#27 Karaoke singen
Dienstag, 31. Oktober – 20:37 Uhr
Der Karaokeabend war voll im Gange und Jay sollte Recht damit behalten, als er meinte, dass nicht alle, die sich überwanden heute hier zu performen, die besten Sängerinnen und Sänger waren. Aber genau das fand ich so toll am Karaoke. Es ging allein um den Spaß am Singen und nicht darum, wie gut jemand singen oder performen konnte. Trotzdem waren auch sehr gute Stimmen darunter, was mich dann doch wieder etwas einschüchterte.
Gerade war ein Mädchen, verkleidet als eine optisch ansprechendere Version des Teufels, an der Reihe und gab das Lied "Beautiful" von Christina Aguilera zur Bersten. Sie gehörte zu den wenigen Ausnahmen, die positiv aus der Menge hervorstachen. Hin und wieder übertrieb sie es etwas mit den Riffs, aber ansonsten klang es echt gut.
"Die singt gut!", ich beugte mich zu Jay, damit er mich besser verstand. Meine Hände waren etwas schwitzig, weshalb ich mir über die Oberschenkel rieb. Unauffällig sah ich mich um, um die Menge an Zuschauern abzuschätzen. Uns inbegriffen schätzte ich etwa 50 bis 70 Leute, die an ihren Tischen hockten, mehr oder weniger den Hobbysängern lauschten und sich ansonsten gut unterhielten.
"Bist du nervös?", Jays Blick fiel auf meine Hände, die immer noch über meine Anzughose auf- und abstrichen.
"Schon ein bisschen", gestand ich.
"Mach dir keinen Stress! Wir sind nur zum Spaß hier. Niemand hört so genau hin, jeder ist auf sich konzentriert, siehst du?" Jay deutete in die Menge. Obwohl ich wusste, dass er Recht hatte, stieg meine Aufregung mit jeder Sekunde.
"Wir sind die nächsten, oder?"
Jay lächelte und nickte. "Ja, aber das wird schon, du wirst sehen!"
Ich versuchte mich ebenfalls an einem Lächeln, aber es gelang mir nicht so recht. Also atmete ich tief ein, hielt die Luft für sieben Sekunden an und atmete dann langsam wieder aus.
Hannah stand neben mir auf. "Ich muss schnell auf die Toilette. Bin gleich wieder da!"
"Was?", rief ich aus. "Du kannst jetzt nicht gehen, Jay und ich sind als nächstes dran!"
Meine Freundin lächelte mich entschuldigend an. "Sorry, ich kanns echt nicht mehr halten. Ich beeil mich. Bis ihr dran seid, bin ich wieder zurück!"
Ich nickte ihr zu und hoffte, dass sie es rechtzeitig schaffte. Hannah war mein sicherer Anker. Ich hatte mir vorgenommen, dass ich, sobald ich nach vorne trat, meinen Blick auf sie konzentrierte und den Rest einfach ausblendete. Aber wenn sie bis dahin nicht zurück war...
Jay legte seine Hand auf meinen Oberschenkel, der unbemerkt zu wackeln begonnen hatte. Es zeigte augenblicklich Wirkung, denn mein Bein kam wieder zum Stillstand. Die Stelle, an der seine Hand auf meinem Oberschenkel ruhte, wurde plötzlich ganz warm. Die Gedanken in meinem Kopf hörten auf zu kreisen und mein Atem wurde ruhiger. Mein Blick lag auf Jays Hand, die nun nach meiner griff. Mein Herz machte einen kleinen Sprung, als er seine Hand auf meine legte und sie sanft drückte.
"Besser?", flüsterte er mir ins Ohr.
Ich nickte, wagte es aber nicht, ihn dabei anzusehen. Ich wollte meine Nervosität in den Griff kriegen und nicht weiter aufheizen, weshalb es wohl das Beste war, wenn ich mich nicht wieder im dunklen Braun seiner Augen verlor.
Lautes Klatschen riss mich aus meinen Gedanken. Es verriet mir, dass der Auftritt von dem hübschen Teufel vorbei war, was bedeutete, dass nun Jay und ich an der Reihe waren. Mein Herz begann mir bis zum Hals zu schlagen und mein Mund wurde trocken. Ich griff nach meinem Piña Colada, den ich nach dem Punsch bestellt hatte, und nahm ein paar große Schlucke. Ich hoffte, dass dieser seine Wirkung zeigen und mir die Angst etwas nehmen würde. Der Moderator kündigte uns an und ich stellte den Cocktail wieder vor mir ab.
"Aber Hannah..."
"Die kommt bestimmt gleich!"
