Tag 19 - Neevend
Der Zug verlangsamte sich, die Abstände zwischen den Klackern der Räder, verursacht durch die Lücken in den Schienen wurden größer und größer, bis er schließlich mit einem Zischen zum Stehen kam. Die Tür zu dem kleinen Abteil würde einige Zeit später aufgeschoben.
„Machen sie sich keine Sorgen, Miss, wir werden in Kürze weiter fahren." Der Chauffeur schenkte ihr ein höfliches Lächeln, rückte seine Mütze zurecht und nickte ihr zu. Sie lächelte leicht, ein gespieltes Lächeln um ihre Sorgen zu verdecken, drehte sich wieder dem Fenster zu und fuhr mit ihren behandschuhten Fingern die Rillen in der Holzverkleidung nach. Der Chauffeur schloss die schmale Tür wieder und machte sich auf den Weg, um auch den anderen Fahrgästen zu versichern, dass alles in Ordnung war.
Sie hatte im Moment mit einem inneren Dilemma zu kämpfen und keine Zeit um sich Sorgen um Zug und Passagiere zu machen.
Das geradezu winzige Abteil war trotz der geringen Größe luxuriös eingerichtet und leer bis auf sie. Roter Seidenbezug, edle Holzverkleidung und über ihrem Kopf ein Fach für ihr Gepäck. Es war nicht viel, sie brauchte nicht mehr als eine simple Handtasche und diese lag auf ihrem Schoß. Sie konnte sich keine Fehler leisten und schon gar nicht eine gestohlene Tasche.
Sie würde gerne während der Wartezeit nach draußen blicken um sich etwas abzulenken von der Anspannung, die sich in ihr aufbaute, aber da war nur die mit Rillen und Vorsprüngen durchwobene Steinwand, auf denen sich der frische Schnee ansammelte. Soweit sie das beurteilen konnte, begann es bereits wieder zu dämmern.
Der Chauffeur öffnete erneut die Tür, entschuldigte sich höflich und erleuchtete die Lampe über der Tür bevor sie in der Dunkelheit sitzen musste. „Vielen Dank", meinte sie und ihre Stimme fühlte sich etwas rau und kratzig an, weswegen sie sich räusperte und ihm zunickte. Er verabschiedete sich mit einer Tippen auf die Chaffeursmütze und sie hoffte nur, dass es das letzte Mal war, dass er ihre Gedanken unterbrechen würde. Sie musste sich konzentrieren.
Soweit sie das beurteilen konnte, waren sie noch eine ganze Weile von ihrem Ziel entfernt und der letzte Stopp war nicht allzu lang her. Es waren ein paar Kilometer, dass war klar, aber man könnte es schaffen. Sie seufzte schließlich auf, erhob sich und richtete ihre bauschendem Röcke, entwirrte die Spitzen und Strick die Falten aus dem weinroten Seidenstoff. Es war schade darum, eines ihrer schönsten, praktischsten und liebsten Kleider, aber sie würde es nicht mitnehmen können.
Sie löste die feinen Schnüre an beiden Seiten und ließ den Rock zu Boden sinken, sodass sie nur noch ihr Korsett trug, tauschte ihn gegen eine Hose und zog sich den Mantel mit Kragen über, der schön gefaltet neben ihr gelegen hatte. Sie konnte das nicht mehr geschehen lassen, solange sie nur ein paar Abteile weit weg saß. Es ging um Leben und Tod und sie konnte sie nicht einfach in den sicheren Tod fahren lassen. Sie hatte vielleicht einmal mit ihnen unter einer Decke gesteckt aber das lag nun in der Vergangenheit.
Sie würde jetzt ihre eigenen Entscheidungen fällen, mochten sie doch denken was sie wollten. Sie rückte ihren Hut auf ihren braunen Locken zurecht und griff nach der Handtasche um den Revolver heraus zu ziehen. Die Zeit tickte, der Zug würde vielleicht noch etwa eine Viertelstunde stehen, solange brauchten sie meist um technische Probleme zu lösen. Jedenfalls hoffte sie, dass das Problem technisch veranlagt war.
