#26 Tattoo [Teil 2]
Ich hätte mich Ohrfeigen können. Auf dem Weg zurück zu Hannah und Leo konnte ich nicht anders, als den Kopf über mich selbst zu schütteln. Wie peinlich war das denn?
Nachdem ich unseren Tisch im Pub erreicht hatte, ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen. Hannah musterte mich von der Seite.
"Unser Essen kommt gleich!", beantwortete ich die noch ungestellte Frage und rutschte mit dem Stuhl näher an den Tisch, um ihrem Blick auszuweichen. Im nächsten Moment vibrierte Leos Smartphone und lenkte Hannahs Aufmerksamkeit von mir ab, worüber ich sehr dankbar war.
"Alles okay?" Nun war es Leo, den sie musterte.
"Äh, ja... sorry." Leo blickte vom Smartphone auf. "Ein Kumpel hat mir gerade geschrieben, dass er sich heute Nachmittag von seiner Freundin getrennt hat und hat gefragt, ob ich mit ihm ein Bier trinken gehe. Aber alles gut, heute Abend bin ich mit euch hier. Und das ist auch gut so!" Er nahm Hannahs Hand und lächelte sanft.
"Du kannst ihn auch fragen, ob er vorbeikommen will. Karaoke heitert ihn bestimmt auf. Und außerdem freue ich mich, auch jemanden von deinen Freunden kennenzulernen."
"Sicher?" Er sah von Hannah zu mir und wieder zu Hannah.
"Klar!"
"Von mir aus gerne!", stimmte auch ich zu. Einer mehr oder weniger machte mir nichts aus. Meine Challenge für heute Abend war so oder so eine Herausforderung für sich.
Als ob Hannah meine Gedanken lesen konnte, hörte ich sie fragen: "Wollen wir uns gleich für ein Lied eintragen?"
Ich verzog das Gesicht, was Hannah jedoch nicht davon abhielt, am Tisch neben der Leinwand den Anmeldebogen zu holen.
"Ich melde mich später an!"
"Das gilt nicht! Du bist genau deswegen heute hier und ich lasse es nicht zu, dass du jetzt einen Rückzieher machst", tadelnd erhob sie ihren Zeigefinger.
"Mir fällt aber kein Lied ein!", versuchte ich mich rauszureden.
Unsere Diskussion wurde glücklicherweise unterbrochen, als sich jemand in einem Vampirkostüm unserem Tisch näherte.
"Hat hier jemand Hunger?" Jay grinste uns mit falschen Vampirzähnen entgegen, als er unser Essen vor uns abstellte. Hannah stibitzte sich gleich ein Stück Pizza vom Teller.
"Jay? Wie hast du dich denn so schnell umgezogen?", wunderte ich mich.
"Jay?", fragte Leo überrascht.
"Leo?"
Die beiden umarmten sich kameradschaftlich. "Was machst du denn hier? Arbeitest du hier?"
"Ja, zusammen mit Hannah. Dann bist du dieser Leo!"
"Anscheinden!" Leo zuckte lachend mit den Schultern.
Hannah und ich sahen uns fragend an. "Ihr kennt euch?", brachte Hannah als erste hervor.
"Jay und ich waren in der Oberstufe in der gleichen Klasse und haben auch danach in der gleichen Freundesgruppe abgehangen. Wie lange ist das denn her, als wir das letzte Mal zusammen feiern waren? Ein Jahr bestimmt!"
"Was habt ihr da?", wechselte Jay das Thema und nahm meinen Anmeldebogen fürs Karaoke. Bevor er widersprach, nahm er die Vampirzähne heraus, sodass man ihn nun besser verstehen konnte. "Habt ihr euch schon für ein Lied entschieden?"
Ich schüttelte den Kopf. "Ich bin mir noch nicht sicher, ob das Ganze eine gute Idee ist. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, als ich den Punkt auf die Liste geschrieben habe."
"Dann machen wir das zusammen! Ich habe sowas auch noch nie gemacht, aber es könnte ganz lustig sein. Außerdem können die Hälfte der Leute, die heute Abend auftreten werden, wahrscheinlich noch nicht einmal singen."
"Und da gehöre ich dazu!" Ich schlug mir die Hände vors Gesicht.
"Er lügt!", rief Hannah dazwischen, ehe sie sich mit Leo liebevoll über einen passenden Song stritt.
Jay füllte den Anmeldebogen aus und schrieb meinen Namen dazu. "Ich habe das perfekte Lied. Keine Sorge, im schlimmsten Fall singe ich es auch alleine, solltest du dich bis zum Schluss dagegen entscheiden. Aber ich glaube, dass du das schaffen kannst. Ich glaube an dich."
Jays positive Worte ließen mein Herz höher schlagen und ehe ich mich versah, stimmte ich zu. Noch bevor ich es mir anders überlegen konnte, brachte Jay den Zettel nach vorn.
Als er wieder zurück an unserem Tisch war, beugte er sich zu mir.
"Ich habe eine Überraschung für dich. Kannst du kurz mitkommen?" Mein Herz, das immer noch vor Aufregung raste, schlug noch schneller, als er meine Hand nahm und mich hinter sich herzog.
"Wir sind gleich wieder da!", rief er den Turteltäubchen zur Verabschiedung zu.
Wir landeten auf der Mitarbeitertoilette. Verwirrt sah ich mich um. Bis auf einer Toilette und einem Waschbecken, über dem ein Spiegel hing, konnte ich nichts entdecken, was als Überraschung gezählt hätte. Es sei denn, er meinte mit Überraschung... Nein, das glaubte ich nicht!
"Ähm... was machen wir hier?", fragte ich unsicher.
Jay grinste und zog etwas aus der Innentasche des Jacketts.