Jay stand auf, ließ dabei aber meine Hand nicht los, sondern zog mich vom Stuhl hoch und führte mich durch die Tische nach vorne. Erst als wir vorne ankamen, löste sich unser Griff. Das Team des Five Stars gab uns jeweils ein Mikrofon in die Hand und erklärte uns kurz, dass wir vorne am kleinen Monitor die Lyrics eingeblendet bekamen und hinter uns der Text in groß für die Zuschauer an die Leinwand projiziert wurde.
Auf dem Weg zum Bildschirm flüsterte ich Jay zu: "Welches Lied singen wir eigentlich?"
"Das Titellied zu deiner 30-Punkte Liste", grinste Jay.
Fragend runzelte ich die Stirn, doch nun kam der Moderator zu uns und beantwortete meine Frage, indem er uns anmoderierte: "Jetzt hören wir das Lied "It's my life" von Bon Jovi in der Version von Jay und Tim. Schenkt ihnen einen großen Applaus zur Einstimmung und euch beiden wünsche ich viel Spaß!" Die Zuschauer gehorchten und klatschten uns motivierend zu.
"Du kennst das Lied, oder?", fragte Jay grinsend.
"Ja! Ich kanns sogar auswendig!", grinste ich zurück, zufrieden mit Jays Wahl. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Challenge meistern konnte, bis mein Blick auf die Menschenmasse fiel, die vor uns saß und uns erwartungsvoll anschaute. Mein Blick wanderte suchend durch die Menge. Wo war Hannah? Die ersten Akkorde der E-Gitarre klangen durch die Boxen, aber meine Freundin war nicht in Sicht. Stattdessen öffnete sich die Eingangstür des Pubs und ein bekanntes Gesicht betrat den Raum.
WAS MACHTE ANTON HIER?, schoss es mir durch den Kopf, als sich unsere Blicke trafen. Mein Kopf war wie leergefegt und ich hatte alle Mühe, das Mikrofon nicht fallen zu lassen. Mit beiden Händen umklammerte ich das Mikrofon, so fest, dass meine Knöchel weiß wurden. Anton blieb neben der Tür stehen und hielt seinen Blick auf mich gerichtet. Ob er mich in der Verkleidung überhaupt erkannte? Er selbst hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu verkleiden. Wer erschien denn auf einer Halloweenparty ohne Kostüm?
Ich ärgerte mich über ihn und verpasste prompt den Einsatz. Jay ließ sich dadurch glücklicherweise nicht beirren und sang drauf los. Er bemerkte jedoch meinen Blick und sah mich besorgt von der Seite an, während er die Strophe so gut es ging sang.
Für einen Augenblick war ich versucht, von der Bühne zu stürmen und mich im Bad zu verkriechen, doch als ich meine Augen von Anton löste und stattdessen Jay anschaute, wusste ich, dass das keine Option war. Unsere Blicke trafen sich - beide ebenso hilfesuchend. Auch wenn er sich zu Beginn des Abends, als er den Anmeldebogen ausfüllte, recht cool gegeben hatte, konnte man, wenn man genau hinsah, erkennen, dass es ihm nicht besonders wohl war, vor allen Leuten zu singen. Und trotzdem stand er jetzt mir zu Liebe hier auf der Bühne und gab sein Bestes, um mich zu unterstützen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich auf der Bühne bleiben und singen werde. Ich wusste, dass ich es mit Jay an meiner Seite schaffen konnte. Meinen Blick auf Jay gerichtet stieg ich in den Refrain des Liedes ein und sang gemeinsam mit ihm die Worte, die tatsächlich gut zu meiner aktuellen persönlichen Reise passten:
It's my life, it's now or never
I ain't gonna live forever
I just wanna live while I'm alive.
My heart is like an open highway,
like Frankie said I did it my way,
I just wanna live while I'm alive.
It's my life.
Besser als gedacht gelang es mir, Anton auszublenden und mich auf das Lied zu konzentrieren. Wir ernteten recht passablen Applaus und ich war zufrieden und erleichtert, es tatsächlich geschafft zu haben. Ich hatte mich tatsächlich überwunden, mich auf eine Bühne zu stellen und vor der Menge zu singen.
Mein Herzschlag fand langsam zu seinem gewohnten Rhythmus zurück - naja, zu seinem gewohnten Rhythmus, wenn Jay bei mir war. Als wir uns auf den Weg zu unserem Platz zurück machten, griff er nach meiner Hand und drückte sie euphorisch. Auch er schien das Adrenalin in den Adern zu spüren.
"Wieso hast du nicht gesagt, dass du so gut singen kannst?"
Ich lachte. "Du übertreibst! Ich habe es gerade so überlebt!"
"Quatsch, das war super und das obwohl..."