Die Hand mit der Waffe im Mantel versteckt schob sie die Tür auf und betrat den engen Gang. Abteil 42 lag am Ende des Wagons, nur ein paar Türen weiter. Sie trat wieder zurück und tauschte den Revolver gegen etwas unauffälligeres aus. Schüsse würden zu viel Aufmerksamkeit und Panik erregen.
Sie zog die Tür hinter sich zu und ging mit bedachten Schritten den Gang hinunter. Wie es sich für eine stolze Lady gehört, konnte sie förmlich ihre Tante sagen hören. Gehobenes Kinn, gerade Statur. Sie blieb vor der Tür mit der 42 stehen und atmete einmal tief ein, bevor sie ihre behandschuhte Hand hob und klopfte. Kurze Zeit später wurde die Tür aufgeschoben.
Sie kannte den Mann der sie misstrauisch beäugte, mit den ungepflegten Zähnen und hervorstehenden Augen. „Miss Carter. Wir hatten nicht mit ihnen gerechnet", meinte er mit einem ekelhaften Grinsen und sie musste sich zurückhalten. Sie wusste noch nicht wie viele es insgesamt waren. Er bedeutete ihr einzutreten. Sie waren zu dritt.
„Jane?" Coralie schien überrascht und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Sie trug ein dunkles blaues Kleid, das sie gleichzeitig bescheiden und vornehm wirken ließ und ihre wilden blonden Locken waren mit bunten Bändern durchzogen. Sie war wohl auf dem Straßenfest gewesen, als ihr die Nachricht überbracht worden war. Sie hatte sich ein schwarzes Tuch über die Schultern geworfen.
„Hatte ich Ihnen nicht geraten zuhause zu bleiben? Was tun sie hier?" Ihre Stimme war sanft und obwohl sie leise sprach verstand Jane jedes Wort mit absoluter Klarheit. „Es ist eine lange Geschichte, My Lady", erklärte sie und wandte sich den drei Männern zu.
„Nun, ich bin hier um meine Kündigung mitzuteilen." Die Lächeln auf ihren Gesichtern verschwanden schlagartig und Jane wusste, nun gab es kein Zurück. „Kündigung. Jane, meinst du damit, du arbeitest für sie?", fragte Carolie verwirrt und griff mit ihren Fingerspitzen nach Janes Hand aus und diese griff nach ihrer Hand.
Sie nahm sie in ihre eigene und beugte sich zu ihr herunter. „Coralie, bitte frag nicht nach, aber könntest du kurz auf den Gang gehen", flüsterte sie sanft und Coralie runzelte kurz die Stirn, bevor sie nickte. „Für dich alles, Jane." Sie erhob sich und nickte den drei Herren zu. „Ich werde sie einmal allein lassen, sodass sie ihre Geschäfte betätigen können. Ich bin im Abteil nebenan." Die drei protestierten nicht. Coralie hauchte ihr im Vorübergehen noch einen Kuss auf die Wange und schloss die Tür hinter sich.
„Nun meine Herren", begann Jane, als sie das Einrasten des Schlosses hörte und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Das Metall des Dolches war kalt in ihren Handflächen. „Ich würde gerne mit euch Geschäfte machen, aber ich befürchte, dass es zu viele Risiken mit sich bringt. Für mich. Also habe ich mich für den Ausweg entschlossen, bei dem die Risiken größtenteils auf eurer Seite liegen."
Sie zog den Dolch blitzschnell hinter ihrem Rücken hervor und ließ ihn in einem Kreisbogen über die Halsschlagader des am nächsten stehenden fliegen. Er fiel hustend zu Boden und die anderen brauchten ein paar starre Sekunden, bevor sie sich auf sie stürzten. Ein verbitterter Kampf brach aus und sie bemerkte schnell, dass die beiden mehr Erfahrung hatten als angenommen. Sie hatte sie unterschätzt und das war ein großer Fehler gewesen. Jetzt hieß es fliehen.
