte sie eines Tages berichtet, dabei ungläubig den Kopf schüttelnd. Sie war eine gute Frau, fest an ihren Traditionen festhaltend, die ihr scheinbar einen Sinn verliehen. Und sie war alt.

„Zwei so junge Damen wie ihr, manchmal frage ich mich was ihr hier draußen tut. Schaut euch doch einmal an, ihr könntet die Zeit eures Lebens haben. Die Burschen im Nachbardorf täten sicher Gefallen an euch finden", wechselte sie wie so oft dass Thema, während Gwen ein Schmunzeln auf dem Gesicht hatte. Lia musste es nicht sehen um zu wissen dass es dort war.

„Ich bin dann einmal auf, achtet auf die Kräuter. Der Boden hat sich dazu entschlossen etwas länger am Winter fest zu halten." Und dann war sie auf und davon, während Lia und Gwen im Türrahmen standen und ihr hinterher winkten, was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

Die meisten Leute im Dorf hatten ein gutes Herz, wenn auch viele von ihnen der Ignoranz nicht entkamen. Aber das war wohl ein Nebeneffekt der Abgeschiedenheit hat, dachte sie sich stets und war etwas mehr bereit dazu ihnen zu vergeben.

„Treibt ihr den Teufel aus!", hatte ein kleiner Junge Inntal geschrien als sie durch die holprigen Straßen des Dorfes ging, Kinn nach vorne gestreckt, Schultern gerade, einen festen Gang erzielend um sich möglichst nicht zu verraten. Gwens warme Hand in ihrer hatte ihr die Richtungen gewiesen aber in einem so kleinen Dorf wie diesem war es schwer Geheimnisse zu wahren.

Sie hatte auf das Kommentar hin nur mit den Zähnen geknirscht und Gwen hatte gelacht als sie ihre Hand fast zerquetscht hatte. Aber Lia konnte ihren Todesblick den sie dem Jungen zuwarf förmlich spüren.

Als sie daran zurückdachte grinste sie leicht in sich hinein während sie mit geschickten Handgriffen heißes Wasser auf die Feuerstelle setzte. Dieses knisterte angenehm und ließ sie die Kühle des Frühlings vergessen. Vielleicht marschierte Gwen gerade durch eben jene Straße, einen Korb mit allerlei Kleinigkeiten in der einen Hand und unter dem anderen Arm ein Bierfass geklemmt, weil der Brauer sie um Hilfe gebeten hatte und sie eine so schwere Last aussehen ließ wie eine Kleinigkeit.

Vielleicht tat sie aber all das auch nicht und das bereitete ihr Sorgen. Gwen konnte mit allem fertig werden, daran hatte sie keinen Zweifel, aber Lia hatte Angst ihre Stimme nie wieder zu hören. Was wenn die Stille sie umschlang und das einzige, was sie jemals wieder von ihr erfahren würde wäre durch ihre verschränkten Finger.

Lia strich sich die Gedanken aus dem Kopf und lauschte den Vögeln.
Doch da war nichts. Kein Zwitschern, kein Rascheln. Nur die alles umfassende Stille, die geradezu drückend schien und es schwer machte zu atmen. Sie war erstaunt dass sie die Möbelstücke nicht vor der Last knarzen hörte oder die Fensterscheibe durch den Druck zerbarsten, doch das hätte sie wieder gebrochen.

Alles umfassende Stille, die nicht nur das Knistern des Feuers sondern auch ihre eigenen Atemzüge verstummen ließ. Sie hatte Gwens Namen auf den Lippen doch die Stille verschluckte ihn, als ob er es nicht wert war gesagt zu werden. Die Abwesenheit des Lärms verfestigte sich als eine Art Gefühl, sie konnte die Stille spüren. Gwen. Gwen, wo war Gwen.

Die Stille erdrückte sie und zwang sie tiefer in den Stuhl hinein, der nicht einmal sein altbekanntes Knarzen von sich gab. Gwen! Eine Träne lieg ihr die Wange hinunter. Das einzige was sie in der Realität behielt war das Holz unter ihren Händen und der leichte lautlose Luftzug der durch den Raum ging.

Die Kälte ihrer Haut würde berührt doch etwas warmes und schlagartig, wie eine Flutwelle die alles unter sich begrub kehrten die Geräusche zurück. Beinahe überwältigt zog sie scharf die Luft ein, während die Vögel fröhlich weiter sangen als wäre nichts geschehen.

Eine Hand lag auf ihrem Arm. Gwen. Lia setzte zum Sprechen an, doch Gwens zitternde Finger auf ihrem Arm ließen sie verstummen bevor sie zu sprechen begann. „Es tut mir leid, Lia", murmelte sie und Lias gesamter Körper entspannte sich als sie ihre Stimme hörte. „Es tut mir so unglaublich leid, ich habe alles versucht, aber sie dulden es nicht. Das Glück ist nicht mehr auf deiner Seite, ich bin nicht mehr auf deiner Seite."

Es lag Schmerz in ihrer Stimme und Lia bekam Angst. Absolut paralysierende Angst. Sie wusste nicht worum es ging, aber sie spürte wie Gwen sich fühlte und das war genug, denn Gwen hatte keine Angst. Gwen war die Furchtlosigkeit in Person, doch im Moment zitterten ihre Fingerspitzen und ihre Handflächen waren kälter als sonst, es war ein Stocken in ihren Worten und Gwen so aufgelöst zu spüren war eine ihrer größten Ängst verwirklicht.

Lia hörte Gwens leichtes Lächeln als sie weiter sprach. „Bitte, zu mir den Gefallen und nimm dich vor der Stille in Acht. Ihr Menschen könnt empfindlich sein. Und vielleicht bin ich über all die Jahre hinweg so menschlich geworden, dass auch mir sie etwas anhaben könnte." „Aber du-" Ein Finger vor ihren Lippen ließ sie verstummen.

„Warum zum Teufel dachtest du ich wäre ein Mensch? Lia, all die Jahre und ich hatte gehofft du hättest es endlich verstanden." Ihre Stimme war trotz ihrer Worte unglaublich sanft und sie fuhr ihr mit den Fingerspitzen über die Wangen. „Ich hätte dich nie treffen dürfen."

Die Hand zog sich zurück und Lia hörte ein Geräusch wie von Vogelflügel verursacht, nur in einem viel größerem Ausmaß und um einiges leichter und sanfter. „Gwen!"

Die Stille kehrte zurück. Genauso schlagartig wie sie gekommen und wieder gegangen war kam sie zurück und Lia rappelte sich luftschnappend auf, all ihr Vertrauen in ihre Erinnerungen setzend. Aus der geöffneten Tür hinaus, über die Brücke hinweg, durch den Wald. Ihre Tritte gaben keinen Laut von sich und ihr fehlten die Geräusche um sich besser zu orientieren, doch wenn sie fiel rappelte sie sich auf und lief weiter.

Sie wusste nicht ob sie es schaffte, wusste nicht ob die alte Frau einsam in ihrem Schaukelstuhl saß und sie kommen sah oder sie erst später finden würde.
Die Stille durfte sie nur nicht einholen.

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