Meine Stimmung kippte, als ich Anton an unserem Tisch entdeckte. Wie angewurzelt blieb ich an unserem Tisch stehen und auch Jay, der hinter mir lief, unterbrach den Satz, als er unseren ungeladenen Gast entdeckte. Er machte noch einen Schritt nach vorne und kam neben mir zum Stehen.
Im selben Moment kam auch Hannah von ihrem Toilettenbesuch zurück.
"Sorry, da war eine meeeega Schlange vor der Damentoilette. Irgendwie ist immer eine Schlange vor der Damentoilette, ich versteh das nicht! Es sind mindestens genauso viele Jungs hier, wie Mädels, aber...", sie war so in ihrem Monolog vertieft, dass sie erst als sie direkt neben uns stand, Anton neben ihrem Freund entdeckte.
Für einen Moment wurde es still am Tisch. Wir starrten uns gegenseitig an, wie bei einem Standoff, wo derjenige, der sich zuerst bewegte, verlor. Dies schien Leo jedoch nicht mitzubekommen, denn er war es, der sich zuerst bewegte.
Freudig sprudelte er darauf los: "Darf ich euch Anton vorstellen? Anton, das ist meine Freundin Hannah und ihr bester Freund Tim. Jay kennst du ja schon, oder?"
"Anton ist der Kumpel von dir, der nachkommen wollte?" Hannah schaute ihren Freund fragend an. "Sorry, aber das geht nicht!"
Inzwischen war etwas ganz anderes bei mir hängen geblieben und hallte in meinem Kopf wie ein Glockenschlag nach. "Ihr... kennt... euch?" Mein Blick wanderte von Jay zu Anton und wieder zurück zu Jay. Beide zuckten bei der Frage leicht zusammen, aber keiner der Beiden machte Anstalten, auf meine Frage zu antworten. Wieder war es Leo, der reagierte.
"Okay, was habe ich verpasst? Ihr", er machte eine umfassende Handbewegung, "kennt euch bereits?" Sichtlich verwirrt, runzelte er die Stirn. Doch noch bevor die Situation aufgelöst wurde, wurden Hannah und Leo auf die Bühne gerufen. Auch wenn ich den Auftritt meiner Freundin auf keinen Fall verpassen wollte, merkte ich, wie die Luft in dem Raum zunehmend dünner wurde. Mir wurde die Situation zu viel.
"Sorry, aber ich muss kurz an die frische Luft." Hannah nickte verständnisvoll und ich umarmte sie dankbar. "Toi, toi, toi - ihr packt das!"
Ich ließ die vier zurück und schlängelte mich durch die Menschenmenge. Auf dem Weg nach draußen wurde ich von jemandem am Handgelenk zurückgehalten.
"Tim, warte!" Jay stand hinter mir. Dicht dahinter kam auch Anton uns hinterher.
"Was willst du hier?" Mein Blick ging an Jay vorbei und traf auf meinen Ex-Freund. Dieser empfand meine Frage offensichtlich als Einladung und kam uns noch die letzten Schritte entgegen, um zu uns aufzuschließen.
"Ich wusste nicht, dass Leo Hannahs Freund ist, ich schwöre. Ansonsten wäre ich nicht gekommen." Er verzog den Mund zu einem entschuldigenden Lächeln. Es wirkte aufrichtig, auch wenn mir das in diesem Moment egal war. "Aber ich wollte mit dir reden. Unser letztes Gespräch ist nicht ganz so gelaufen, wie ich mir das gewünscht hätte. Und ich würde mich gerne entschuldigen. Hast du vielleicht fünf Minuten?"
Ich schnaubte ungläubig: "Dein Ernst?"
"Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Ich denke es ist besser, wenn ich Tim nach draußen begleite. Du solltest hier bleiben, Anton!", wies Jay ihn zurecht.
Jays Reaktion auf Anton warf in mir erneut dieselbe Frage auf. Stimmte es, kannten sich die beiden? Einen Moment zögerte ich, aus Angst vor der Antwort, dann siegte aber doch die Neugier und ich wiederholte meine Frage.
"Nein! Vorher will ich eine Antwort auf meine Frage. Stimmt es, was Leo gesagt hat? Kennt ihr beiden euch?"
Jay sah mich an, wie vorher zuckte er auch diesmal leicht zusammen. Er hielt den Kopf etwas gesenkt und schien nach den richtigen Worten zu suchen, aber Anton kam ihm zuvor.
"Du hast es ihm nicht erzählt?", er lachte auf. "Das war ja klar!"
"Was hat er mir nicht erzählt?" Fragend sah ich zwischen den beiden hin und her.
"Na, dass Jay der Grund ist, warum ich mich von dir getrennt habe."
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