"Ta-da!"
Er drehte sich in meine Richtung und hielt mir ein Aufklebetattoo unter die Nase.
"Hannah hat mir erzählt, dass du dich als Joker verkleiden wirst und als ich heute im Kostümladen war, um mir dieses semi-originelle Outfit auszuleihen, habe ich dieses Tattoo entdeckt. Ich habe bereits recherchiert, es ist dasselbe, das auch der Joker im Film hatte. Damit kannst du heute gleich einen weiteren Punkt von der Liste streichen."
Die Aufgabe mit dem Tattoo hatte mich die ganze Zeit schon gestresst. Als ich die Liste verfasst habe, kamen mir die ersten 20 Aufgaben ziemlich schnell in den Sinn, aber danach wurde es schwieriger. Ich habe lange gegrübelt, welche Dinge ich schon immer einmal machen wollte und ich hatte tatsächlich einmal den Gedanken, dass ich mir vielleicht ein Tattoo stechen lassen könnte. Aber eine ehrliche Absicht stand nie dahinter. Zudem habe ich mich in erster Linie Hannah zu Liebe auf diese Challenge eingelassen - auch hier war ich mir sicher, dass ich diese Liste niemals umsetzen werde - deswegen war es mir auch irgendwann egal, mit welchen Dinge ich die 30-tägige Challenge ergänzen sollte. Doch als ich beschloss, diese Aufgaben tatsächlich umzusetzen, hatte ich diese Aufgabe versucht zu verdrängen. Ein Tattoo war etwas Permanentes, etwas, das ich für immer unter der Haut tragen würde. Hier konnte ich nicht einfach unüberlegt oder gar gegen meinen Willen handeln.
Dass Jay hier ein Schlupfloch gefunden hatte, löste in mir Erleichterung und Verwunderung gleichermaßen aus. Dies zeigte doch, dass Jay sich ehrlich Gedanken über mich und meine Liste machte und nach Möglichkeiten suchte, wie ich die Aufgaben darauf auch tatsächlich meistern konnte.
"Das ist... sehr aufmerksam von dir. Danke!" Ich lächelte ihn dankbar an. "Wohin muss das? Du hast recherchiert, meintest du..."
"Ähm, ja... das... Darf ich?"
Ich nickte, aber erschrak dann doch ein wenig, als Jay begann, mein Jackett zu öffnen und die oberen Knöpfe meines Hemdes aufzuknöpfen. Mein Herz klopfte.
"Hier in etwa!" Er hielt es an meine rechte Brust. Ich drehte mich um und sah mich im Spiegel an. Ein finsteres Jokergesicht lächelte mir entgegen.
Jay stand dicht hinter mir, um das Tattoo am richtigen Platz zu halten und ich spürte seinen Atem sanft an meinem Nacken. Der Raum war ohnehin nicht groß, aber er bot kaum Platz für zwei Personen, was mir erst in diesem Moment richtig bewusst wurde.
"Und, was sagst du?"
"Ich denke das sieht recht... " Ich drehte mich auf der Stelle um und stand nun dicht vor ihm. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter entfernt, sodass ich ins Stocken kam. "...okay aus!"
Unsere Blicke trafen sich und für einen Moment sagte keiner von uns beiden etwas. Wir standen einfach da und starrten uns an. Ich roch sein Aftershave und mein Herzschlag beschleunigte sich erneut.
Jay räusperte sich und trat einen Schritt zurück. Einen kleinen, denn mehr war in diesem engen Raum nicht möglich.
"Gut, dann wollen wir es anbringen. Magst du vielleicht... ähm... dein Hemd... weiter öffnen... Damit es nicht... nass wird", stammelte Jay.
Es war beruhigend zu wissen, dass diese Nähe auch in Jay etwas auslöste. Aber ich war in diesem Moment zu nervös, um das gänzlich zu genießen, da ich an meinen Hemdknöpfen fummelte. Jay holte unter dem Waschbecken einen Schwamm hervor, setzte das Tattoo an die richtige Stelle und bat mich, es festzuhalten. Dann hielt er den Schwamm unter das fließende Wasser, drückte etwas Wasser heraus und drehte sich wieder zu mir. Während ich mit beiden Händen das Tattoo an Ort und Stelle hielt, griff Jay nach meinem Hemd und schob es etwas zur Seite, bevor er begann, das Papier zu befeuchten. Mit dem Schwamm tupfte er über meine Brust. Ich zuckte kurz zusammen, als das kalte Wasser meine Haut berührte.
"Sorry!" Jay sah auf.
Als sich unsere Blicke erneut trafen, wurde mein Körper von Hitze durchströmt. Mein Herz begann wild gegen meine Brust zu hämmern. Ob Jay spürte, wie mein Herz schlug? Falls ja, ließ er sich nichts anmerken.
Ein paar Tropfen des kalten Wassers rannen über meinen Bauch und mich überkam augenblicklich eine Gänsehaut. Jay legte den Schwamm beiseite und griff nach dem Handtuch, um die Tropfen aufzutrocknen, was mein Herz nur noch stärker pochen ließ.
Wieder räusperte sich Jay. "Ich glaube, es ist fertig! Du kannst das Papier abziehen!"
Ich drehte mich zum Spiegel und betrachtete begeistert das Resultat. Und auch Jay schien mit dem Ergebnis zufrieden.
"Du müsstest jetzt nur... äh, dein Hemd etwas offen lassen... Also, damit man das Tattoo auch sieht, meine ich." Verlegen lächelte er und ich sah im Spiegel, wie sich seine Wangen in ein helles rosa färbten. Und diesmal nahm ich mir bewusst einen Augenblick Zeit, um das auszukosten.
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