Sie brach mit einem Knallen durch die Tür und hechtete zum nächsten Abteil. Coralie war verwirrt, aber machte keine Anstalten sich zu wehren, als sie sie mit sich zog. „Jane, was geht hier vor sich?" „Ich erkläre es dir, Cora, aber bitte, Renn", meinte Jane und zog sie weiter am Handgelenk, während Coralie versuchte nicht über ihre Röcke zu stolpern.
Ihr Weg führte sie von Wagon, in den Passagen dazwischen umfing sie die Kälte, bis Jane schließlich auf eine Idee kam und sie aufs Dach zog. Die beiden Männer waren ihnen dicht auf den Fersen und das gab ihnen wohl fünf Minuten, bis sie gefunden wurden. Genug Zeit um zu erklären.
„Bitte, Jane, was geht hier vor sich?" Coralie hatte Angst und sie zitterte. Janes Gesichtsausdruck wurde sanfter und sie seufzte.
„Sie arbeiten für deinen kleinen Bruder", begann sie leise und knöpfte ihren Mantel auf.
„Dein Vater ist tot, das habe ich gehört, aber bitte, du darfst nicht mit ihnen gehen. Sie werden dich dafür verantwortlich machen." Jane legte Coralie ihren Mantel um.
„Für was?"
„Seinen Mord."
„Was mein Vater wurde ermordet?!" Jane seufzte und nahm sie in den Arm.
„Sie haben alles durchgeplant, Cora, dein Bruder hat alles durchgeplant. Egal was du versuchst, du wirst als schuldig angesehen werden. Es geht ihm um das Erbe, Liebling." Coralie löste sich von ihr, Wut in den weit geöffneten Augen.
„Warum? Warum verrät er seine eigene Schwester, nur des Geldes Willen?" Tränen standen ihr in den Augen und Jane wischte sie mit ihrem Daumen weg, doch Coralie packte ihre Hand. „Und warum weißt du davon?" Misstrauen lag in ihrer Stimme und etwas in Jane zog sich zusammen.
Jetzt war der Moment, den sie schon so lange gefürchtet hatte, aber es hatte keinen Sinn die Wahrheit zu verbergen. „Auch ich habe für ihn gearbeitet", meinte sie und die Wut in Coralie Gesicht würde größer.
„Ich wurde dazu beauftragt dich im Auge zu behalten. Mich mit dir anzufreunden, sodass sie viele wichtige Dinge für ihre Mission wussten. Wenn alles schief ging sollte ich dich-" Sie brach ab und Coralies Hand drückte immer fester auf ihr Handgelenk. Der Ärger war verschwunden, dafür spiegelte sich nun nichts als Verrat auf ihren Gesichtszügen wieder. „Wie konntest du nur?" „Bitte, vergib mir, das alles liegt in der Vergangenheit! Ich bin hier um dein Leben zu retten, Cora. Erinnerst du dich, als wir unter dem Baum saßen, im Regen. Alles was ich damals gesagt habe, das meinte ich. Bitte, glaub mir!"
Coralies Ausdruck wurde sanft und sie löste ihren Griff. „Wir werden später weiter reden, Jane. Aber jetzt rette mein Leben", meinte sie mit einem leicht traurigen Lächeln, gerade als ein Schrei durch die Nacht tönte. Sie waren entdeckt worden. Jane griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich über das Dach des Zuges.
Der Wind wehte durch ihre Kleider, verwirrte ihre Haare und stahl Janes Hut, aber sie rannten weiter durch die Kälte. Der Zug setzte sich langsam wieder in Bewegung und Coralie schrie entsetzt auf. Aber Jane hatte einen Plan.
„Hier herunter!", meinte sie und sprang auf die letzte Plattform am Ende des letzten Wagons, bevor sie ihre Arme ausstreckte um Cora aufzufangen. Der Zug war bereits ziemlich schnell.
„Du musst springen."
„Was?! Jetzt hast du endgültig den Verstand verloren."
„Tu es einfach!"
Jane packte ihre Hand und sie sprangen, nur um im kalten Schnee zu landen. Der Zug verschwand langsam in der Ferne und mit ihm die Verfolger. Nun hieß es laufen, aber das war nicht schlimm, denn Coralie war am Leben.
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